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Simon Collins – Becoming Human – Album Rezension

Im Herbst 2020 veröffentlichte Simon Collins nach längerer Pause wieder ein Soloalbum. Siegfried Göllner hat sich mit dem Werk beschäftigt.

Vor sieben Jahren legte Simon Collins mit seiner Band Sound Of Contact das vielbeachtete Album Dimensionaut vor. Eine Europatour im Vorprogramm von Spock’s Beard inklusive Auftritt beim Night Of The Prog Festival folgte und es schien alles angerichtet für eine Fortsetzung des Projektes. Die Social-Media-Kanäle wurden mit Updates über writing sessions bespielt, doch dann wurde es verwirrend. Auflösung, Wiedervereinigung und schließlich ging auch noch eine Verhaftung wegen Drogenbesitz durch die Klatschpresse (strafrechtlich blieben keine Vorwürfe übrig). Doch musikalisch: nichts. Die Protagonisten Simon Collins und Dave Kerzner gingen letztlich getrennte Wege. Letzterer hat seither eine fast nicht mehr überschaubare Anzahl von Alben vorgelegt, die allesamt auf ein Retro-Prog-affines Publikum zugeschnitten sind. Simon Collins brauchte mehr Zeit bis er mit Becoming Human im September 2020 den Nachfolger seines dritten Soloalbums U-Catastrophe (2008) vorlegen konnte.

Dem Internetportal Sonic Perspectives verriet er im Interview, dass zur komplizierten Bandsituation auch eine persönlich schwere Zeit hinzukam: Probleme mit seinem Suchtverhalten (das war schon öfters durchgeklungen) und eine Scheidung. Simon zog nach Irland und fand dort die nötige Ruhe im eigenen Studio sein Soloalbum fertig zu stellen. Als wichtigsten Mitstreiter konnte er als Produzenten, Sound-Designer und Mit-Komponisten von acht Stücken Robbie Bronnimann gewinnen.  Dieser ist vor allem im Bereich der elektronischen Musik und als Remixer unterwegs. Dieser Einfluss wird auf dem Album sehr deutlich, wobei elektronische Musik für Simon Collins kein Neuland darstellt, er bewegte sich schon auf seinem Solodebut in diesen Gefilden und war auch als DJ unterwegs.

Obwohl Collins diese Soundwelt durch die ausschließliche Verwendung von V-Drums (elektronisches Schlagzeug) verstärkt, liegt hier kein astreines Elektronica-Werk vor, denn sowohl sein Drumming als auch sein Gesangsstil sind eindeutig im Rock verwurzelt. Zudem zeigt sich seine Progader in der Struktur der Songs ebenso, wie in der Instrumentierung, die eben auch Pianotupfer und Gitarre enthält. Nicht zuletzt sorgen auch drei Songs, die gemeinsam mit den Sound of Contact Bandkollegen geschrieben wurden, für zusätzliche Einflüsse. Collins‘ Ziel war, einen Hybrid aus seinen elektronischen und progressiven Einflüssen zu schaffen.

In den Lyrics spricht Collins sowohl Persönliches, wie auch große Fragen der Menschheit an. Auch Science Fiction Themen kommen wie schon auf Dimensionaut nicht zu kurz. Vor allem ist es ein sehr persönliches Album, wie er Sonic Perspectives eröffnete: „I’m not just writing songs about who I am, I’m writing songs about who I’m striving to be. It’s a very personal album.“(„Ich schreibe nicht nur darüber, wer ich bin, ich schreibe Songs darüber, wer ich anstrebe zu sein. Es ist ein sehr persönliches Album.“)

Das Album startet mit dem kurzen spacigen Synthie-Intro Into The Fray, das man sich in Sci-Fi-Filmen gut als Untermalung eines vorbeirauschenden Raumschiffs vorstellen könnte. Es folgt der Titeltrack Becoming Human, der auch als erste Single ausgekoppelt worden war. Von seiner Struktur her nimmt der Song vieles vorweg, was auch auf dem restlichen Album zu hören sein wird. Ein hymnischer Refrain wechselt sich mit spärlich instrumentierten Strophen im Sprechgesang ab, der äußerst eingängige Song erlangt damit einiges an Dynamik und baut eine hypnotische Spannung auf. Textlich behandelt Becoming Human gewissermaßen die spirituelle Mensch-Werdung, Collins zeigt sich inspiriert von dem Astronomen und Autor Carl Edward Sagan (‚Wir sind Sternenstaub‘), dessen Zitat „We are a way for the universe to know itself“ er sich auf den Arm tätowiert hat.

