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Ray Wilson – Warschau 2011 – Ought To Be Unfulfilled: Stiltskin Konzertbericht
Eines der nur vier Konzerte der Unfulfillment-Tour in Polen fand in Warschau statt. Maciej Soroczyński schildert seine Eindrücke von dort.
Young Man And The Concert
Das Jahr 2011 hat uns schon eine ganze Reihe interessanter Albumveröffentlichungen gebracht. Für Ray Wilson-Fans drehte sich natürlich alles um die neue Stiltskinplatte Unfulfillment. Geschicktes Marketing brachte sie bis auf Platz 17 der polnischen Albumcharts, und in den Läden der Empik-Kette war sie das Album mit den zweitbesten Verkaufszahlen. Dieser Erfolg spiegelte sich jedoch nicht in der Anzahl der Konzerte, mit denen die CD bekannt gemacht werden sollte. Da gab es das Konzert vor der Veröffentlichung am 27.8. in Breslau und dann noch eine Mini-Tournee im Oktober mit vier Konzerten in Krakau (16.), Warschau (18.), Poznan (19.) und Leszno (20.10).
Ein Konzert in Warschau wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen, und als die Stadt auf dem Tourplan auftauchte, besorgte ich mir gleich ein Ticket. Eine großartige Sache an dem Konzert war der Spielort, nämlich das Hard Rock Café. Ich war dort zuvor schon einmal gewesen, und zwar direkt vor einem anderen Konzert von Ray in einem Empik-Geschäft in Warschau, mit dem er für die Genesis Klassik-Tour im Winter Werbung machte. Das Hard Rock Café war damals der Treffpunkt für alle Mitglieder des polnischen Ray Wilson-Fanclubs, die zum Konzert gehen wollten.
Eine richtige Überraschung war die Nachricht, dass Ali Ferguson im Vorprogramm einige Stücke von seinem Debütalbum The Windmills And The Stars spielen würde. Ich bin ein großer Fan von Ali und erinnere mich noch an die Zeiten, als ich ihn ständig nach Details von dem Album fragte und wann es nun wirklich fertig wäre. Das war ungefähr Anfang 2010 – und jetzt hatte ich Gelegenheit, einige dieser Stücke live zu hören! Kein Zweifel, die Zeit verfliegt. Als ich in der polnischen Hauptstadt ankam, freute ich mich schon richtig, die Band zum neunten Mal zu sehen. Im Hard Rock Café war es ausgesprochen voll an diesem Tag. Natürlich gab es eine Abtrennung für die, die das Konzert sehen wollten, und die anderen. Es war alles sehr durchdacht und über die Organisation lässt sich nichts Schlechtes sagen, abgesehen vielleicht davon, dass es keine Ecke für Fotografen gab. So musste ich mit meiner schweren Kamera in der Menge stehen und konnte mich dann auch kaum hin- und herbewegen.
Man sollte es kaum für möglich halten, dass Vogelgezwitscher eine lärmende, ungeduldige Menge zum Verstummen bringt, aber genau das geschah, als Ali Ferguson sowie Lawrie und Ashley Macmillan die Bühne betraten. Allen, die The Windmills And The Stars kannten, war klar, dass die Vögel und der erzählende Gesang die Einleitung zu Hidden Instruments bildeten. Und dann fing Ali an, Gitarre zu spielen. Ich war begeistert. Als Lawrie und Ashley miteinstiegen, hatte ich den Eindruck, dass es eine tolle Show werden würde. Dem folgte dann mein persönlicher Favorit vom Album. Coincidence Is No Accident war so fantastisch wie die Studiofassung. Danach gab es Flickering Golden und In Morning Sky vor der Abschlussnummer Bending Bullets, Breaking Falls. Dieses Stück war sehr reizvoll, weil seine erste Hälfte sehr ruhig und langsam ist, aber im zweiten Teil schnell und heftig wird. Ein großartiges Ende. So sollten meiner Meinung nach alle Künstler ihr Album bewerben: mit einer tollen Show. Und nicht nur mir ging es so, das ganze Publikum hatte Freude daran und genossen die Show, und Ali bekam gewaltigen Applaus.
