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Ray Wilson: Vier Shows in Polen – Konzertberichte 2008 – 2010
In letzter Zeit tour Ray Wilson verstärkt im Nachbarland Polen. Seine Fangemeinde dort ist in den letzten Jahren stetig gewachsen – besonders, seit Ray selbst in Polen lebt. Maciek Soroczyński berichtet von vier Shows …
Angefangen hat alles am 31. Januar 1998 in Katowice, als Genesis ihr erstes Konzert in Polen gaben. Es war ein einmaliges Erlebnis, um Genesis‘ neuestes Album Calling All Stations bekanntzumachen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass jener liebenswürdige Schotte namens Ray Wilson jemals wieder nach Polen kommen würde. Aber 2003 spielte er dann einen akustischen Gig in Warschau. Zum zweiten Mal ließ er sich von der gewaltigen Begeisterung der Fans tragen, und das war auch der Grund, warum er anfing, öfter nach Polen zu kommen. Am 16.Mai 2010 hat er bereits sein 50. Konzert in Polen gegeben.
Meine erste Gelegenheit ihn zu sehen, ergab sich in Turek, einer kleinen Stadt mitten in Polen. Ray bewarb damit sein neues Soloalbum Propaganda Man, das zu dem Zeitpunkt (November 2008) in den Läden noch nicht zu haben war. Dort habe ich zum ersten Mal Propaganda Man gehört, Cosmic Baby mit dem wunderschönen Intro von Ali Ferguson, Frequency und Rays Cover von dem David Bowie-Song Space Oddity.
Ray spielte auch ein paar ältere Stücke wie Sarah (von Millionairhead), Change vom gleichnamigen 2003er Album und auch Stücke von She: ein sommerliches Liebeslied namens Lemon Yellow Sun, ein Lied über Rays Ehefrau (Constantly Reminded), das starke Fly High und das bedrückende She. Ray kam nicht ganz ohne Genesis-Covers aus, aber das beste sollte ja noch kommen: Die Zugaben. Es war eine reine Freude, No Woman No Cry oder Knockin‘ On Heaven’s Door mit Ray mitsingen zu können. Leider war unser ungetrübtes Vergnügen bald vorbei – die zwei Stunden kamen uns wie fünfzehn Minuten vor. Da Ray sich nach dem Konzert gerne unter die Zuschauer mischt, bot sich die Gelegenheit, mit ihm zu reden oder auch ein Autogramm zu bekommen. Da war mir klar, dass ich das wieder erleben wollte …
Auf das nächste Konzert musste ich recht lange warten – bis zum 3. Dezember 2009. In der Zwischenzeit interessierte mich Rays Musik immer mehr, und bei einem Besuch auf seiner Webseite entdeckte ich die Ankündigung, dass Wilson ein neues Projekt namens Genesis Klassik auf die Beine gestellt hatte. Im Kern handelt es sich dabei um viele Genesis-Hits wie Land Of Confusion, No Son Of Mine, Follow You Follow Me, Not About Us und andere im klassischen Gewand. Die Band bestand aus dem Stiltskin-Lineup und einem Neuen, Filip Walcerz, einem talentierten Pianisten aus Poznan, dazu Rays Bruder Steve und dem Berlin Symphony Ensemble. Auf der Webseite gab es auch einiges Promomaterial, das mich verblüffte – und als ich die Tourdaten sah, wusste ich, dass ich Ray bald wieder live erleben würde. Dieses neue Projekt zu hören machte die Sache nur noch attraktiver. Noch bevor ich auf das Konzert in Zielona Gora gegangen war, kaufte ich mir auch noch eine Karte für den Auftritt in Lodz – eine Show in meiner Heimatstadt durfte ich doch nicht verpassen.
