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Ray Wilson Unplugged – 13 Shows im Madogs (Edinburgh) 2001
Ray Wilsons Heimspiel findet jedes Jahr beim International Fringe Festival in Edinburgh statt. 2001 spielte Ray 13 ausverkaufte Shows in einer Kneipe namens Madogs. Martin Christgau war vor Ort.
Ray Wilson für drei Wochen in einer kleinen Kneipe? Willkommen im Madogs, eine lokale Kellerkneipe auf (sozusagen) historischem Grund – Ray und Steve spielen und spielten hier schon seit Ewigkeiten und genießen enormen Ruhm vor heimischem Publikum, das dann auch Abend für Abend in sichtlicher Überzahl die Räume füllt. Die Bühne ist ein bizarres Eck, durch ein nostalgisches Gitter vom restlichen Raum abgetrennt und für einen einzelnen Musiker fast schon zu klein – geschweige denn für drei Musketiere plus Anlage.
Entsprechend locker, gelöst und improvisiert ist denn auch der ganze Abend, zunächst Ray allein mit Akustikgitarre, dann ergänzt durch Bruder Steve und zuletzt mit der zauberhaften Amanda Lyon an Tasten und Co-Gesang. Tatsächlich bilden Steve und Amanda auch die heutige Inkarnation von Guaranteed Pure, die des Nachts im Madogs mehrmals die Woche die aktuellen Charts rauf und runter spielen.
Ray’s Einstieg in den Abend sind
No Son Of Mine und
Follow You Follow Me, gefolgt von
Shipwrecked – in frischen und lebhaften Versionen. Der Unplugged-Sticker wird insgesamt nie dazu missbraucht, um langsame weinerliche Lieder noch langsamer und noch weinerlicher zu spielen… tatsächlich wird es außerordentlich vielseitig und abwechslungsreich – zu Zeiten leise und fragil, wenn nötig aber auch unter Erzeugung ordentlichen Lärms.
Nach diesem ersten Genesis-Block folgen Songs in bunter Folge aller Schaffensperioden (inklusive zahlreicher neuer Lieder der jüngeren Zeit), und trotz aller Zeit- und Stil-Sprünge und -Brüche ergibt sich daraus ein sehr beeindruckender runder Bogen – was nicht wenig über seine Qualität als exzellenter Songwriter aussagt.
Durch die Stiltskin-Epoche fegt er eher zügig und spielt zusammen mit Steve
Rest In Peace und (natürlich)
Inside, dazwischen einen weiteren Genesis-Block mit frühen Gabriel-Stücken,
Lover’s Leap und ein (wiederum angenehm flottes)
Carpet Crawlers. Strenge Chronologie ist also eher nicht sein Ding, die Dramaturgie ergibt sich aus dem Bauch heraus.
Zwischen den Songs erzählt Ray diverse Räuberpistolen aus seinem bewegten Leben (und ich werde einen Teufel tun, hier die Pointen zu verraten…) – nur soviel: Wir erfahren unter anderem, was Tony auf dem Traktor und Mike nachts mit seiner Gummiente macht, und ob Phil wirklich einmal so abgebrannt war, dass er seinen Job wieder haben wollte. Unbestrittener Höhepunkt sind die Erlebnisse eines Mike & The Mechanics Roadies nackt auf Rollschuhen im nächtlichen Bangkok, und die anrührendste Geschichte handelt von dem Tag, an dem sogar Tony Banks einmal lachen musste.
Die wirklich spektakulären Songs sollen aber noch folgen, und das nicht zu knapp. Wenn es ein Lied gegeben hat, bei dem jeder jede Wette eingeht, dass er es NICHT spielt, dann war es wohl dieses:
Swing Your Bag. Nach eigener Ansage das Lied, das er von allen am meisten bereut, geschrieben zu haben – komplett aufgemöbelt mit hinreißendem neuen Doo-Wop Arrangement für Amanda & Steve und einer gnadenlosen Scat-Einlage von Ray, die Louis Armstrong noch im Grab erblassen lässt…
Ebenfalls aus frühester Zeit – aber erst heute wieder ausgegraben – das (durchaus ein wenig Phil-artige) Duett
Always In My Heart mit Amanda und eine ganze Reihe brillanter neuer Songs –
Believe (dem gerade verstorbenen Larry Adler gewidmet und mit umgehängter Mundharmonika in Dylan-Technik vorgetragen), sowie das hinreißende
Gouranga, inspiriert von einer Begegnung der abstruseren Art mit einem Hare Krishna-Aktivisten. Die Liste neuer Stücke runden die (für das heimische Edinburgh immer noch unbekannten) Cut-Titel
Sarah, Gypsy und
Another Day ab.
Die Geschichten zu den eigenen Songs sind merklich ernster.
Another Dayhandelt (auch) vom Selbstmord eines Mitschülers und -spielers seiner ersten Schüler-Punkband und datiert vom Stiltskin-Ende,
Gouranga entstand in der für ihn ähnlich depressiven Zeit nach Genesis. Zwei Höhenflüge und drei Abstürze später lässt er jedenfalls nicht die Flügel hängen, und aus den Wunden Klassiker zu schreiben, gehört zum Besten, was man nur daraus machen kann.
Über den Abend verteilt: Seine drei Lieblingslieder von Collins, Gabriel und Genesis. Von Collins
In The Air Tonight in radikal neuem Arrangement, und trotz des Verzichts auf das notorische Drum-Pattern überzeugend, kraftvoll und dynamisch gespielt. Wer auch immer (in der Post-Genesis Schuldzuweisungsdebatte) Ray gegen Phil ausspielen wollte, dem sei dieses Lied um die Ohren gehauen – Ray hat kompromisslos die Achtung und den Respekt vor jedem guten Lied und jedem großen Songschreiber – und er zeigt dies stets durch kompetente Bearbeitung im eigenen Stil, weder platt imitierend, noch zum eigenen Selbstzweck mißbrauchend.
Nummer zwei ist Peter Gabriel’s
Biko, das er als sein wichtigstes Lied verehrt und vergleichsweise gradlinig spielt, und schließlich – als Zugabe – eine absolute Killer-Version von Mama, die zeigt, was hätte sein können, wenn die Band (die nicht mehr sein wollte) ihr ganzes eigenes Material mit diesem Maß an Kreativität, Originalität und Mut in die Hände genommen hätte.
Im Eifer des Gefechts verklampft er sich dazwischen auch schon mal nach Strich und Faden, sei es, dass er das komplett falsche Intro spielt oder die halbe erste Strophe in der falschen Tonlage – und schwer zu sagen, wer dabei den größeren Spaß hatte: er, wir, oder Steve, der dazu im Hintergrund brüderlich freundschaftliche Grimassen und Fingergesten beisteuert.
Zu guter Letzt, und damit die Mischung abwechslungsreich bleibt, hagelt es dann auch noch die absonderlichsten Cover-Versionen – regelmäßig Dylan’s
Forever Young mit Amanda (eines seiner Lieblingslieder), sporadisch und überfallartig aber auch eher Abwegiges von den Eagles, Bruce Springsteen, und wenn dem Meister danach ist, kickt er auch schon mal
No Son Of Mine für Floyd’s
Wish You Were Here – weil Pink Floyd sowieso die wichtigere Prog-Band wäre, und überhaupt – das haut die stärkste Frauenbewegung aus den Sandaletten – „Meine Gitarre gehört mir!“ 🙂
Autor: Martin Christgau