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Steve Hackett – Defector – Rezension
Quasi den Schwung der Spectral Mornings Tour mitnehmend, nahm Steve Hackett mit seiner Band sein viertes Soloalbum Defector auf, das 1980 erschien. Thomas Jesse ordnet es historisch und qualitativ ein.
Steve war nach seinem Ausstieg bei Genesis mit seiner Solo-Karriere im Musikbusiness angekommen. Er hatte zwei musikalisch sehr respektable Alben veröffentlicht, die er seit Ende 1978 mit Tourneen dem geneigten Publikum nahebrachte. War Please Don’t Touch noch von vielen Musikern etwas heterogen geprägt, spielte er Spectral Mornings mit seiner Live-Band ein. So wirkte das Album in sich geschlossener, von einem „Band-Feeling“ erfüllter. Der Nachfolger Defector sollte daran anschließen. Steves Label Charisma hatte Ende der siebziger Jahre große finanzielle Probleme. [*1] Dies könnte zum einen an der Wirtschaftskrise in Großbritannien und zum anderen an dem wandelnden Geschmack des Musikpublikums (Stichwort Punk, New Wave) gelegen haben.
Lediglich Genesis ...And Then There Where Three brachte für Charisma gute Verkaufszahlen und erreichte Platin in Großbritannien. So lag der Druck auf Steve, ein Album mit kommerzielleren Songs zu produzieren. Einige der aufzunehmenden Stücke hatte die Band schon live dargeboten (The Steppes, Sentimental Institution, Hercules Unchained), bzw. geübt. [*2] So begab sich Steve mit seiner Band nach extensivem Touring und seinem bestverkauftesten Album im Gepäck [*3] im Frühjahr 1980 ins Wessex Sound Studio in Highbury im Norden Londons. [*4] Er hatte sich zur Aufgabe gemacht, schnell gutes, einprägsames Material zu schaffen, auch um seinen augenblick- lichen Erfolg zu stabilisieren. Studio-Zeit war teuer, der Druck der Plattenfirma (und der selbst- gemachte) groß und eine folgende Tour bereits gebucht. [*5]
Inspiriert vom politischen Filmdrama The Conformistvon Bertulucci (Der große Irrtum – nach dem Roman von Alberto Moravia) [*6] wollte Steve ein Konzeptalbum über einen Flüchtling aus dem Ostblock – The Defector (Der Überläufer) produzieren, in dem die unterschiedliche Lebensweisen in den beiden politischen Blöcken und deren Wirkung auf den Protagonisten gegenübergestellt werden. Bis dato war Steve jedoch nie im Ostblock gewesen. So diente das Albumkonzept eher als Metapher für die Themen Entfremdung, Gefangensein in scheinbar unveränderbaren Situationen und die Flucht daraus, oder aus/vor sich selbst.
Die Band bestand aus:
Steve Hackett: Gitarren, Optigan, Roland GR-500-Guitar Synthesizer
John Hackett: Flöten
Nick Magnus: Keyboards, Roland Vp-330-Vocoder
Dik Cadbury: Bass
Peter Hicks: Gesang
John Shearer: Schlagzeug
Die Aufnahmen gestalteten sich tatsächlich schnell, auch die Produktion kam ohne große Korrekturen, ohne großen Feinschliff aus, so dass das Album in noch nicht einmal zwei Monaten fertiggestellt war. Es erschien im Juni 1980.
Es sollte mit Platz 9 in den UK -Charts [*7] das bis dato erfolgreichste Hackett-Album werden.
Als Singles wurden The Show mit Hercules Unchained als B-Seite und Sentimental Institution, B-Seite The Toastausgekoppelt.
Die CD-Remaster-Ausgaben beinhalten neben Hercules Unchained noch Live Stücke der Defector-Tour und dem Reading Festival.
Das Cover / Gestaltung des Albums
Für das Cover-Artwork war wieder Steves damalige Frau Kim Poor zuständig. Sie schuf in ihrem unnachahmlichen Stil, dem Diaphanismus [*8], das Konterfei eines träumenden Steves mit Augen, in denen keine Pupillen zu erkennen sind (m. E. Symbol für einen Blick nach innen, in die Welten der Seele) vor düsterrotem Hintergrund, in dem er sich fast auflöst. Die Rückseite des Covers bildet das Portrait zweier sich an einander lehnender nackter Frauen (Two Vamps As Guests) mit geschlossenen, träumenden (?) Augen. Die eine wird in nachtfarbenem Blau, die andere in taghellem ockerfarbenen Braun dargestellt.
