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Ray Wilson – Time & Distance (live) – 2CD Rezension
Anfang 2017 kündigte Ray Wilson ein weiteres Live-Album an, aufgenommen während drei Shows Ende 2016 und Anfang 2017. Im Herbst 2017 ist das Album auch im Handel erhältlich. Christian Gerhardts fasst die Werkschau zusammen.
Seit Jahren tourt er beständig durch Europa, insbesondere durch Deutschland und Polen. Wer ein Konzert von Ray Wilson sehen möchte, hat dafür oft Gelegenheit. Viele Formate bietet er an, jedoch ist es meist ein Mix aus Genesis-Klassikern und Solo-Songs. Zuletzt veröffentlichte Ray mit Song For A Friend und Makes Me Think Of Home gleich zwei Studioalbum im Jahr 2016 und präsentierte in der Folge aus beiden Werken zahlreiche Songs.
Dazu reifte die Idee, anlässlich des bevorstehenden 20jährigen Jubiläums des Genesis-Albums Calling All Stations weitere Songs davon in den Set aufzunehmen – vor allem solche, die er bisher selten oder noch gar nicht gespielt hat. In diese Zeit fallen auch die Aufnahmen für das nun vorliegende Live-Doppelalbum Time & Distance, das ab 29.09.2017 im Handel erhältlich ist (zuvor wird es bereits in Rays Online-Shop angeboten).
Time & Distance kommt in einem Digibook, ähnlich wie schon die Studioalben des letzten Jahres. Dazu gibt es ein Booklet mit zahlreichen Fotos der Shows. Schnell drängt sich die Frage auf, ob Time & Distance gegenüber dem erst vor drei Jahren erschienenen 20 Years And More Set einen Mehrwert bietet. Time & Distance ist ein reines Live-Album, es enthält keinen Konzertfilm wie seinerzeit 20 Years And More, und Ray hat eine Aufteilung auf zwei CDs gewählt. Die erste Disc enthält Songs aus der Genesis-Familie. Dabei gibt es ein paar Überscheidungen: Congo, Mama, Ripples, Calling All Stations und Carpet Crawlers finden wir auf der neuen und der alten Veröffentlichung. Neu sind hingegen The Dividing Line, was gleichzeitig auch die größte Überraschung sein dürfte – und wohlmöglich auch die Erfüllung eines lange gehegten Fan-Wunsches. Dazu kommen Home By The Sea (nur den Song-Teil), Entangled, Follow You Follow Me, eine Band-Version von Not About Us sowie In Your Eyesvon Peter Gabriel und Another Cup Of Coffeevon Mike + The Mechanics.
Die zweite Disc enthält ausschließlich Songs aus der Solokarriere und den anderen Projekten abseits von Genesis. Und hier gibt es tatsächlich nur eine Überschneidung: Another Day des Cut-Albums Millionairhead. Für die Konzerte gräbt Ray zwei Fan-Favoriten wieder aus: Die Ballade Alone(vom Album The Next Best Thing) sowie Propaganda Man, das vor allem live immer wieder gut ankam. Dazu gibt es Bless Me von Propaganda Man und First Day Of Change sowie Ought To Be Resting von Unfulfillment. Die anderen Songs sind von seinen beiden letzten Alben: Song For A Friend, Old Book On The Shelf und Not Long Till Springtime von Song For A Friend sowie Calvin & Hobbes und Makes Me Think Of Home vom Album Makes Me Think Of Home. Dazu kommt Take It Slow von Chasing Rainbows.
Also gibt es durchaus einen Mehrwert – basierend auf der reinen Tracklist. Dazu ist das Album schön aufgemacht und somit eben auch ein gutes Dokument seiner aktuellen Konzerte. Musikalisch hat er sich hier und da wieder weiterentwickelt. Take It Slow klingt sehr gut und flüssiger als zu Beginn. Ought To Be Resting ist ein echter Live-Kracher geworden. Und mit The Dividing Line hat er endlich DEN Song von Calling All Stations ausgepackt, der überfällig war. Das Ganze gibt es mehr oder weniger in der Guitar-Battle-Version der 98er Genesis-Tour und es klingt sehr gut. Die Nummer hat großes Potenzial, viel Freiraum zu bieten um so eben jeden Abend anders zu klingen. The Dividing Line ist wohl der Song des letzten Genesis-Albums, der die Möglichkeiten dieser Formation am meisten andeutete. Home By The Sea war einer der absoluten Live-Dauerbrenner von Genesis und wurde auch auf der 98er Tour gespielt. Anders als seinerzeit verzichtet Ray aber auf den instrumentalen Mittelteil und spielt das Stück als knackigen Rocksong. Das geht in Ordnung, aber natürlich hätte man gern das Instrumental auch gehört. Follow You Follow Me und Not About Us werden von der ganzen Band begleitet – das gab es bei den beiden Songs auch eher selten im Programm von Ray. In Your Eyes und Another Cup Of Coffee machen zwar Laune, sind aber insgesamt doch eher verzichtbar. Dafür ist Congo immer mehr ein Highlight seiner Shows.
Beim Solomaterial stechen Alone und Propaganda Man als Wiederentdeckungen hervor. Gerade Propaganda Man, das in der Albumversion irgendwie unbeholfen wirkt (als hätte Ray nicht gewusst, wie er das umsetzen soll) gewinnt live ungemein an Qualität – dazu kommt ein tolles Solo von Ali Ferguson. Auch bei Take It Slow hat die Band nun mehr Routine, aber auch mehr Spielfreude. Das Stück ist ebenfalls gewachsen. Ähnlich wie auf dem Album imponiert Makes Me Think Of Home auch in der Live-Version. „Ray Wilson kann ja Prog“ sagte jemand beim Konzert auf der Loreley (Night Of The Prog Festival) – und in der Tat: Diese Mischung stimmt und somit ist Makes Me Think Of Home der erste Prog-Longsong von Ray Wilson. Bezüglich der weiteren neuen Songs kann man sich darüber streiten, ob Calvin & Hobbes sowie Not Long Till Springtime die beste Wahl waren. Der Autor meint: nein, denn viele andere Songs der beiden neuen Album sind deutlich spannender und hätten sicher auch einen Platz auf dem Livealbum verdient gehabt. Doch Ray hat zu beiden Songs eine besondere Beziehung und so ist die Wahl auch nachvollziehbar. Unbestritten ist allerdings, dass Song For A Friend auf das Album gehört. Es dürfte einer der wichtigsten Songs von Ray der letzten Jahre sein.
Mit Bless Me und First Day Of Change schließt das Album mit soliden und edel arrangierten Stücken. Time & Distance ist somit eine insgesamt runde Sache mit einigen Highlights – und auch eine perfekte Ergänzung zu 20 Years And More.
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Autor: Christian Gerhardts