Zwanzig Minuten später kam Ray Wilson mit seiner Band auf die Bühne und wurde vom Publikum enthusiastisch begrüßt. Sie erwiderten den Gruß mit einem der bewundernswertesten Songs, die ein Konzert eröffnen können, nämlich Bless Mevon Rays vorigem Soloalbum Propaganda Man. Das ist eins der Stücke, die einem live niemals langweilig werden. Die Konzertfassung ist viel kräftiger und aggressiver als auf dem Album. Danach von Millionairhead Another Day, über einen Freund von Ray, der sich umgebracht hat, und ein kurzer Schwenk zurück zum Album davor, diesmal zum Titelsong Propaganda Man mit einem wie üblich tollen Solo von Ali Ferguson. Das Tempo ging ein wenig herunter, als eine Reihe von Stücken akustisch gespielt wurden: Goodbye Baby Blue, First Day Of Change und Lemon Yellow Sun, alle bekannt und geschätzt von vielen Wilson-Fans. Was aber ist mit den Freunden von Rays Zeit in Genesis? Die wurden bestimmt zufriedengestellt mit zwei Stücke von Calling All Stations, Congo und dem Titelsong, bei dem Ali eine verrückte orange Fender spielte, die Steve gehört. Dann war wieder Pause mit dem harten Abrocken. More Than Just A Memory klingt viel besser als auf dem Album. Anschließend unternahm Ray einen weiteren Ausflug ins Jahr 1997 und sang Shipwrecked – gefolgt von Razorlite, einem der schönsten Lieder auf Propaganda Man. Einer der bemerkenswertesten Songs von Stiltskin darf auch nicht fehlen – gemeint ist Fly High, mit dem das Album She anfängt. Und ob nun Zufall oder Absicht, dem folgte das erste Stück vom aktuellen Stiltskin-Album Unfulfillment: Accidents Will Happen. Noch ein Stück, dass sich live noch besser anfühlt. Vom letzten Album folgte dann Voice Of Disbelief, ein Stück, das ich an und für sich überhaupt nicht mag, aber live war es so schön, dass ich meine Ansicht vielleicht ändere.
Wenn man Ray fragt, was das wichtigste Stück seiner Laufbahn sei, dürfte er wohl Change nennen. Bislang war es bei jedem Konzert in der Setliste, und so auch hier. Auf den Titelsong seines ersten Soloalbums war die Zeit gekommen, für eine weiteres Stück von Millionairhead: Sarah, noch so ein Stück, das mir nie gefallen hat. Daran hat sich hier auch nichts geändert; der darauffolgende Song dagegen war das genaue Gegenteil: Tale From A Small Town erzählt von einen jungen talentierten Frau, die ihrer Familie wegen nie ihren Traum wahrmacht, in die Stadt zu ziehen und ihre ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen. Not About Us und der Airport Song folgten. Letzteren beschrieb Ray als „den besten Song, der je geschrieben wurde“. Das war seine Meinung, die anderen in der Band widersprachen ihm. Gegen Ende der Show wurde die Musik wieder härter: Zunächst Constantly Reminded, dann ein unglaublich düsteres Guns Of God und drei Stiltskin-Klassiker in Gestalt von She, Footsteps und Inside.
Die Zugabe umfasste dann zwei Stücke von Unfulfillment, die erste Single, American Beauty, und meinen Favoriten auf dem Album, The 7th Day, ein Stück über eine rückwärts gelebte Beziehung. Ein feines Konzept, das ich vom ersten Hören an sehr anrührend fand.
Wie üblich konnte anschließend jeder von einem Mitglied der Band ein Foto, ein Gespräch oder ein Autogramm bekommen. Ali war diesmal sehr beschäftigt damit, seine CD zu signieren, denn das Album fand viele Käufer. In Warschau war es wahrscheinlich das bestverkaufte Album. Ich fragte Ali nach seinen Zukunftsplänen, und er meinte, er hätte so viele Ideen, aber nicht genug Zeit, sie auszuarbeiten. Das dürfte bedeuten, dass wir früher oder später in den Genuss eines neuen Albums kommen werden!
Zufälligerweise kam ich mit einem Journalisten vom Magazin „Teraz Rock“ ins Gespräch. Wir unterhielten uns über Rezensionen, Interviews und anderes, was Ray und die Band betraf. Teraz Rock war wohl das einzige Magazin in Polen, das Unfulfillment besprochen hat. Es ist schon seltsam: Wenn man sich das Presseecho auf Rays Seite anschaut, finden sich dort viele deutsche Besprechungen, aber nur einzelne polnische. Abgesehen davon erzählte der Journalist, dass Ray sein Lieblingssänger bei Genesis sei und Teraz Rock und Ray guten Kontakt zueinander hielten. Es war ein echtes Vergnügen, einen Journalisten zu treffen, der macht, was ihm gefällt, und der dieselben Ansichten hat wie ich. Ein schönes Ende dieses Abends.
Das erste, was mir nach dieser Show in den Sinn kam, war: „Mehr davon!“ Leider ging das nicht, denn es standen nur noch zwei Konzerte an, und beide lagen in der Arbeitswoche. Inzwischen ist die Unfulfillment-Tour 2011 in Polen offiziell beendet. Noch ist nicht bekannt, ob es in diesem Jahr noch weitere Konzerte geben wird, aber ich drücke die Daumen für Konzerte im nächsten Jahr. Hoffentlich gibt es dann insgesamt mehr Shows als 2011.
Autor und Fotos: Maciej Soroczyński, deutsch von Martin Klinkhardt