Die englische Erstausgabe enthält neben einem Lyric-Sheet mit Bandfotos ein Poster von Steve in Aktion auf der Bühne des Reading-Festivals. Die anderen Ausgaben waren in der Regel mit einer weißen LP-Hülle, die ein s/w- Portrait-Foto von Steve ziert, ausgestattet.
Die Songs
The Steppes
Der mit über 6 Minuten längste Song des Albums beginnt mit einem zarten, leicht verhalltem Flötenintro, das von einem düsteren, kraftvollen Drumsolo gefolgt wird. Dunkle Moll-Akkorde, sich wiederholenden Gitarrensoli und gespenstische Keyboardwälle fangen den Beginn auf.
The Steppes wurde schon in der zweiten Hälfte der Spectral Mornings-Tour gespielt und drückt perfekt die Atmosphäre des Albums aus. Inspiriert wurde Steve von Bildern der asiatischen Steppenlandschaften, die große Teile der ehemaligen Sowjetunion prägen: Der Wind, die Wüsteneien, eine fahle Sonne, die endlose Weite mit ihrer Einsamkeit. Es sollte nicht zu Unrecht ein Alltime-Live-Favorit werden, der seine Krönung in den Orchestershows 2018 erhielt. Es ist eines der beeindruckensten Stücke, die Steve in seiner Solokarriere geschaffen hat. Ein toller Opener!
Time To Get Out
Die Lyrics stellen klischeehaft den von Drogen („Joints were smoke at lunchtime“) „verseuchten“ Westen dem von Wodka „abgefüllten“ („Vodka helps me to sing much easier“) Osten gegenüber. Ziemlich einfacher Text wird von einem drei Akkord – Uptempo -Song interpretiert. Ein schönes Vers-Refrain-Vers-Schema, auch mal mit Lalala-Untermalung und netten Gitarrengimmiks lassen auf- horchen: Hackett goes Pop? Spricht der Songtitel auch den Wunsch des Musikers, seine Band zu verlassen, aus?
Slogans
Schon das zweite Instrumentalstück auf dem Album. Mächtige Keyboards, schneidende Gitarrenriffs und Steves typisches Tapping, zerbrechliche Flötenklänge und donnerndes Schlagzeug interpretieren den Wahnsinn des kalten Krieges. Der Wall of Sound wird gekrönt von Nick Magnus Vocoder-Stimme, die da ruft „Beware the mighty Magnatron“ (sic!).
Leaving
Die Ballade beleuchtet den kulturellen Schock, den der „Defector“ erleiden muss, wenn er in das neue Leben im Westen eintaucht. Das Stück präsentiert eine 12-String-Melodie, den Gesang von Pete Hicks, begleitet von Steve und Dik Cadbury und ein kurzes Flötensolo von John Hackett, welches die Melodie des Album-Openers aufnimmt. Sehr romantisch, sehr verträumt klingt der viel zu kurze Song mit den Worten „People dream in colour here/So they said shine your shoes from ear to ear/Right or left the west.“ aus.
Two Vamps As Guests
Den Abschluss der 1. LP-Seite des Albums bildet, man möchte sagen, das obligatorische Hackett-Solo auf der akustischen Gitarre. Es ist genauso wunderschön wie Horizons, oder Kim, nur leider nicht so bekannt. Der Protagonist erinnert sich an seine östliche Heimat und verbeugt sich vor der Musik von Tschaikowski.
Jacuzzi
Die 2. LP-Seite wird von der angejazzten, von Hackett gerne live gespielten instrumentalen Hommage an den dekadenten westlichen Lebensstil eröffnet. Eine flotte Nummer, die mit klasse Flötensolo, tollem Gitarrentapping und verdrehten Tempiwechseln, an Ace Of Wands erinnert.
Es zeigt die Spielfreude einer wunderbar harmonierenden Band. Es ist mit The Steppes ein Highlight des Albums. Wieder ein klasse Opener!
