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Steve Hackett – The Circus And The Nightwhale – Rezension
Mit „The Circus And The Nightwhale“ legt Steve Hackett erstmals ein lupenreines Konzeptalbum vor, das autobiografisch ausgerichtet ist.
Im Süßwasser aufgetaucht
Steve Hacketts neues Album The Circus And The Nightwhale
Es ist der sich in Musik verwandelnde Schrei eines Säuglings, der die Sache zu Beginn ins Rollen bringt. Wie auf Kommando setzt sich eine Dampflok in Bewegung, und die Lebensreise der Hauptfigur mit dem sprechenden Namen Travla nimmt ihren klingenden Lauf. Er habe etwas zum Ausdruck gebracht, das er schon lange sagen wollte, ließ Steve Hackett im Vorfeld seines neuesten Releases verlauten. Und na klar, hinter der Figur Travlas steht natürlich niemand Anderes als der in diesen Tagen seinen 74. Geburtstag feiernde Gitarrist und Sänger selbst. The Circus And The Nightwhale ist eine in Musik und Fiktion transformierte Rückschau auf das eigene Leben.
Ein Konzeptalbum
Ein Konzeptalbum also. Welches bei einer Gesamtlaufzeit von ca. 45 Minuten als ziemlich kompakt gelten darf. Moment: Konzeptalbum auf LP-Länge? Die Gedanken wandern zurück ins Jahr 1975. Auf seinem Solo-Debüt Voyage Of The Acolyte präsentierte Hackett seinerzeit eine Abfolge von Songs, die erstens jeweils einer Tarotkarte zugeordnet waren und zweitens eine episodisch gestaltete Reise des Erkenntnis suchenden und Liebe findenden Protagonisten ergaben. Knapp 50 Jahre später kann von esoterischen Vibes in der ersten Hälfte von The Circus And The Nightwhale keine Rede sein. Eine Montage mutmaßlich authentischer Radioschnipsel gibt es zu Beginn vor: Wir befinden uns im England der 1950er. Travla purzelt geradezu ungebremst in ein lautes, verschmutztes und oftmals beängstigendes London der Nachkriegszeit. Im Verlauf des Geschehens werden zunächst prägende Kindheits- und Jugenderfahrungen vermittelt – von zweifelhafter Freundschaft bis hin zu amourösem Verlangen, Jahrmarktstaumel und dem Eintritt in zwielichtiges Nachtleben.
Die Story und die Songs
Besonders im Opener People Of The Smoke lässt sich eine ganze Reihe eindeutiger Bezüge zu Hacketts Leben ausmachen, die stark verdichtet und sehr assoziativ gestaltet sind. Der Ex-Genesis-Gitarrist wurde 1950 in London geboren und verlebte seine Kindheit in unmittelbarer Nähe zur Battersea Power Station (genau: das Kraftwerk auf dem Animals-Cover von Pink Floyd), deren Emissionen die umliegenden Stadtteile in verdüsternden Smog hüllten. Auch der zum Ton werdende Urlaut Travlas, die musikalische Initialzündung des Albums, lässt sich als sinnbildliche Umsetzung dessen begreifen, was Hackett in seiner Autobiografie A Genesis In My Bed über sein frühes Leben schreibt: Ein echtes Schreikind sei er zunächst gewesen, von Beginn an mit viel Bewegungsdrang und Entdeckerlust ausgestattet. Im Alter von zwei Jahren habe er dann eine Mundharmonika bekommen, welche seine Faszination am eigenen musikalischen Klang weckte und damit aus heutiger Sicht die erste Weichenstellung in Richtung Künstlertum war.
Das Tempo und die Ereignisdichte von People Of The Smoke geben so etwas wie den Grundtakt des Albums vor, welches einen kurzweiligen und abwechslungsreichen Flow entwickelt. Viele Tracks gehen ineinander über und könnten nur schwerlich für sich allein stehen. Bei einigen von ihnen erklingt zum Schluss eine kurze, aber eigenständige Instrumentalpassage mit retardierender Wirkung – als vorbereitender Beleuchtungswechsel für das Nachfolgende. Nicht nur mit Blick auf die letzten Soloalben Hacketts steht The Circus And The Nightwhale in dieser Hinsicht als etwas Besonderes da: Ein solch spezieller Flow findet sich in seiner gesamten Diskografie kein zweites Mal.
