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Steve Hackett – Darktown – Rezension
Nach der Aufarbeitung seiner Genesis-Zeit veröffentlichte Steve 1999 wieder ein echtes Soloalbum. Darktown wurde vor allem eins: Dunkel!.
Der Titel des Werkes braucht wenig Erklärung, außer dass mit „Darktown“ die afro-amerikanischen Ghettos in den USA bezeichnet wurden (diese Problematik wird auf dem Album aber nicht thematisiert). Die optische Aufmachung mit düsteren Fotografien eines unheimlichen Friedhofs auf dem Pappschuber und im Booklet, welches zu jedem der elf Stücke auskunftsfreudige Credits, Lyrics (bei acht Titeln) und Anmerkungen Steves zum musikalischen Charakter, Inhalt des Textes und/oder zur Entstehungsgeschichte bietet, tut ein übriges, um anzuzeigen, wohin die HörerInnen (und LeserInnen) von Steve und seinem Team entführt werden: nämlich einerseits in die Untergründe und finsteren Sphären der Musik, die besonders bis 1980 und seit Guitar Noir wieder eine Spezialität des entdeckungsfreudigen Gitarristen und Komponisten waren und sind, und andererseits auch in die dunklen Regionen der menschlichen Seele, wenn Steve in den Lyrics und Anmerkungen teils pessimistische philosophische und weltanschauliche Überzeugungen – oft nur bruchstück- und aphorismenhaft und daher oft schwer verständlich – kundtut und auch handfeste Gesellschaftskritik betreibt.
Steve beschreibt dieses Album als ausgesprochen persönlich – Marketingstrategie oder nicht? – Offensichtlich ist jedenfalls, dass die in den Texten beschriebenen Erfahrungen keine reinen Phantasieprodukte sein können, dazu sind sie zu komplex und teilweise auch politisch inkorrekt. Steve warnt allerdings vor übertrieben autobiographischer Auslegung.
Ebensowenig ist auch die Musik auf dem Reißbrett konstruiert, sie ist vielmehr großenteils erträumt und sehr von Steves emotionaler Welt bestimmt. Sie spricht seine musikalische Sprache der letzten Jahre, ist aber dennoch eine spürbare Weiterentwicklung: Akustische Gitarre, Streicher (auf diesem Album mit Hilfe von Samples eingespielt) etc. fließen immer mehr in Steves Rockmusik ein, und obschon er die Genres „akustisch“ und „Rock“ noch trennt, schafft er es, sie vorsichtig immer mehr zu vermischen. Der Sound von Darktown ist nicht mehr so glattpoliert und teilweise oberflächlich wie noch auf Guitar Noir, sondern hier beweist der Künstler noch viel mehr Liebe zum Detail. Dank dem explodierenden Markt und dem hohen technischen Entwicklungsstand auf dem Gebiet der Tontechnik, des Instrumentenzubehörs, wo Laien keinen erschöpfenden Einblick mehr haben, konnten klanglich neue Bereiche erobert werden, die der Durchschnittszuhörer nicht technisch deuten kann und braucht, sondern nur mit Metaphern und Gefühlsausdrücken zu beschreiben vermag.
Steves vermutlich letztes Album dieser Art in diesem Jahrtausend hat ein Konzept, dank der Anmerkungen im Beiheft sogar noch deutlich mehr als etwa Calling All Stations oder Beggar On A Beach Of Gold, die ja beide auch nicht ohne ein Gesamtkonzept waren. Von einem „Konzeptalbum“, wie es in der Prog-Rock-Szene verstanden wird, kann man allerdings nicht sprechen, so groß ist der Zusammenhalt der einzelnen Titel denn doch nicht. Steve vergleicht das Album mit einem dramatischen Werk, dessen einzelne Auftritte nicht allzu isoliert betrachtet werden sollten, damit man nicht den Blick für das Ganze verliert. Er selbst trete in diesem Werk in verschiedenen Rollen auf, um der Handlung voranzuhelfen.
