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Steve Hackett – Bay Of Kings – Album Rezension
Nach einer Reihe von Rockalben veröffentlichte Steve Hackett 1983 sein erstes Akustikalbum. Zum 40jährigen Jubiläum hat sich Thomas Jesse näher mit dem Album befasst.
Vorbemerkung
Es war einmal ein junger Londoner Teenager, der, obwohl Mundharmonika spielend, mit seinem musikalischen Leben nicht so recht zufrieden war. Da entdeckte er eine Aufnahme des spanischen Gitarristen Andrès Segovia, der Interpretationen von Bach zelebrierte *1. Schon war des Jungen Liebe zur Gitarre geweckt. Er übte, er spielte – allein, aber auch mit seinem Bruder John, der sich auf die Flöte spezialisierte. Dann war die Zeit gekommen, sich in die große weite Welt des Rock’n Roll zu wagen. Mit einer mutigen und pfiffigen Anzeige *2 weckte er das Interesse einer Band mit dem magischen Namen GENESIS. So ward eine aufregende, abenteuerliche und fruchtbare Zeit geboren, die sechs Studio-Alben und einen Solo-Ausflug hervorbrachte.
Unser Held wollte mehr, die Ideen brachen aus ihm, einem Vulkan gleich, heraus. Als die Band diese Ideen nicht ausreichend würdigte, verließ er sie. Weiter ging es mit fünf Rock-Alben, bevor der Geist Segovias lauter und eindringlicher zu ihm sprach und ihn um ein akustisches Album bat. Steve, dessen großer, manchmal sturer Wille ihn mutig für sich kämpfen ließ, brach zu neuen Horizonten auf, verließ sein musikalisches zu Hause und fing an zu experimentieren. Das Jahr 1983 war schon in den Herbst geschritten, als das akustische Album das Licht der Welt erblickte und sich nun zum 40ten Mal jährt. Wahr oder falsch?
Hintergrund
Steve hatte immer wieder akustische Nummern auf seinen Solo-Alben untergebracht. *3 Bei Genesis waren es das berühmte Horizons und schließlich das auf der Nylon-Gitarre gespielte Intro zu Blood On The Rooftops, die sein Interesse an akustischer Musik aufzeigten. Er hatte die Idee für ein rein akustisches Album seinem Label Charisma immer wieder vorgetragen. Genau wie sein Wunsch ein Live-Album zu veröffentlichen, stieß dies auf Ablehnung. Vielleicht scheute Charisma das wirtschaftliche Wagnis, denn zu Beginn der 80er Jahre stellten unplugged Aufnahmen noch eine Seltenheit dar.
So wechselte Steve nach seinem im April 1983 noch bei Charisma veröffentlichten Album Highly Strung zu Lamborghini Records, um sich Bay Of Kings zu widmen. Ideen (und sogar Aufnahmen) für die Stücke gingen bis ins Jahr 1980 zurück. Es sollte eine Sammlung neuer und rearrangierter alter Stücke (u.a. Horizons, Kim) werden. Ihn begleiteten sein Bruder John an der Flöte und Nick Magnus an den Keyboards. Kurz nach Erscheinen erreichte das Album die Nr. 70 in den britischen Charts, um jedoch schnell in der Versenkung zu verschwinden. Es fand allerdings in den Klassik-Abteilungen guten Absatz. *4
Artwork
Die Covergestaltung übernahm wieder Steve Hacketts damalige Frau Kim Poor. Sie malte ein Bild von einem weiblichen Akt. Träumend, lasziv liegt die Frau an einem Strand im Wasser. Sie könnte das Symbol für die Themen der Stücke, die sich um das Element Wasser mit Wind, Wetter und Wellen, sowie Landschaftsimpressionen drehen, sein. In Kalligrafie wird der Titel, der Name des Künstlers und der Stücke usw. wiedergegeben.