Es gibt jedoch auch eine Menge Erwartbares. Hackett’scher Hardrock, Bluesiges und süßliche Romantik zwischen catchy und kitschi. Des Maestros im Zentrum stehendes Gitarrenspiel ist unverkennbar, wirkt melodisch aber fast unerschöpflich. Seine Leadvocals, eine eindeutige Schwachstelle früherer Jahrzehnte, sind wie auf den letzten Alben so geschickt produziert, dass sie eine akzeptable musikalische Präsenz haben. Letzteres gilt zwar ebenfalls für die üblichen mehrstimmigen Satzgesänge, diese jedoch klingen technisch erneut so glattgebügelt, dass Natürlichkeit und Lebendigkeit zu sehr auf der Strecke bleiben.
Auch die Liste der im Studio Beteiligten enthält keine größeren Überraschungen. Im Wesentlichen greift Hackett auf seine derzeitige Live-Band zurück, hinzu kommen Altbekannte wie sein Bruder John Hackett (fl), Amanda Lehmann (voc) sowie die beiden Schlagzeuger Nick D’Virgilio und Hugo Degenhardt. Insbesondere das Drumming wirkt im Vergleich zu vielen Vorgängeralben etwas ausgelassener und dynamischer, was The Circus And The Nightwhale hörbar gut bekommt.
Für ein klanglich wirklich differenziertes Spiel gibt es allerdings nur wenig Gelegenheit.
Besonders prägend für The Circus And The Nightwhale ist ein weiteres Mal Keyboarder, Programmierer, Co-Songwriter und Mitproduzent Roger King, der die Arrangements gewohnt opulent und oftmals flächig gestaltet. Positiv: Die Palette seiner Sounds ist recht weit gefasst. Neben fetten Orgeln, Pianoklängen und den typischen King’schen Streichorchester-Imitaten (die ihre Kunststoffigkeit niemals ganz loswerden) kommen glücklicherweise auch unverbrauchtere Synthesizer-Farben zum Einsatz. Nichtsdestotrotz wünschte man sich an der ein oder anderen Stelle ein Weniger-aber-wertiger.
Echte musikalische Höhepunkte des Albums? Eher nicht.
Taking You Down ist ein breitbeiniger Rocker, der einen guten Drive entwickelt. Hackett verarbeitet in diesem Song die Erinnerung an einen Jugendfreund der schwierigen, aber spannenden Sorte „bad guy“. Nad Sylvans verfremdeter Gesang erzeugt eine Atmosphäre kühler Aggression, und Hackett fingert sich ein verspätetes Bewerbungssolo für die Nachfolge von Ritchie Blackmore bei Deep Purple zurecht. Macht Spaß, wirkt stimmig, entwickelt aber im Spiel mit dem tradierten Hardrock-Idiom zu wenig Eigenes, um großartig zu sein. Für Genesis-Fans besonders interessant ist der erste Teil von Enter The Ring, dessen märchenhaft-geheimnisvolle Stimmung an Entangled erinnert. Aber siehe oben: Die überproduzierten Satzgesänge verflachen den Song und verpassen seinem anfänglichen Zauber eine unschöne technische Note. Eine klare, lyrische Frauenstimme wäre hier wunderbar gewesen.
Zu Beginn von Ghost Moon And Living Love, das später ein gefälliges Pop-Flair verbreitet, singt Amanda Lehmann dann zwar tatsächlich ein lyrisches Vokalisen-Solo, aber Rezensenten sind einfach eine furchtbare Spezies: auch wieder nicht wirklich gut. Zu dünn und bemüht ist der Gesang, um über einem nicht gerade edlen Synthetik-Chor uneingeschränkt beglückend strahlen zu können. Stattdessen gehöriger Kitsch-Alarm.
Ein hübscher Moment ist das Akustik-Intro von Found And Lost. Hackett greift darin auf eine melodische Wendung des zweiten Tracks (These Passing Clouds) zurück und deutet damit scheinbar ein konzeptionelles Spiel auch auf musikalischer Ebene an. Was dann jedoch folgt, ist ein old-fashioned Schwoof-Blues, der den Charme einer verruchten, aber niveaulosen B-Movie-Szene entfaltet.
Irgendwas ist immer. Und das zieht sich durch The Circus And The Nightwhale leider wie ein roter… – apropos:
Wie endet denn nun eigentlich die Geschichte?