Innerhalb des gesamten Albums lassen sich viele Gegensätze ausmachen, die dem Werk seine besondere Würze verleihen: lichte Momente im Dunkel, schnelle und langsame, rhythmische und dahintreibende, gesungene und instrumentale, warmherzige und kaltblütige Parts usw., die nun näher beleuchtet werden sollen: Omega Metallicus ist die vielleicht etwas alberne Namensgebung für ein Instrumentalstück, das an die Widerborstigkeiten des Highly Strung-Albums (1983) erinnert. Unterlegt von einem interessanten Slap-bass-Muster und einem treibenden, zuweilen aussetzenden programmierten Drum-Rhythmus, an dem jemand namens Beats ’n‘ The Hood mitgewirkt hat, entfaltet Steve eine Collage, die die Klangmöglichkeiten der E-Gitarre – mit Hilfe verschiedenster Effekte – aufzeigen will. Steve, der „Omega Metallicus“ scherzhaft als altetruskisch für „Let’s party“ übersetzt, lobpreist insbesondere den Sustainer (Effektgerät zum Aushalten von Tönen) von Fernandes.
Eingefleischte Fans werden aufhorchen, wenn es in der Mitte des Tracks plötzlich auffällig melodisch wird und das Gitarrenthema von Cassandra erklingt, jenem Song des unveröffentlichten 1988er Feedback-Albums, der in der Aufnahme mit Brian May auf der amerikanischen Viceroy-Pressung von Guitar Noir erschien. Eine weitere Passage erinnert an einen Flipper – seiner Spielautomatenleidenschaft zollte Steve schon einmal mit Slot Machine, ebenfalls auf Feedback, Tribut.
Der Title-Track Darktown ist eine bitterböse Kritik am britischen Schul- und Erziehungswesen. Das „power masquerading“ (was wohl heißt, daß man keine Schwäche zeigen darf) habe dazu geführt, daß heute jeder, der darauf reingefallen sei, psychische Probleme habe. Mit tiefer, toter Stimme sprechend, zeichnet Steve ein anschauliches und zugleich unansehnliches Bild von den Opfern, die diese Politik gefordert habe. Geisterhafte E-Gitarren-Arpeggi begleiten die Verse, als Refrain erscheint eine tiefe, mahnende Weise, zu der sich später ein Geräusch wie ein unheimliches Alarmsignal sowie weitere atonale Elemente und Geräusche gesellen. Herausragend sind die hin- und hergerissenen, angstgetriebenen Saxophonimprovisationen Ian McDonalds, des King Crimson-Mitgründers, der spätestens seit Steves Japan-Konzerten auch Hackett-Fans kein Unbekannter ist.
Die Sonne geht auf mit dem Song Man Overboard, der eine Idylle malt von Ozean, Segelboot, Abenddämmerung, Fernweh … – nur gestört dadurch, daß ein Mann über Bord gestoßen worden sei; wie dieses Ereignis jedoch zu deuten ist, bleibt offen. Das Lied fiel Steve vor Jahren im Urlaub plötzlich ein, während Kim Papageienfische suchte (sonst findet sich im Booklet übrigens keine Spur von Kim) – ein Lied von unbeschreiblicher Schönheit und Weite, bestehend aus der ruhigen Meereslandschaft (viel Hall und Streichertremolo), Akustikgitarren, Streichern, Chorstimmen und, naja, Steves Gesang.Ironische Schönheit und Fröhlichkeit verbreitet The Golden Age Of Steam. Inspiriert von Anne Franks Tagebuch, erzählt der Song die Geschichte eines Jungen, der während des Zweiten Weltkrieges seine Familie an die Nazis verrät und sich dadurch bereichert. Prägend für das Stück ist ein Marschthema, das – mit Flöte und kleiner Trommel instrumentiert – zu Beginn erscheint (erinnert an The Battle Of Epping Forest) und in anderen Arrangements (u. a. als Balalaika-Nachahmung) wiederkehrt. Als Background-Sängerin taucht hier u. a. Mae McKenna auf, deren Album Mirage & Reality Steve 1992 produzierte. Und zeitgeschichtlich Interessierte werden die Einspielung eines Original-Reports von der Normandie-Landung der US-Streitkräfte interessant finden …