Interessanterweise fand in Zielona Gora erst das zweite Genesis Klassik-Konzert in Polen statt. Das erste war tags zuvor (am 2.12.2009) in Wroclaw gewesen. Es war für mich eine neue Erfahrung, Ray und die anderen in einer Philharmonie zu erleben, aber solange es eine Show mit klassischen Elementen ist, klingt es auch ordentlich. Sie fingen an mit No Son Of Mine, dem Stück, das für Rays Laufbahn sehr wichtig war, weil es über seine Verpflichtung als Sänger bei Genesis entschied. Obwohl das Stück von der Tonlage her zu hoch für ihn war, waren Tony Banks und Mike Rutherford verblüfft. Abgesehen von den Festivalauftritten fingen alle Konzerte auf der Calling All Stations-Tour 1997/8 mit diesem Stück an. Wenn Ray No Son Of Mine singt, ist das Stück natürlich anders als mit Phil Collins, aber immer noch ein Meisterwerk, besonders bei einer Genesis Klassik-Show. Die Geigen passen hier sehr gut ins Konzept und verleihen dem Stück gegenüber dem Original eine zusätzliche Dimension. Leider waren die klassischen Instrumente nicht die ganze Show über gut; bei manchen Stücken wie That’s All und Carpet Crawlers waren sie kaum zu hören. Eine gute Idee, die bei diesen Shows zum Einsatz kam, bestand darin, Stücke aus den Solokarrieren der Genesismitglieder zu spielen. Dadurch wurde die Setliste abwechslungsreicher und noch interessanter. Peter Gabriels Solsbury Hill und Another Day In Paradise von Phil Collins sind hier besonders zu nennen. Diese beiden Stücke passen ganz hervorragend in die Show und wurden überdies ganz fantastisch gespielt – es ist schwer, diese Stücke nicht zu mögen. Another Day in Paradise wurde im Doppelpack mit einem tollen Song von Mike + The Mechanics gespielt, nämlich Another Cup Of Coffee. Diese zwei Stücke haben mich auf dem Konzert am meisten beeindruckt. Ray spielte auch einige Stücke von seinem liebsten Genesisalbum A Trick Of The Tail und auch Change und Lemon Yellow Sun aus seinem eigenen Repertoire. Von Calling
All Stations wurde Not About Us gespielt (mit einem unglaublichen Piano-Intro von Filip Walcerz) und auch Shipwrecked. Die Zugaben waren für eine Genesis Klassik-Show etwas komisch. Sie umfassten drei Stücke, I Can’t Dance, Constantly Reminded und Inside. Haben diese Nummern irgendetwas mit Genesis zu tun? Abgesehen von dem ersten, das auf We Can’t Dance erschienen ist, glaube ich das nicht. Nach dem Konzert gab es die Gelegenheit sich mit Ray zu unterhalten oder sein Autogramm zu bekommen; das gehört für ihn ja schon dazu.
Ein Sprung: Ein weiteres Genesis Klassik-Konzert am 6.2.2010 – diesmal in Lodz. Hier hatte ich die Gelegenheit, beim Soundcheck vor dem Konzert dabei zu sein. Das bot mir einen etwas anderen Blickwinkel auf das Konzert. Ich konnte zusehen, wie die Band aufbaute, die Instrumente stimmte und dann den Soundcheck machte. Letzteres war etwas Besonderes, weil sie mit Alex einen neuen Soundtechniker hatten. Nach einigen Schwierigkeiten waren sie dann soweit. Ich war sehr gespannt, ob die Setliste von der in Zielona Gora abweichen würde. Die ersten drei Stücke (No Son Of Mine, Land Of Confusion, That’s All) waren dieselben. Von der Musik her fielen mir aber Unterschiede auf; ich hatte den Eindruck, dass sie das Material immer besser spielten – Übung macht eben den Meister. Natürlich spielten sie auch meine Lieblingsstücke Another Day In Paradise und Another Cup Of Coffee wieder. Nach der Pause (das Konzert war zweigeteilt) überraschten Ray Wilson und das Berlin Symphony Ensemble mich mit Propaganda Man, dem Titelsong von Rays aktuellem Album. Aber nicht nur das – es war eine lange Version mit einem Klaviersolo von Filip Walcerz und einem Gitarrensolo von Ali Ferguson. Ich war geradezu schockiert: Diese progressivere Darbietung des Songs machte es zu einem echten Glanzstück. Eine weitere nette Überraschung war Biko, das als zweites Stück der zweiten Hälfte gespielt wurde.
Während der Pause hatten Fans einige „Korrekturen“ an dem Blatt mit Rays Setliste vorgenommen (und Calling All Stations, Supper’s Ready, The Knife, In The Air Tonight und andere Stücke „nachgetragen“). Fröhlich kündigte Ray Lover’s Leap, bevor er es dann spielte, als „besonderen Wunsch“ an. Wer die „korrigierte“ Setliste gesehen hatte, wusste, worum es ging. Danach blieb Ray allein mit dem Cellisten Tobias Unterberg auf der Bühne und spielte Shipwrecked. Zweifellos ein großartiges Stück. Übrigens fand auf diesem Konzert ein erstes Treffen polnischer Fans von Ray Wilson aus dem Forum bei rayzone.pl statt. Ich hatte dabei die Idee, dass alle in der Pause vor den Zugaben möglichst nahe an die Bühne herankommen sollten, um den Künstlern, die uns an diesem Abend unterhielten, unsere Unterstützung zu demonstrieren. Das war ein großer Erfolg; fast das ganze Publikum stand auf und genoss I Can’t Dance, Constantly Reminded und Inside, und einige sangen die Zugaben auch kräftig mit.