Das Backcover ziert ein Foto eines in seinem Wohnzimmer sitzenden, eine akustische Gitarre spielenden Steve. Es ist in abendlich warmem Licht gehalten. An der Wand im Hintergrund kann man u. a. Kim Poors Artwork zu Voyage Of The Acolyte erkennen. Das Artwork betont das klassisch-romantische Flair des Albums. Nun gibt es jedoch noch zwei Varianten des Covers. Die japanische Ausgabe ziert vor weißem Hintergrund ein Foto von Wellen im abendlichen Licht und im Vordergrund eine Skizze einer Gitarre, die in das Bild der Wellen hineinragt. Wahrlich unspektakulär und ohne künstlerische Ambitionen. Anscheinend wollte man den Japaner kein Cover mit einer nackten Frau zumuten.
Die dritte und aktuelle Variante zur Neuausgabe des Albums ziert das von Kim Poor erstellte Bild eines die akustische Gitarre spielenden Steve im Stil des Diaphanismus.*5
Nur in der ersten Variante erfreut die Kalligraphie den Blick des Betrachters, der Betrachterin.
Die Songs
Der Rezensent hält sich an die Neuausgabe, die über drei Bonustracks verfügt. *6
Bay Of Kings (4:52)
Das Album wird vom Titeltrack eröffnet. Der Titel ist die englische Übersetzung des brasilianischen Angra dos Reis. Es ist ein Ort an der südlichen Küste des Bundesstaates Rio de Janeiro. Er liegt an einer Bucht, die 365 Inseln umfasst. *7
Steve hatte die musikalische Umschreibung eines Bootes, das sich in den sanften Wellen auf und ab wiegt, im Sinn. So spielt er seine Nylonstring-Guitar majestätisch sanft in einem langsamen Walzer tanzend. Ab Minute 4:25 drängen sich freche kleine Wellen von Arpeggien in den Vordergrund. Schließlich vereinen sie sich mit den schaukelnden Melodien in einem traumhaften Finale.
The Journey (4:11)
Streicherklänge eines Synthesizers intonieren die Reise. Die akustische Gitarre beginnt zögerlich, verhalten, aber auch die Streicherklänge reflektierend. Arpeggien ab Minute 2:01 entführen uns nach Spanien, in die Heimat des Flamencos. Hier geht also die Reise hin. Sie wird von einem Duett aus Keyboard-Streichern und Gitarre erhöht und beendet. Hört man da nicht Joaquin Rodrigos Gitarrenkonzert heraus? *8
Kim (2:23)
Erstmalig erschien dieses wunderschöne Stück, ein Duett von Flöte und Gitarre, auf Please Don’t Touch 1978. John Hackett spielt die Melodie auf der Flöte, Steve Gitarre trägt die Akkorde hinzu und umrahmt wird das Ganze von Nick Magnus Keyboards. Wärmer, intimer, lieblicher als das Original hört es sich an.
Marigold (3:33)
Marigold reißt den Hörer, die Hörerin aus den lieblichen, sanften Träumen. Laut, fast scheppernd erklingt Steves Gitarre. Das liegt daran, dass die Gitarre mit Stahlsaiten bespannt ist. Um die kräftige Farbenpracht einer Ringelblume darzustellen, nutzt Steve einen Harmonizer. *9
So wird der Klang einer 12-String imitiert. Kraftvoll, hell und leuchtend erklingen die Töne.
St. Elmo’s Fire (3:06)
Das Meer ist unruhig. Es stürmt heulend. Die Wellen tosen brüllend an die Küste des Leuchtturms. Die Gitarre zaubert unheimliche, fast dissonante Töne in den Raum. Steve stimmt die E-Saiten in D hinunter, um den unheimlichen Klang zu erzeugen. Das ist dramatisch, bewegend, emotional – einfach wundervoll! *10
Petropolis (2:44)
Das Stück, das ursprünglich die zweite LP-Seite eröffnete, wurde von Steve während eines Wolkenbruchs in der Stadt Petropolis, die im Norden Rio de Janeiros liegt, geschrieben. Man hört den Regen im Spiel der Gitarre. Nach einer guten Minute zitiert Steve den Stil der Renaissance. Der Hörer, die Hörerin fühlt sich ins elisabethanische Zeitalter Englands versetzt. Ein schöner Bogen über den Atlantik. Eine beeindruckende Solonummer.