The Universe Inside Of Me ist vielleicht der abwechslungsreichste Song des Albums. Nach einem spacigen Beginn mit perkussiven Synthieeffekten zieht das Tempo zwischendurch an, nach etwa drei Minuten setzt ein Instrumentalteil ein, in dem sich Collins an den Drums ordentlich austobt und auch seine stimmlichen Fähigkeiten zeigt, ehe der Song bei 4:15 in einen ruhigeren atmosphärischen Abschnitt eintritt. Nur eine Minute später wähnt man sich auf einem Rave (der Autor erinnert sich dunkel an die 90er) und Collins zeigt, dass er mal DJ war. Bei diesem Part wird manch traditioneller Rockfan wohl fast aussteigen. Bevor es zu steil wird, kehrt der Track aber zurück zum Refrain und schließlich zu einem atmosphärischen fadeout. Diese Richtungswechsel wirken vielleicht etwas zu gewollt, weshalb der Song ein wenig in seine Abschnitte zerfällt und ausgerechnet der elektronischste Song des Albums ein altes Prog-Schicksal erleidet.

Man Made Man startet mit einem an Nine Inch Nails oder neuere Muse erinnernden Intro und lebt vom Wechsel zwischen Tempo und Atmosphäre. This Is The Time ist dagegen zwischen Sperrigkeit und anmutender Schönheit changiert. Der mit knapp unter vier Minuten (abgesehen vom Intro) kürzeste Track des Albums ist wieder sehr persönlich, erzählt aus der Ich-Perspektive von Drogenabhängigkeit. Auch Thoughts Become Matter kann nicht auf ein Intro mit herumschwirrenden Synthies verzichten, unter dem Kopfhörer offenbart sich ein schönes Stereo-Panning, dann setzt das Schlagzeug mit einem treibenden Rythmus ein, es kommt Depeche-Mode-Feeling auf. Die Vocals bleiben währenddessen im Sprechgesang, was im Refrain melodisch aufgelöst wird.

I Will Be Waiting startet mit spärlicher, weit in den Hintergrund gesetzter Begleitung. Die wird dann in den Vordergrund gemischt und mit Piano und Verzerrungseffekten erinnert es an neuere Gary Numan Songs erinnert, bevor zur Songmitte das Schlagzeug einsetzt. Collins zeigt hier gekonnt, wie er das Wechselspiel aus Vocals mit minimalistischer Begleitung und Überwältigung durch eine Wall of Sound zu nutzen versteht, um Dynamik und Spannung in seine Songs zu bringen.

Simon Collins 2020Mit No Love folgt ein poppiger up-tempo-Song mit ausgezeichnetem drumming, das akustisch gespielt vielleicht noch beeindruckender wäre. Living In Silence ist erneut ein extrem dynamischer Song mit perkussivem Synthbass und Soundspielereien. Wiederum wird der Refrain gekonnt hymnisch in Szene gesetzt.  In 40 Years beschreibt Simon Collins seine 40jährige Reise zu Zufriedenheit und Selbstakzeptanz. Akustische und elektrische Gitarrenarbeit sorgen für Abwechslung im Arrangement. Stellenweise erinnert der Song mehr als jeder andere dieses Albums an Werke seines Vaters. Anschließend glänzt So Real mit geschmackvoller Arbeit an der elektrischen Gitarre und vermittelt Coldplay-feeling, ein potentieller Radiohit.

Das Beste hebt sich Simon Collins für den Schluss auf. Der neunminütige Longtrack Dead Ends baut eine bedrohliche, düstere Atmosphäre auf, setzt dann auf Piano und sehr zurückgenommenen Sprechgesang um das dystopische Sci-Fi Thema umzusetzen. Erst bei 3:30 erfolgt ein Ausbruch in ein Soundgewitter, in dem Collins auch beim Gesang die Leinen loslässt. Mit diesen auf dem Album ja schon mehrfach beobachteten Gegensätzen schafft er hier den größten Effekt, ein fulminantes Finale.

Simon Collins ist mit Becoming Human ein reifes Album gelungen, das Pop-Appeal und Atmosphäre zu vereinen weiß. Es bietet sowohl potentielles Hitmaterial als auch Longtracks mit genug Abwechslung und Dynamik, um den geneigten Fan proggiger Töne zu unterhalten und mit Dead Ends vielleicht das beste Stück seiner bisherigen Karriere. Die Produktion ist erstklassig, die Soundwelt und manche Effekte sind zwar sicherlich nicht jedermenschs Sache, aber allen zu Gefallen – und womöglich noch allen Fans seines Vaters – kann ja niemals das Ziel eines eigenständigen Künstlers sein.

Line-up:

Simon Collins – vocals, drums, key
Robbie Bronnimann – keys, programming, sound design
Gaz Williams – bass guitar
Kelly Avril Nordstrom – electric & acoustic guitars
Robin Boult – electric & acoustic guitars

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Quellen

https://www.loudersound.com/news/simon-collins-drug-charges-dropped
https://www.sonicperspectives.com/interviews/interview-with-simon-collins/

Autor: Siegfried Göllner