An dieser Stelle kommt der Albumtitel ins Spiel: Auf einem Weg voller Irrungen und Wirrungen verfängt sich Travla in den Netzen eines üblen Zirkus. Hackett selbst interpretiert dies in seinem Interview mit dem Eclipsed-Magazin als Metapher für das Gefangensein im unbarmherzig-unsteten Musik-Business. In Zuversicht auf die Macht der Liebe befreit sich Travla zwar aus dem Zirkus, befindet sich dann allerdings in einem Überlebenskampf auf offener See und gelangt dort ins innere Dunkel des Nachtwals. Hier, im Song Into The Nightwhale, gibt es eine zwar etwas einfallslos komponierte, aber dennoch sinnfällige Aufwärtsbewegung der Musik, so dass Hacketts Alter Ego tatsächlich im Licht der Liebe seine Erlösung findet. Und mit Blick zurück wird die ebenfalls sinnfällige Gegensätzlichkeit von Anfang und Ende deutlich: Travla hat sich von der eingetrübten Enge des früheren Londoner Ichs, von dessen Begierden und Ängsten nicht nur entfernt, sondern ist in und durch Liebe eine andere, freie Person geworden.
The Circus And The Nightwhale ist trotz allem anfänglichen Verhaftetsein im Profanen ein zunehmend esoterisch anmutendes „Rite of passage“-Geschehen über das Mysterium der Liebe – womit sich automatisch der Bogen zurück zu Hacketts Solodebüt Voyage Of The Acolyte spannt. Allerdings stellt sich dabei auch ein Bedauern ein. Wo sind eigentlich die Momente feiner Poesie geblieben, für die Hackett doch schließlich einmal ein Händchen hatte? Wie so oft in den letzten Jahrzehnten pendeln die Songs zwischen knallig produziertem Rock und sentimentaler Soßigkeit hin und her. Hacketts Musik ist in erster Linie plakativ – was durchaus im Einklang mit der betont illustrativen Kinderbuchästhetik des Covers steht. Allerdings hätte besonders der autobiografische Ansatz des Albums mit dem Wissen um die Verletzlichkeit des eigenen Lebens eine subtilere und hintergründigere Tonsprache herausfordern können.
Und auch eine weitere Möglichkeit verpasst Hackett. Nachdem Travla aus den Untiefen des Ozeans aufgetaucht ist und schließlich im Süßwasser-Refrain der AOR-Ballade Wherever You Are seine spirituelle Neugeburt feiert, wirbelt ein aufgeregter Zwischenteil aus kurzen Rockfragmenten alles noch einmal ziemlich durcheinander. Ein dramatisch klingender Nachhall zurückliegender Verirrungen? Es hätte der Idee eines Konzeptalbums entsprochen und für einen stärkeren künstlerischen Zusammenhalt gesorgt, wäre dieser Part aus Motiven vorangegangener Songs gebildet worden. So aber bleibt die kleine melodische Reprise im Intro von Found And Lost irritierenderweise die einzige ihrer Art und wirkt damit seltsam verloren.
Den abschließenden Epilog bildet White Dove, ein klassisch geprägtes Instrumental für Akustikgitarre, welches 2018 bereits auf der japanischen Version des Live-Albums Wuthering Nights als Bonus-Track erschienen war. Dieses eher streng und puristisch einsetzende Stück schafft eine geradezu wohltuende Distanz zur Klangmassigkeit des bisherigen Geschehens und bewegt sich in Richtung eines nachdenklichen, geschmackvoll ausbalancierten Endes.
Aber irgendwas ist ja immer. Nach gut einer Minute erfolgt ein abrupter Umschlag von Moll nach Dur, und mithilfe einer „‘O sole mio“-Gedächtnismelodie kreiert Hackett sein weichgezeichnetes Schlussbild, auf dem Travla und die friedlich umherfliegende weiße Taube unseren Blicken in eine sonnengetränkte Postkartenidylle hinein entschwinden.
Autor: Christoph Laakmann
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The Circus And The Nightwhale erscheint am 16. Februar 2024 als CD, CD/Blu-ray im Mediabook, auf Vinyl (inkl. besonderer farbiger Ausgaben) und als digitales Album ist bei JPC und Amazon bestellbar.
Tracklist:
People Of The Smoke [4:51]
These Passing Clouds [1:35]
Taking You Down [4:17]
Found And Lost [1:50]
Enter The Ring [3:53]
Get Me Out! [4:16]
Ghost Moon and Living Love [6:44]
Circo Inferno [2:30]
Breakout [1:37]
All At Sea [1:56]
Into The Nightwhale [4:06]
Wherever You Are [4:19]
White Dove [3:15]
Beteiligte Musiker:
Steve Hackett: electric and acoustic guitars, 12-string, mandolin, harmonica, percussion, bass, vocals
Roger King: keyboards, programming and orchestral arrangements
Rob Townsend: sax
Jonas Reingold: bass
Nad Sylvan: vocals
Craig Blundell: drums
Amanda Lehmann: vocals
Nick D’Virgilio: drums
Hugo Degenhardt: drums
Benedict Fenner: keyboards
Malik Mansurov: tar
John Hackett: flute
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