Second Chance (1:56)
Das Original wurde als B-Seite der Single Picture Postcardvon 1981. Ein wunderschönes Duett von Steve und John. Die Musik, für die TV-Serie gleichen Namens komponiert, lädt zum Träumen, zum Dahinschweben ein. *11
Cast Adrift (2:11)
Die Musik führt uns die Schönheit der maritimen Welt vor Augen. Wir träumen vom Gleiten durch die Wellen, um Riffe herum, vom Schwimmen mit einer Schule von Delphinen zu einsamen Stränden. Überall ist fließende Bewegung. Wir bewundern das Versinken der Sonne am Horizont ins Meer. Die Melodie des Stücks dringt unaufdringlich ins Ohr und bleibt dort unvergesslich hängen. Ein Traum von Musik.
Horizons (1:44)
Der Klassiker von Foxtrot. Hier scheint er einen Tick langsamer und sanfter gespielt zu werden. Er klingt weicher, wärmer als das Original. Der Hörer, die Hörerin möge selbst entscheiden welche Version ihm, ihr besser gefällt.
Black Light (2:29)
Dieses Stück, ein Haufen, ein Schwarm von Arpeggien und Akkorden, wie Steve es beschreibt, sollte ein Live-Favorit werden. Das Schwarzlicht beeindruckt die Zuhörenden mit einem Klangkosmos, der die Gitarre zum kleinen Orchester werden lässt. Auf und ab, schnell und langsam, fröhlich und getragen lässt Steve die Klänge ertönen. Er spielt aber nicht technisch – angeberisch, nein, ganz bescheiden nimmt er sich zurück, bleibt geerdet ganz er selbst. Das ist Zaubermusik!
The Barren Land (3:43)
Die Inspiration für diesen Stück fand Steve bei einer Reise durch das Baskenland nach San Sebastian. Der einsame, karge Landstrich wird interpretiert durch Steves Solo-Gitarre, die atemberaubende Töne schafft und die Traurigkeit spanischer Musik auffängt. Gelegentlich wird das ruhige Spiel durch einen frechen, überraschenden Windstoß durchbrochen. Das schüchterne Highlight des Albums.
Calmaria (3:22)
Der Titel bedeutet die Ruhe nach dem Sturm. Steves pastorales Spiel drückt eine majestätische Ruhe aus. Sie lädt zum Rückblick, zur Erinnerung an vergangene Erlebnisse ein. Diese Stimmung wird durch einen wundervollen Keyboardteppich verstärkt. In tiefer Melancholie enden die Musik und das Vinylalbum.
Bonus
Time Lapse At Milton Keynes (3:56)
Steve schrieb dieses Stück in der Zeit des Genesis-Reunion-Konzerts in Milton Keynes. Er soliert so locker und leicht auf seiner Gitarre, dass es swingt und zum Tanze einlädt.
Tales Of The Riverbank (2:02)
Steve interpretiert das Andante von Mauro Giuliani. *12
Der Titel rührt von einer Kinderfernsehshow der BBC der 60er Jahre her. *13
Das Stück erschien 1981 als B-Seite der Single Hope I Don’t Wake.
Skye Boat Song (1:35)
Steve spielt hier eine alte schottisches Weise, die Bonny Prince Charlie gewidmet ist. Skye ist der Name der größten Skellig-Insel, die vor der Küste Kerry’s in Irland liegt. Dieses bittersüße, kleine Lamento spielte Steve schon als Kind auf der Mundharmonika. Steve schwebt gefühlvoll über die Saiten seiner Gitarre.
