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Rocking Horse Music Club – Which Way The Wind Blows (The Music of Anthony Phillips) – Album Rezension

Das Anthony Phillips Tribute Album der Band Rocking Horse Music Club erschien im Oktober 2019. Andreas Lauer hat es analysiert.

The Music Of Anthony Phillips

Sie sind ein Kollektiv von sieben Instrumentalisten, die seit etwa neun Jahren die gemeinsame Arbeit im Rocking Horse Studio, einem Tonstudio in New Hampshire, verbindet, und drei von ihnen bezeichnen sich zudem als „songwriters“ und sind auch regelmäßig am Mikrofon (als Sänger) oder am Mischpult (als Produzent) zu finden: Der Rocking Horse Music Club brachte vor gerade mal einem guten Jahr sein erstes Album, eine Zusammenstellung von fünf dreieinhalb- bis viereinhalbminütigen Songs unter dem Titel Every Change Of Seasons, heraus (wobei die im Gospel-Stil gehaltene Single Everywhere Is Home just bei den Independent Music Awards ausgezeichnet wurde).

Die Namen der Sieben sagen auch dem gut allgemeingebildeten Musikkenner nicht unbedingt etwas. Justin Cohn ist als Singer-Songwriter in New Hampshire und Massachusetts unterwegs, Patrik Gochez mit seiner aktuellen Band Pat And The Hats. Produzent Brian Coombes jedoch, auch Eigentümer des Studios, und einige seiner „Club-Kameraden“ sind uns 2016 gleich zweimal begegnet, waren sie doch wesentlich beteiligt an der Entstehung von Anna Madsens Album Efflorescence, auf dem auch Anthony Phillips (ebenso wie GTR-Drummer Jonathan Mover) mitwirkte, und an dem Benefiz-Album Harmony For Elephants, das auch die bislang jüngste gemeinsame Komposition zweier (ehemaliger) Genesis-Mitglieder beinhaltet (und auch Dale Newman, Genesis-Faktotum und zur Zeit Anthony Phillips‘ „Gitarren-Zar“, nahm sein jüngstes, 2018 veröffentlichtes Album mit den Jungs auf).


Digipak design

Als zweites Album-Projekt, diesmal etwas umfangreicher, anspruchsvoller und zudem mit einem spannenden Live-Projekt verbunden, widmete sich der RHMC nun ab Februar 2019 einer Hommage an keinen Geringeren als Anthony Phillips. Die Wahl dieses Künstlers lag durch Brian Coombes‘ langjährige Liebe zu Ants Musik und die kürzliche Zusammenarbeit gewissermaßen nahe, war aber auch darüber hinaus eine kluge Entscheidung: Negativ formuliert könnte man sagen, Ants Musik wird häufig übersehen von jenen, die bei Genesis und den Solokarrieren nur auf die „Big Five“ blicken oder Musik nur aus Genre-Schubladen konsumieren, in die sich gerade er schwerlich einsortieren lässt. Ins Positive gewendet darf man feststellen, dass Ants Musik, und ist sie teils auch schon fünf Jahrzehnte alt, wenig Abnutzungserscheinungen zeitigt und dass ein Tributalbum wie das vorliegende die Werke, unter Connoisseurs ohnehin längst legendär, endgültig in den Rang von wahren Klassikern erhebt.

Neben dem Siebengestirn des Rocking Horse Music Clubs tummeln sich auf dem Album noch eine illustre Schar weiterer Sänger(innen) und Instrumentalist(inn)en – insgesamt sind 23 Personen zu hören, ganz abgesehen von dem Who Is Who, das jenseits des Aufnahmeraums an dem Album beteiligt war.

Die Auswahl der Stücke beschränkt sich hauptsächlich auf Ants Debüt-Album The Geese & The Ghost (4 Titel) und die songorientierten frühen Band-Alben Wise After The Eventund Sides (je 2). Dies ist nachvollziehbar, da diese Alben sich des größten Bekanntheits- und Beliebtheitsgrads erfreuen dürften und weil der RHMC als Rockband besetzt ist. The Geese & The Ghostwar zwar kein Band-Opus, ein Übergehen dieses Albums angesichts seines Rangs unter den Fans (und unter den Mitgliedern des RHMC) wäre jedoch undenkbar gewesen. Das einzige seinerzeit sogar unter dem Künstlernamen „The Anthony Phillips Band“ veröffentlichte Song-Album Invisible Men konnte sich gegen diese drei Alben hingegen nicht durchsetzen, obwohl es nicht minder geeignet gewesen wäre, und steuert nur einen Titel bei, welcher der Bonus-CD der 2017er Wiederveröffentlichung entstammt.

Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie man ein solches Albumprojekt angehen kann. Einer davon ist, durch Nutzung heutiger produktionstechnischer Möglichkeiten (Technologie, Spiel- und Gesangstechniken, Know-how …) ein im Vergleich zum Original anderes Hörerlebnis zu schaffen (vgl. Steve Hacketts Genesis Revisited II). Ein anderer ist es, hier und da eigene musikalische Ideen einzubringen oder auch das Arrangement oder gar den Stil des Stücks zu verändern, indem man bei unterschiedlichen Parametern wie Harmonik, Rhythmik, Besetzung/Klangfarben, Tempo, Dynamik etc. eingreift oder gar ganze Teile neu komponiert (vgl. Steves erstes Genesis Revisited-Album). Beide Ansätze sind auf dem vorliegenden Album Which Way The Wind Blows in von Stück zu Stück unterschiedlicher Ausprägung und miteinander kombiniert vorzufinden. (Ein Verzicht auf beide Ansätze wäre die akademische Übung gewesen, das Original detailgetreu zu kopieren, ein für den Zuhörer ermüdendes Erlebnis, auf das man hier natürlich dankenswerterweise verzichtet hat.)

Im übrigen wurde bei allen Stücken die Originaltonart beibehalten und auch an den Texten nahezu keine Veränderung vorgenommen.

Schon die ersten beiden Titel sind Beispiele dafür, wie man produktionstechnische Verbesserungen vornimmt (also vor allem den erstgenannten Ansatz verfolgt) und dass dies unterschiedlich gut gelingen kann.

Wie das Album Sides, wird die vorliegende Scheibe mit Um & Aargh eröffnet (und mit Nightmare beschlossen). Man wird leider schon beim Intro stutzig, wobei es nicht der eine Viertelschlag Pause ist, den die Band zwischen die 24. und die 25. der insgesamt 32 Viertel des Original-Intros zusätzlich einfügt, der verstört. Statt eines C-Dur-Akkords mit großer Septim, der sich schrittweise zum H7-Akkord (mit Terzvorhalt) hin verändert (um dann zur Grundtonart e-Moll hinzuleiten), bekommt man gleich zu Beginn einfach einen e-Moll-Akkord in spannungsloser Grundstellung serviert, danach als zweiten statischen Akkord den H7 mit Terzvorhalt, ohne Quinte und mit undeutlichem, zum c tendierendem H. Nun, warum ergeht sich der Rezensent hier in so haarspalterischer Fachsimpelei gleich zu Beginn eines unterm Strich doch glänzend gelungenen Albums? Weil es der allererste Höreindruck ist und dieser das weitere Hörverhalten mitbestimmt. Da sich die Umsetzung von Um & Aargh musikalisch im wesentlichen am Original orientiert, möchte das Ohr die geliebten musikalischen Wesenszüge des Originals wiederfinden, die an dieser exponierten Stelle aber leider – die ästhetischen Gründe erschließen sich nicht leicht – fehlen (man möchte „Aargh!“ ausrufen). Nach diesem verholperten Einstieg geht es jedoch tadellos weiter. Patrik Gochez bewältigt den schwierigen, weil vielsilbig-schnellen Gesang bravourös, er lässt nur gänzlich den Zorn vermissen, den man bei Ants Gesang im Original verspürt und der auch textimmanent ist. So verzichtet er auch auf den von Ant nach „shouting something obscene“ ausgestoßenen Fluch. Der Backingtrack ist, nicht nur bei diesem Song, insgesamt weicher und runder und im Hochfrequenzbereich abgemildert gegenüber dem Original. Während die Urversion mit einem Fade-out endet, hören wir hier als Schluss das schöne mehrstimmige „And it’s better … industries“ a cappella.


Band

Traumhaft schön geht es weiter mit Paperchase (ohne den Untertitel May Never Wears A Frown) von Wise After The Event. Die samtweiche und zugleich glasklare Stimme von Justin Cohn könnte nicht besser zu den Songs des 1978er Albums passen, und die Schwächen von Ants damaligem Gesang in den ruhigeren Passagen werden mehr als ausgeglichen. Das Arrangement orientiert sich vielfach liebevoll bis ins Detail am Original, hier und da aber mit modifizierten Klangfarben. So wird etwa die bei „Darkness falls on December“ aufscheinende dünne Synthesizerlinie des Originals hier durch warme Mellotronstreicher ersetzt, ein herrlicher Effekt, wie Brian Coombes an den Tasteninstrumenten gerade hier überhaupt hervorragende Arbeit leistet. Die etwas chinesisch anmutenden alternierenden Gitarrenquarten des Originals hat man hier weggelassen, was dem Lied nicht schadet, und das Outro verkürzt sich damit auch etwas.

