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Richard Macphail – Private Tales & Stories (1)
Im ersten Teil seiner Erzählungen (1995 exklusiv für den Deutschen Genesis Fanclub) geht es um die Band Anon und die Zeit im Charterhouse.
(aus it-Magazin #14, März 1995)
Der Genesis-„Stammbaum“ zeigt, dass sich die Band Ende der sechziger Jahre aus zwei Schülerbands entwickelte. Eine hieß The Garden Wall, die andere Anon. Zu Anon gehörten Mike Rutherford, Anthony Phillips, Richard Macphail, Rob Tyrell und Rivers Job. Aber wie entstand Anon?
Richard: „Gleich zu Anfang, als ich nach Charterhouse kam, gab es dort eine Band, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Jedenfalls hatten sie eines Tages ihr Equipment aufgebaut, und da ich bereits verrückt nach Popmusik war, war der Anblick der Anlage, der Gitarren und des Schlagzeugs für mich phantastisch. In einer Pause sah ich mir die Sachen etwas näher an und setzte mich auch ans Schlagzeug. Es war für mich das erste Mal, und ich wollte einfach nur einmal probieren, was für ein Gefühl das war. So schlug ich ein wenig darauf herum und machte wahrscheinlich schreckliche Geräusche. Rivers Job war auch dort. Er sah mich, und wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, er habe einen Freund namens Anthony Phillips, mit dem er die Grundschule besucht habe. Rivers und ich wohnten in London und in den Ferien lud er mich ein, zu Anthony zu kommen. Die beiden wollten eine Band zusammenstellen und suchten einen Drummer dafür. Als Rivers mich am Schlagzeug sah, hatte er wohl den Eindruck, ich sei auch tatsächlich ein Drummer. Also fuhren wir zu Anthonys Elternhaus. Es war ein recht großes freistehendes Gebäude, und im Wohnzimmer waren alle Möbel beiseite geschoben worden, um Platz für das Equipment zu bekommen. Ants Mutter und Oma schunkelten zur Musik und kochten Essen für uns. Ich konnte es nicht fassen, dass Eltern so sein konnten, weil meine Eltern absolut gegen mein Interesse an Popmusik waren. Sie haßten sie sogar. Ant hatte ein sehr kleines Schlagzeug, und ich setzte mich dahinter. Sehr bald wurde klar, dass ich kein guter Schlagzeuger war, aber bei einem bestimmten Song kannte ich den Text, und so trommelte ich und sang dazu. Schnell wurde den anderen bewusst, dass ich sehr viel besser singen konnte, und so wurde ich der Sänger. Anthony hatte einen Freund namens Rob Tyrell, der Schlagzeuger war, und das war der Anfang von Anon. Wenig später kam auch Mike Rutherford dazu. Das war also eine der beiden Bands, die Genesis vorangingen.
Wir spielten Coverversionen der Yardbirds, Rolling Stones und Beatles, aber auch Popsongs wie die der Hollies und dergleichen. Wir spielten auch einige von Ants eigenen Stücken, und gegen Ende der Anon-Ära begannen er und Mike auch zusammen Material zu schreiben. Ant war sehr musikalisch und konnte die Melodien leicht nachspielen. Natürlich weiß ich heute, dass diese Songs nicht sehr kompliziert waren, aber ich war damals sehr beeindruckt. Ich selbst konnte nur ein wenig singen, wobei ich mich an Melodien stets besser erinnern konnte als an Texte. Aber zum Glück war unser Equipment damals so schlecht, dass man ohnehin den Text nicht verstand, und so genügte es eben oft, wenn ich nur den passenden Klang sang. Alle waren gute Musiker. Mike war ein exzellenter Rhythmusgitarrist. Rivers war ein phantastischer Bassspieler, und wir hatten einen wirklich guten Schlagzeuger. Für mich war es eben nur eine Band. Aber heute kann ich zurückblickend feststellen, wie talentiert jeder war.“
Das Leben der Schüler in Charterhouse lief nach festen Regeln ab, und die Jungs wohnten in verschiedenen Internatshäusern auf dem riesigen Schulgelände.
Richard: „Die Häuser waren nach den Leuten benannt, die sie gegründet hatten. Peter, Tony, Anthony und Chris Stewart wohnten zusammen in Duckites. Duckites war allerdings nur der Spitzname für dieses Haus. Der Mann, der es gründete, war ein Mr. Girdlestone. Er hatte einen witzigen Gang wie eine Ente (= Duck), und da Girdlestoneites ein sehr langes Wort ist, nannte jeder das Haus Duckites, obwohl es nicht sein offizieller Name war. Das Haus, in dem ich war, hieß Weekites, weil ein Mr. Weekes es gründete. Die Häuser standen in einer Reihe einen Hang hinab. Duckites war ganz oben, dann kam Lockites, das Mike Rutherfords Haus war, und dann Weekites.
In Charterhouse kannte man üblicherweise nur die Mitschüler auf einer ’senkrechten Achse‘, also ältere und jüngere, die im selben Internatshaus wohnten, oder man kannte diejenigen, die auf einer „waagerechten Achse“ waren, also zwar in anderen Häusern wohnten, aber gleichaltrig waren. Aber aufgrund unseres Interesses an Musik lernte man auch Leute außerhalb dieser zwei „Achsen“ kennen. Wir bekamen einiges an Equipment zusammen und fanden Lehrer, die nachsichtig genug waren, uns samstagnachmittags in den Klassenzimmern proben zu lassen. Wir bauten auf, übten und machten schreckliche Geräusche. Wir spielten meist bei Parties. Unser erster öffentlicher Auftritt war kurz vor Weihnachten 1965, anläßlich einer Art Varieté-Show in der Schule. Es spielte so etwas wie eine Jazz-Bigband, Leute führten Sketche auf und ähnliches, und wir waren der Pop-Act. Wir spielten drei Rolling Stones-Nummern, ich glaube, von deren drittem Album. Interessanterweise fehlte in dem gedruckten Programmheftchen zu der Show mein Name, weil meine Eltern versucht hatten, mir diesen öffentlichen Auftritt als Sänger zu verbieten. Ich hatte eine große Kontroverse mit ihnen darüber, und als sie letztendlich doch einwilligten, war das Programm bereits gedruckt, und mein Name fehlte darin. Nun, wir spielten diese drei Songs, und die Publikumsreaktion war erstaunlich. Wir bekamen begeisterten Applaus, was besonders schön für uns war, da auch viele ältere Jungen dort waren. Zu dieser Zeit waren wir nicht die Ältesten an der Schule, und nach diesem Auftritt zollte man uns sehr viel mehr Respekt als vorher, denn alle waren der Meinung, die Show war sehr gut.“
… weiter zu Teil 2