Hammer In The Sand
Ein weiteres Instrumental, welches die Band jedoch schon mit Gesang geübt hatte. Nick Magnus spielte die Melodie dann Solo auf einem Bösendorfer Piano, das im Studio herumstand. Steve war so begeistert, dass er es als Instrumental aufnahm. Ein Klavierstück, das nur noch von orchestralen Samples von Prophet 5 Synthesizer, Roland-Guitar-Synthesizer und Mellotron begleitet Gedanken an Rachmaninoff weckt. Wunder-, wunderschön! [*9]
The Toast
Nahtlos geht die Melancholie weiter. Die 12-String nimmt das Thema des Vorgängers auf und Pete Hicks Gesang setzt ein. Wie der Titel verrät, geht es hier um den Konsum von Alkohol. Man erwartet laute Musik in einer Feierrunde, aber weit gefehlt. Auch wenn der Text auf Feierlaune hindeutet: „Round and round and up and down/Drinking all the vine we found/Not so easy to remain/Steady happy…”, ist das Lied leise und traurig. Veredelt wird diese Stimmung mit einem der schönsten Flötenparts von John Hackett ab Minute 1:38, um dann ab Minute 2:50 in die zweite Strophe überzugehen, in der die Trauer um eine verflossene Liebe angedeutet wird.
The Show
Abrupt endet die Träumerei. Ein funky Bass leitet die Show ein. Diese bis Defector für Steve untypische Disco-Nummer beleuchtet die Vor-und Nachteile des Lebens im Rock’n Roll Zirkus:
„…Yes rock music should be free/Money’s worth less and less…“
Witzig ist das Promo-Video des Albums. Steve zieht die Fäden an Marionetten, die die den Song spielende Band darstellen. Gekleidet sind sie dabei in Anzug und Melone. Oder sind es die lebendigen Musiker, nur kostümiert? [*10] Ist das eine ironische Abrechnung Steves mit dem Show-Biz, in dem der Künstler gedrängt wird, radiotaugliche Mucke zu machen, von wegen künstlerische Freiheiten? Eine Allegorie auf den kalten Krieg, in dem Politiker im Hintergrund um des Machterhalts willen die Fäden ziehen? Diese Pop-Disco-Nummer hat jedenfalls zu heftigen Kontroversen ob ihrer Simplizität unter den Fans geführt. Werten wir sie doch als ironische, mehrdeutige Verballhornung Steves, sich vor den Zwängen des Musikgeschäfts anzubiedern.
Sentimental Institution
Als Ausklang des Albums wird dem geneigten Hörer eine schräge Big-Band-Nummer in Stil der 40er Jahre, die auch als Single ausgekoppelt wurde, kredenzt. Steve nutzt dabei die Soundeffekte eines Optigans, einer Optical Organ [*11], einem einer elektronischen Orgel ähnelndem Instrument, das auf optischen Discs kopierte Sounds per Tastendruck reproduziert. Das 1971 auf den Markt gekommene Instrument ist ein kleiner Bruder des Mellotrons und ein Vorläufer des Synthesizers. Steve mixte verschieden Sounds übereinander, Pete Hicks, Mitkomponist des Stücks, veredelte den Song mit einer 40er-Jahre-Stimme. Voila, hier haben wir Glen Miller, Louis Armstrong u.ä.! Das Stück wurde schon in der zweiten Hälfte der Spectral Mornings-Tour gespielt und sorgte für Verblüffung im Publikum. Hier beweist Pete Hicks, was er für eine tolle, wandelbare Stimme hat. Er setzt ein großes Ausrufezeichen auf seiner letzten Album-Aufnahme mit Steve Hackett.
Hercules Unchained
Die Single-B-Seite wurde ebenfalls schon auf der Spectral-Mornings-Tour gespielt. Fetzige, Metal- Gitarren eröffnen eine flotte Rock’n Roll-Nummer, die gespickt mit Vocoder-, Gitarren-und Keyboard- gimmiks ist. Hackett goes Status Quo will man meinen. Ein Live-Kracher, der jedoch keinen großen, bleibenden Eindruck hinterlässt.