Das wunderschöne Which Way The Wind Blowsvon The Geese & The Ghost, das dem vorliegenden Album auch seinen Titel gibt, hat man sich als nächstes vorgenommen, und wagt nun auch musikalisch einige Veränderungen. Die erste Hälfte des siebenminütigen Tracks bildet der Songteil, in der zweiten Hälfte werden dem instrumentalen Nachspiel etwas mehr Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt. Schlagzeug und Bass übernehmen die rhythmische Führung und ziehen das Tempo gegenüber der Urversion deutlich an. Gesanglich kommt der erste „special guest“ des Albums zum Einsatz: Noel McCalla, bekannt von Mike Rutherfords Smallcreep’s Day und beispielsweise von Manfred Mann’s Earth Band. Er und die Backgroundsänger(innen) machen ihre Sache ausgezeichnet, sehr schön ist wiederholt die Zeile „into the Westlands“. Wenig gelungen ist allerdings die stark veränderte neue Harmonisierung des Liedes. Ein Mollakkord in Grundstellung (d. h. Brenden Harisiades‘ Bass spielt meistens den Grundton) wechselt sich mit dem nächsten ab, und es entstehen unschöne Quintparalleleffekte. Folgt beim filigran und sehr detailreich arrangierten Original jede Harmonie aus den vorausgehenden Durchgangstönen und ist die gesamte Harmonik mozarthaft im Gleichgewicht schwebend, erscheint hier leider alles simplifiziert, plattgewalzt und nicht folgerichtig – schade (und auch das kleine Solo nach „what it ever seems“ fehlt bedauerlicherweise). Einer der Dan-Owen-Songs von Sides oder etwas von Invisible Men hätte Noel zudem vielleicht besser zu Gesicht gestanden. Teil zwei des Tracks, und hier haben wir einen gewissen stilistischen Bruch, bildet dann die Passacaglia über dem E-Es-D-Bassmotiv, das hier 27-mal ausgekostet wird (Original: zehnmal). Der nächste Sondergast, kein Geringerer als Steve Hackett, improvisiert hier wunderschön in für ihn typischer Weise, bis das Stück im Fade-out endet – nochmals schade, denn die Schlusspassage der Urversion, die dort etwas verworren wirkt und ausgeblendet wird, hätte man hier aufgreifen und schöner gestalten können.

Es geht noch ein Stückchen weiter zurück in der Zeit. Silver Song in der 1973er Urversion (also mit Blümchentext und leider ohne die zusätzlich eingefügte Bridge von Ants 1990er Version) wird von Justin Cohn gesungen – mit leichter Textvariante (die Blümchen sind nicht ganz so unterwürfig). Das Keyboardsolo am Schluss des ja sehr simplen Songs von Ant und Mike übernimmt Nick Magnus, etwas ausgedehnter (und unter Zurücknahme des Gesangs), aber ganz im Stile des Originals.


Band Rehearsals

Ein besonderes Schmankerl erwartet uns in der Mitte des Albums: Something Blue, einst als Instrumentalstück (Akustikgitarre solo) auf Dragonfly Dreams erstveröffentlicht – das von Richard Scott gesungene Demo aus den Invisible Men-Sessions erblickte erst 2017 das Licht der Öffentlichkeit. Den traurigen Text sang Scott damals mit fast herzzerreißender und (im Rückblick) an Morten Harket von A-Ha gemahnender Stimme. Hier hören wir das einzige weibliche „lead vocal“ des Albums – Evelyn Cormier war dieses Jahr Teilnehmerin von „American Idol“, der US-amerikanischen Variante von „Deutschland sucht den Superstar“, und machte im Rocking Horse Studio Aufnahmen. Gemeinsam mit Ant suchte man in seinem Fundus gezielt nach einem Song, der zu ihr passen würde. Ihre tiefe Stimme verleiht dem Album eine zusätzliche Facette, und ihre etwas eigenartige Aussprache mancher Konsonanten überhört man gerne. Anfang und Ende des Originalarrangements hat man etwas verkürzt und die Band um Cello und Trompete ergänzt – eine erfreuliche Idee, auch wenn die Integration der beiden Instrumente nicht so ganz überzeugend gelungen ist (das Cello geht leider etwas unter, die Trompete hätte man sparsamer, dafür prägnanter einsetzen sollen), vielleicht lag es am Zeitdruck des Projektes.