Nach dem Konzert hatten wir eine besondere Überraschung (einen Kuchen und eine Glückwunschkarte) für Lawrie MacMillan, der ein paar Tage zuvor Geburtstag gehabt hatte. Es war nicht einfach, ihn herzubekommen, weil er seine Instrumente verstaute, aber als wir einfach anfingen, „Happy Birthday“ zu singen, wußte er, dass sein Typ gefragt war. Er empfing den Kuchen und die Karte (auf der alle aus dem polnischen Forum unterschrieben hatten) und nahm von allen unsere Glückwünsche entgegen. Wir baten auch die gesamte Band und das Berlin Symphony Ensemble, noch einmal auf die Bühne zu kommen, damit wir mit ihnen ein Souvenirphoto machen konnten. Das war ein tolles Konzert mit großartiger Stimmung; hinterher gab es noch reichliche Unterhaltungen von Rays Fans untereinander und mit der Band. Aber alles Gute geht schnell vorbei … Danach war mir klar, dass ich nach Rays Musik süchtig bin …
Rays Manager in Polen, Bartek, versicherte mir, dass es auch einige Ray Wilson & Stiltskin-Konzerte 2010 geben würde, aber man noch auf die Details warten müsse. Daher war ich überrascht, als meine Freundin Ewa mir schrieb, dass Ray auf dem Rock May Festival 2010 in Skierniewice spielen würde. Das Festival kannte ich nicht weiter, aber das war mir auch egal. Skierniewice liegt nur 60km von Lodz entfernt und ist gut zu erreichen, also plante ich mein viertes Konzert dort. Nach einigen Problemen kamen wir am 2.Mai dort an, trafen Bartek, bekamen Presseausweise und warteten auf die Show. Vor Rays Auftritt spielten eine ganze Reihe von Anfängerrockgruppen, deren Songs völlig ungenießbar waren. Knapp zwei Stunden vor ihrem Auftritt entdeckte ich Ali und Lawrie in der Nähe der Bühne, wie sie sie einen Auftritt ansahen. Ich sprach sie an und fragte nach Summer Days, warum sie es so selten spielten und was heute auf der Setliste stünde. Ich war neugierig auf Calling All Stations und Propaganda Man mit den großartigen Gitarren- und Klaviersoli. Ali verriet mir, dass sie beides spielen wollten und versprach, den anderen meine Frage nach Summer Days weiterzugeben. Als sie dann auf die Bühne kamen, war ich einigermaßen verwirrt. Sie mussten ihre Anlage selbst aufbauen und waren davon nicht gerade begeistert. Naja, dachte ich mir, das ist eben ein Festival, dann spielen sie nur eine Stunde und verabschieden sich dann. Da die Band ziemlich sauer war, war das gut möglich.
Wie Ali sagte, gab es keine Proben, nur einen kurzen Soundcheck, nachdem sie den Kampf gegen ihr Equipment gewonnen hatten, und dann ging’s los. Als sie mit Bless Me anfingen, fühlte ich mich, als wäre es wieder 2008, als ich Ray zum ersten Mal solo sah – das war etwas Einzigartiges. Das gesamte Konzert war toll, so hatte ich mir das erhofft; sie spielten nur ein Genesiscover (Follow You Follow Me), der Rest war eine Zusammenstellung von Rays besten Songs aus allen Alben von The Mind’s Eye (1994) bis zum aktuellen Soloalbum Propaganda Man (2008). Erwähnenswert sind eine Reihe von anderen Coverversionen, nämlich Space Oddity von David Bowie, Solsbury Hill von Peter Gabriel und One von U2 – letzteres wurde von Rays Bruder Steve gesungen. Als Zugaben bekamen wir zwei großartige Stiltskin-Nummern, einen von 1994, Sunshine And Butterflies, und einen von 2007, Fly High. Den zweiten gab es vielleicht aufgrund meiner Bitte um Summer Days – besser als nichts. Das Ende war wieder wie gewöhnlich – Knockin‘ On Heaven’s Door, No Woman No Cry und – der Airport Song!
Wie man sieht, hat sich seit 1998 vieles geändert, und zwar, das muss man auch mal sagen: zum Besseren. Die Zahl polnischer Ray Wilson-Fans ist gewachsen, so dass die Chancen steigen, dass Ray weitere Auftritte in unserem schönen Land spielt. Nach der Meldung, dass Ray ein neues Album veröffentlichen wird, kann ich es kaum erwarten, Ray im Herbst 2011 auf Tour zu erleben.
Autor und Fotos(alle vom 2.5.2010): Maciek Soroczyński
Übersetzung: Martin Klinkhardt