Fazit
Defector zählt unter den Fans als letztes der vier klassischen Steve Hackett-Alben. Es zeigt eine fantastisch eingespielte Band, die die kompositorischen Ideen Steves aufnimmt und einen eigenen Charakter gibt. Das Album ist düsterer, politischer als seine Vorgänger. Die Wärme und das Zauberhafte der „geisterhaften Morgen“ ist einer Kühle und Sprödigkeit der Steppen gewichen.
Ganze fünf Instrumentals halten sich mit fünf von Pete Hicks wundervoll gesungenen Songs die Waage. Das Konzept, die Empfindungen des Überläufers bei seinem Weg in eine neue Kultur aufzuzeigen, muss eher allegorisch gesehen werden. Steve startet den Versuch mit der Welt des kalten Krieges abzurechnen eher vage. Man kann es aber auch als eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Künstlers in einer kommerzialisierten Gesellschaft interpretieren, ja sogar Steve Hackett’s Verarbeitung des Ausstiegs bei Genesis (Time To Get Out, Leaving) scheint möglich.
Steve zeigt sich sehr vielseitig. Er verbindet jazzige Elemente mit Prog und Pop, zitiert den Big-Band-Sound der Vorkriegsära und verbeugt sich vor der Klassik. Jedoch bleibt die Verbundenheit zu Genesis erhalten. Ein Stück wie z. B. Leaving hätte prima auf Wind & Wuthering gepasst.
Vielleicht fällt Defector wegen einer Neigung zum Pop in Songs wie z. B. The Show zu den Vorgängeralben etwas ab, ist jedoch ein wichtiges Werk in Steve Hacketts Oeuvre, das auch heute noch mit seinen vielen Musikstilen überrascht, ja besticht und angenehm hörbar ist.
Trotz, oder wegen seines Hangs zum Pop blieb der kommerzielle Erfolg nicht aus.
Defector gliederte sich mit GB-Chart-Platz 9 im Juni 1980 in die Reihe seiner erfolgreichen Kollegen um Genesis mit Duke (GB-Chart-Platz 1 im April) und Peter Gabriel mit III (GB-Chart-Platz 1 im Sommer) ein. [*12]
„…Our belief in the album was justified as Defector became a UK top hit in June 1980. To this day, it remains one of my personal favourite albums.” [*13]
Diesen Worten Steve Hacketts ist nichts hinzuzufügen.
Autor: Thomas Jesse
Das Album Defector ist in verschiedenen Versionen erhältlich. Das 2CD/DVD-Set enthält neben dem Album mit einem weiteren Bonustrack (Sentimental Institution live) eine Bonus-CD mit Aufnahmen des Reading Festivals vom 28.08.1981. Dazu gibt es eine DVD mit einen 5.1 Surround Mix, allerdings nur ein Up-Mix, da die Original Multitracks nicht mehr auffindbar waren. Die Standard-CD enthält mit The Steppes, Slogans und Clocks drei weitere Live-Bonus-Tracks (ebenfalls vom Reading-Festival).
Anmerkungen:
*1. Alan Hewitt, Sketches of Hackett, Wymer, Bedford, 2. Auflage 2011, S. 79
*2. Siehe setlist.fm
*3. Spectral Mornings erreichte Platz 22 der UK-Charts, laut: www.Chartsurfer.de
*4. Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Wessex_Sound_Studios
*5. Die Tour sollte am 11.06.1980 in Großbritannien starten.
*6. Siehe: https://www.moviepilot.de/movies/der-grosse-irrtum
Und: https://www.zeit.de/1971/09/dekadent-betoerend-schoen
*7. Siehe: Linernotes zur 2005 Remaster-Ausgabe, Virgin VJCP-68776, Mini-LP-CD
*8. Diaphanismus: https://www.youtube.com/watch?v=EY4YdeO9lY0 und:
https://www.kimpoor.com
*9. Hier eine neue Aufnahme: https://www.youtube.com/watch?v=X0dIgKtrfXw
*10. Das Video: https://www.youtube.com/watch?v=WaIbdloOsZI
*11. Zum Optigan siehe: https://www.bonedo.de/artikel/einzelansicht/die-geschichte-der-elektronischen-musik-7.html
*12 zu den Chartplatzierungen siehe *3
*13 Linernotes zur 2005 Remaster-Ausgabe, Virgin VJPC-68776, Mini-LP-CD