Obwohl Cohn den Gesang erneut brillant meistert, ist Pulling Faces, Ants Reise zum Ende des Universums, nicht ganz überzeugend gelungen. Wieder wird ohne erkennbaren Grund das Intro nicht korrekt zitiert (die gezupften Eingangstöne hat man ganz weggelassen, im Original gibt es die Kleinterzsprünge nach oben nicht, alles wirkt sehr schwerfällig), und das Tempo des gesamten Songs ist deutlich retardiert. Die flirrenden Synthesizer gegen Ende der 1978er Version sind hier durch ein nettes E-Gitarren-Solo ersetzt.

Nochmal ist The Geese & The Ghost an der Reihe, mit dem alten Zwillingspaar Collections und Sleepfall: The Geese Fly West. Ersteres wurde von Patrik Gochez arrangiert und quasi mit seinen Hats eingespielt, als Bandstück mit Bass und Drums. Das Intro ist verkürzt und abgewandelt, statt der emotionalen Streicherklänge des Originals hören wir hier ein schön ausgearbeitetes Vokalarrangement und als Sahnehäubchen Slide-Guitar von RHMC-Mitglied Myron Kibbee.

Mit Rhythmusgruppe geht es bei Sleepfall weiter. Das achttaktige Thema, das im Original fünfmal aufeinanderfolgt, hören wir nun siebenmal. Nach dem Wechsel in die Subdominanttonart geht es dann zügig dem Ende zu (ohne den Schlussteil der Erstversion), unterm Strich kommt man auf in etwa die gleiche Gesamtdauer. Hier kommt übrigens Originalflötist John Hackett erneut zum Einsatz.

War der erste Eindruck am Beginn der CD nicht ganz makellos, ist der letzte um so besser. Nightmare (bei Ant ja bekanntlich nicht „air-conditioned“) wird mit sehr sauberem Gitarrenspiel originalgetreu umgesetzt mit einigen Aufbesserungen: produktionstechnisch aufpoliert und verbessert ist der Beginn des zweiten (anfangs an Morsecodes erinnernden) Teils. Bevor Teil A wiederkehrt, wird ein Zitat des Hauptthemas mit Optigan plus Spielzeugklavier (beide auch bekannt aus Steve Hacketts Oeuvre) vorgeschaltet, was den Kenner angenehm überrascht. Was kurz danach folgt, ist einer der besten Einfälle des ganzen Albums: eine Sängerin (Ex-Miss-New-Hampshire Caroline Carter, die im Studio Aufnahmen machte) singt hohe Vokalisen über die instrumentale Musik, setzt die Stimme gleichsam als Instrument ein – eine Idee von Coombes, der einräumt, seine Pink Floyd-Einflüsse nicht ganz verhehlen zu können. Die Vokalisen setzen sich bis zum Schluss fort, im ruhigeren Schlussteil kontrapunktiert durch Saxophon-Improvisationen von Supertramp-Legende John Helliwell. Nightmare – ganz und gar kein Albtraum, sondern ein grandioser Abschluss eines insgesamt hocherfreulichen Hörerlebnisses!


Cover Variations
Wer das Cover-Artwork der Publikation erblickt, erkennt schon von weitem die deutliche Handschrift … nicht nur von Peter Cross, sondern natürlich von it-Gründer und Art Director Helmut Janisch, der schon in der Vergangenheit vergleichbare Arbeiten für Ant selbst (und andere wie beispielsweise Dale Newman) ablieferte (Kompilation Anthology, Lyric Book, The Living Room Concert). Auch hier verwendete Helmut Elemente aus verschiedensten von Peter Cross für Ant gestalteten Albumcovern (hauptsächlich, aber nicht nur von den hier vertretenen Alben) und gestaltete daraus etwas Neues, wobei es einiges zum Entdecken und zum Schmunzeln gibt. Woher die Toilettenpapierrollenwerfer kommen, konnte vor Redaktionsschluss dieser Rezension leider nicht mehr polizeilich ermittelt werden.

PS: Noch vor Erscheinen des Albums wurde bereits eine zweite Auflage in Auftrag gegeben. Aufgrund besonderer Vorschriften hinsichtlich Schriftgrößenverhältnissen bei Nennung des ausführenden und des geehrten Künstlers musste das Cover-Artwork dafür leicht verändert werden – wer findet die Unterschiede? Beachtet man, dass es von dem Werk auch noch eine Promo-Auflage im Cardsleeve gibt, so haben wir schon jetzt fast so viele verschiedene Ausgaben von diesem Album wie von The Geese & The Ghost – sammelnswert ist die liebevoll und professionell erstellte internationale Produktion allemal.

Autor: Andreas Lauer

Das Album könnt ihr als CD bei JustForKicks bestellen.
Digital ist es bei amazon und iTunes erhältlich
Mehr über Rocking Horse Music Club erfahrt ihr unter diesem Link
Informationen zum Live-Event gibt es hier.