Ruhe und Erbauung erfährt das Herz des Zuhörers bei Days Of Long Ago, einem Liebeslied, begleitet von der Akustikgitarre. Eine bittersüße Note erhält der schlicht-schöne Song durch den pathetisch-verletzlichen Gesang Jim Diamonds, der auch die Lyrics schrieb und die Melodie miterfand. Diamond ist Tony Banks-Fans kein Unbekannter, denn er sang den Abspanntitel You Call This Victory des Redwing-Filmes, erschienen auf Tonys 1986er Soundtracks-Album. „Warum kommen alle guten Sänger aus Schottland?“ fragt Steve …
„Dreaming … While You Sleep“? Nein, aber so ähnlich: Dreaming With Open Eyes schildert, wie eine Autofahrt bei Regen alle 500 Meter Anlass zu Tag-( oder Nacht-)Träumen gibt: Man sieht Regenbogen, Allee, Berge, Wasserfall, Flora und Fauna, fühlt Licht und Schatten und Temperaturen verschiedener Tageszeiten, wechselnde Geschwindigkeiten … Am Ende transzendiert der Fahrer ins Zeit- und Raumlose – na, wenn das man gutgeht … Lyrics und Musik passen sehr gut zusammen. Der Regen wird symbolisiert durch den auf dem Gitarrenkorpus geschlagenen Grundrhythmus, der ebenso lateinamerikanisch klingt wie die Harmonien, die sich unter anderem durch Steves mehrstimmigen Gesang ergeben. Mit Hilfe verschiedener Instrumente ergeben sich viele verschiedene Färbungen des Songs. U. a. tritt „Brother John“ Hackett hier mit Quer- und Panflöte in Erscheinung, oder man hört die Scheibenwischer von Steves BMW … – gewiß ein Höhepunkt der CD, wie auch der nächste Titel: Twice Around The Sun – zweimal um die Sonne führt uns ein Instrumentalstück, bestehend aus zwei E-Gitarren-Soli und einem kurzen Zwischenteil. Das erste Solo („pounding“) klingt aufgrund seiner Klangfarbe und der Molltonart (E-Moll mit vielen Modulationen) eher nach Kraftanstrengung. Der Mittelteil mit einer gitarre-erzeugten Melodie und bundlosem (fretless) Baß macht in seiner Belanglosigkeit Hunger auf Gitarrensolo Nummer zwei („floating“): Hier ist der erwünschte Warp-speed erreicht, kraftvoll läßt sich die Gitarre (in Steves Lieblingssound) durch die Sphären treiben, um schließlich mit dem möglicherweise längsten je aufgenommenen Gitarrenton (65 Sekunden lang) zu enden. Damit nicht genug: Reichlicher Einsatz von Mellotron-Streicherklängen (Samples) läßt die Herzen „alter“ Fans höher schlagen. Dieser Track ist ein Ohrenschmaus für die Freunde großflächiger Hackett-E-Gitarrensoli und ein würdiger Nachfolger etwa des Firth Of Fifth-Solos, von Spectral Mornings, The Steppes oder Flight Of The Condor / Sierra Quemada – ob er aber auch Meilensteincharakter hat, bleibt abzuwarten.
Rise Again, Steves unverbindliches Bekenntnis, dass nach dem Tod nicht alles vorbei ist, ist zunächst ein nüchterner Song im Stil etwa von Like An Arrow (von Guitar Noir), bis die drei Strophen gesungen sind. Danach beginnt ein temporeicher Instrumentalteil mit einer Reihe interessanter Features, so z. B. Steves Vocal-Adlibs mit jener Kantigkeit in der Stimme, die man erstmals bei Solid Ground (von Blues With A Feeling, 1994) hörte. Aron Friedmans Mitwirkung verleiht dem Sound eine besonders zeitgemäße Note.