Zusammenfassung
Steves Sammlung akustischer Gitarrenmusik ist nicht nur ein Album für romantische Abende bei einem Glas Wein oder Whisky. Das Album fordert zum intensiven Zuhören auf. Öffnet man sich ihm, wird man in impressionistische Landschaften, vor allem maritimer Art, gezogen. Der Zauber traditioneller englischer Musik der Renaissance wird mit spanischem Flamenco und brasilianischem Flair gemischt. Steve, immer interessiert an fremden Kulturen, an der Natur, setzt dabei seine Reiseerlebnisse kongenial um. Der Hauch von Süßlichkeit wird durch einen Hall, mit dem die Gitarre aufgenommen wurde unterbunden. Sie erhält dadurch einen sakralen, majestätischen Klang.
Nach Anthony Phillips war er der zweite Genesis-Musiker, der den Mut besaß, (im Gegensatz zu Ant als nicht ausgebildeter klassischer Gitarrist) die eingetretenen Pfade der Rockmusik zu verlassen und das erfolgreich! Eine Akustik-Tour durch Großbritannien mit Bruder John an der Flöte in kleinen Venues (hauptsächlich Universitäten) folgte. Das Konzert vom 04.11.1983 in Edinburgh wurde aufgenommen, sollte aber erst viel später 2006 als Live Archive 83 veröffentlicht werden. *14
Yehudi Menuhin entlehnte sich Musik aus dem Album für einen Soundtrack. *15
Ein zweites Akustik-Album, Momentum, erschien 1988. Oft kehrte Steve zu Akustik (bzw. unplugged) Konzerten zurück. Er spielte sogar mit Orchestern zusammen. Seine unprätentiöse Art, der Gitarre wundervolle Klanglandschaften zu entlocken, ist einmalig. Bay of Kings ist nun vierzig Jahre alt, aber immer noch jugendlich erfrischend und betörend schön. Es ist ein Kleinod nicht nur der Gitarrenmusik und gehört in jede gutsortierte Musiksammlung.
Nachwort
Aus dem Teenager wurde ein großer Magier auf der Gitarre. Einen langen Weg voller musikalischer Abenteuer musste er gehen, bis er die Vollendung in der Verschmelzung vieler Musikstile erreichte. In der Stadt Wuppertal fanden 40 Jahre später, vom 14.-16.04.2023, Musiker eines Orchesters und einer Rockband zusammen, um unter der Leitung unseres Helden diese, seine Musik zu zelebrieren. Ja, es waren drei magische, verzaubernde Abende. Doch ewig wird das kleine Orchester, seine Gitarre erklingen – wahr oder falsch?
Autor: Thomas Jesse
Anmerkungen
1. Siehe hier
2. Quelle
3. Auf Please Don’t Touch: Kim, Land of Thousand Autumns / Spectral Mornings: Lost Time in Cordoba / Defector: Two Vamps as Guests / Cured: A Cradle of Swans
4. Siehe: Alan Hewitt, Sketches of Hackett, Bedfort 2012, S. 96
5. Titel des Bildes: The Small Orchestra. Zu Kim Poor: Website
6. zum Beispiel diese
7. Siehe hier Bei den finalen Aufnahmen stürzte sich ein hektischer Steve in die Glastür des Studios und verletzte sich schwer an Hand und Nase. Er zog die Aufnahmen jedoch durch und betäubte seine Schmerzen mit einer Flasche Whisky. Siehe: Steve Hackett, A Genesis In My Bed, Bedfort 2020, S. 136
8. Vergleiche hier
9. Siehe hier
10. Nicht zu verwechseln mit (LINK)
11. Siehe hier
12. Vergleiche: z.B. hiermit
13. Siehe hier
14. Siehe z. B. hier
15. Menuhin verwendete sie für einen Soundtrack für eine Dokumentation der Findhorn Foundation. Siehe Liner Notes zur Neuausgabe 1994 Seite 3.