Inhaltlich etwas schwer verständlich ist Jane Austen’s Door: Laut Steve ein Song, der jemandem alles Gute wünscht, aber die Verse der drei Strophen lassen sich doch schwer ausdeuten. Unklar bleibt beispielsweise die Bedeutung der vier Eigennamen in dem Song: Wer ist Jane Austen, welche Rolle spielt ihre Wohnung, welche Bedeutung kommt dem französischen Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre zu, wer oder was ist „Ruby Tuesday“, was hat er/sie/es mit dem Hausmeister und seinem Film zu tun, was ist mit „Sloane Square tube“ gemeint? Wer Antworten hat, möge an die it-Redaktion schreiben. Musikalisch eher einfach gehalten, mit einer warmen Bass-Line, einer schlichten Bridge à la Your Own Special Way (1976er Version) und einem sehr ansprechenden Gitarrensolo am Ende, nimmt dieser ruhige Song mit dem schmerzlichen Unterton den Zuhörer gefangen, bevor dessen musikalisches Verarbeitungsvermögen beim nächsten Titel wieder in ganz anderem Maße beansprucht wird – P.S.: Die beiden französischen Zeilen lauten auf deutsch: „Glücklich leben in einem Käfig, ein Mann und eine Frau, vielleicht mein Alter“.
Aufrührerisch-proletischer Bocksgesang (ein dröhnendes „Yeeeah!! Heeey!! Yeeeah!!“) eröffnet Darktown Riot, eine weitere düstere, aber heftig-deftige Rocknummer mit leichten Rave-Elementen (dank Beats ’n‘ The Hood). Das Stück klingt nach Zerstörung, beschreibt in tieflagigen Passagen, mit Dissonanzen, Geräuschen und einer murmelnden toten Stimme, was (junge) Menschen anrichten können, wenn man sie in die falsche Richtung treibt … Darktown Riot ist vielleicht eine neue Fin-de-millénaire-Version des fast 25 Jahre alten A Tower Struck Down (von Voyage Of The Acolyte, 1975), welches seinerzeit schon mahnend an Rechtsradikalismus erinnerte („Sieg Heil!“-Einblendung). Beide Stücke enden ebenfalls mit einem geisterhaften Epilog, der die zerstörte Landschaft beschreibt (die man sich z. B. wie die „Welt des Verderbens“ von Peter Gabriels Eve vorstellen kann).
Das Schlussstück In Memoriam stimmt da doch wieder versöhnlicher, wenn es auch kein „happy end“ darstellt. Es befasst sich mit der Vorstellung, sich völlig der Gesellschaft entfremdet vorzukommen („alienation“) und spielt – daher auch der Titel – auf den Tod an, nach dem der Geist eines jeden Geschöpfes, selbst der der schmierigsten Schnecke, weiterlebe: bei einer „Party“, zu der jeder von Gott eingeladen sei … Die Strophen werden von Steve gesprochen, der Refrain („In memoriam“) mehrstimmig mit viel Hall und Raumklang gesungen.
Nicht zum ersten Mal beschließt ein Stück mit solcher Thematik ein Album der Genesis-Familie – siehe und höre z. B. The Final Curtain oder Fading Lights …Wer glaubt, Genesis & Co. erschlössen keine neuen musikalisch-künstlerischen Bereiche mehr, lasse sich von diesem Werk eines Besseren belehren. Mehrmaliges Hören ist in jedem Falle zur Urteilsfindung erforderlich. Hackett-Fans sollten sich dem Album ohne bestimmte Erwartungen nähern. Bei Depressionen und anderen Psychosen ist Darktown nicht uneingeschränkt zu empfehlen. And now: It’s happy hour shut the beasts away, come along children it’s time to play in DARKTOWN – – –
Autor: Andreas Lauer