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Ray Wilson – LIVE: Stiltskin + Genesis Classic vs Dresden – Bestandsaufnahme
2010 und 2011 präsentierte Ray Wilson sein Genesis Classic Programm in unterschiedlichen Formaten. Außerdem war er im Sommer 2011 mit seiner Band Stiltskin zu Tourproben in der Stadt, dazu spielten Stiltskin im Oktober 2011 in der Tante Ju. Christian Gerhardts reflektiert die Auftritte im Gesamtkontext.
Dresden gilt als eine der schönsten Städte Deutschlands. Für Genesis-Fans war die Stadt nie eine Hochburg. The Musical Box spielten ein Mal hier, dazu kommt das denkwürdige Konzert von Peter Gabriel 2007 in der Jungen Garde. Im nächsten Jahr kommen Mike + The Mechanics in den Alten Schlachthof. Ray Wilson hat schon oft in der Gegend gespielt, vor allem in Pirna und manchmal auch in Dresden selbst. Und wenn, dann waren es kostenlose Auftritte wie beim Stadtfest vor der Frauenkirche 2005, eher schlechter besuchte Konzerte in Clubs mit solch faszinierenden Namen wie Titty Twister oder Bärenzwinger oder etwa bemerkenswerte Gastspiele beim hiesigen Fußballverein. Und mal abgesehen von den lustigen Namen der ganzen Locations: Ray Wilson kriegte in Dresden doch noch die Kurve. Aber was war passiert?
2010 war in dieser Hinsicht ein denkwürdiges Jahr. Seit einiger Zeit tourte Ray Wilson mit dem Berlin Symphony Ensemble mit seinem Genesis Classic-Programm. Am 21.08.2010 gab Ray uns nicht nur ein ausführliches Interview, sondern spielte auch im Rahmen des Dresdner Stadtfestes ein Konzert vor einer denkwürdigen Kulisse am Theaterplatz vor mehreren tausend Leuten.
Der 21.8. war ein warmer Sommertag im Jahr 2010. Ray Wilson sitzt relaxt beim it-Interview im Mercure Hotel und berichtet von seinen Projekten. Er wirkt mit sich im Reinen, obwohl ihm die halbe Welt unterstellt, dass er Genesis Classic gar nicht machen will, wenn er nicht müsste. Doch Wilson stellt klar, dass diese Band endlich das Niveau hat, das er immer wollte und diese Genesis Classic Shows die besten sind, die er je gemacht hat. Gleichzeitig ist er stolz auf das, was kommt: Ein neues Stiltskin Album war in der Mache und Ray zeigte sich äußerst zufrieden mit dem Stand der Dinge. Das gesamte Interview ist unter diesem Link zu finden.
Später am Abend, es dämmerte bereits, betraten Ray, seine Band und das Berlin Symphony Ensemble, die große Bühne des Theaterplatzes mit einem wuchtigen Turn It On Again. Ray war sichtlich angetan von der Kulisse – „what a view, what a place“ – und an die 10.000 Zuschauer lauschten Ray und seinen Musikern, die einen leicht verkürzten Set darboten. Mit That’s All brachte Ray die Menge zum feiern. Das Publikum bestand angesichts des freien Eintritts natürlich nicht nur aus Fans von Genesis oder Ray Wilson, aber das raunende Jubeln, das bei der Ankündigung von Carpet Crawlers durch die Menge ging, war schon bemerkenswert. Und plötzlich war das wieder da – Congo. Nie wolle er es spielen, sagte Ray einst, er hasse Congo. Und nun spielt er es doch, in einer fast schon rotzigen Version. Wilson steht pfeifend an einer Konga und die Band spielt sogar das vollständige Intro des Songs. Die Menge tobt und Wilson fühlt sich wohl, mal wieder vor einem größeren Publikum zu spielen. Folgende Songs wurden gespielt:
Turn It On Again
That’s All
Carpet Crawlers
Congo
Another Day in Paradise
Constantly Reminded
Another Cup of Coffee
Jesus He Knows Me
Calling All Stations
Ripples
No Son of Mine
Follow You, Follow Me
Land of Confusion
I Can’t Dance
Solsbury Hill
Bemerkenswert war die kraftstrotzende Version von Calling All Stations, dazu Ripples mit einem grandiosen Instrumentalteil, in dem sich sowohl die Streicher, als auch Lead-Gitarrist Ali Ferguson austoben durften. Schließlich war das Finale der Show schon auf Grund des Bekanntheitsgrades der Songs ein Stimmungsknüller. Insgesamt 8 Streicher waren auf der Bühne, 4 mehr als sonst bei Genesis Classic Shows. Dazu kommen Steve Wilson (Gitarre), Ali Ferguson (Gitarre), Filip Walcerz (Keyboards), Lawrie MacMillan (Bass) sowie Ashley MacMillan (Drums). Bereits während des Konzerts machte Ray auf den nächsten Auftritt in Dresden aufmerksam: Am 5. April 2011 werde man mit dem vollständigen Genesis Classic Programm wieder nach Dresden kommen – für einen Auftritt im altehrwürdigen Kulturpalast.
Für viele ist Genesis Classic ein zwiespältiges Programm. Es hat durchaus die Aura einer Coverband-Geschichte, auch wenn Ray teilweise eigene Songs interpretiert. Unter den Fans seiner Musik ist der Wunsch weit verbreitet, er möge ein größeres Gewicht auf seine Soloalben und Stiltskin legen. Ray aber hatte irgendwann seinen Frieden mit seiner Genesis-Vergangenheit gemacht, die zeitweise durchaus eine Belastung gewesen ist. Außerdem war diese Art Show auch eine gute Gelegenheit, seine Band weiterzuentwickeln. Und so spielt er seine Genesis Classic Shows, weil sie ihm Spaß machen, weil sie die Band fordern und weil sie erfolgreich ist. Manchmal ist alles eben doch sehr einfach zu erklären.
Im Dezember folgte eine weitere denkwürdige Veranstaltung, jedoch aus einem völlig anderen Grund. Im Hilton-Hotel versammelte Rays Management die hiesigen Pressevertreter zu einer Event-Pressekonferenz, um den Auftritt im Kulturpalast zu promoten. Alle Journalisten mussten gemeinsam mit Ray Wilson und dem Koch der Küche im Hilton Hotel kochen. Während dessen konnten Fragen gestellt werden. Und es ist irgendwie ein Treppenwitz, dass es ausgerechnet Reh gab. Zu der Veranstaltung „Reh Wilson“ in Dresden gibt es eine Newsmeldung unter diesem Link.
Den Januar und Februar 2011 nutzte Ray für Aufnahmen seines neuen Stiltskin-Albums, zuvor wurde kurz vor Weihnachten eine Genesis Classic Show in Poznan für eine mögliche DVD aufgenommen. Im Frühjahr schließlich war Ray mit seinem Genesis Classic Programm wieder in Deutschland unterwegs – und im Dresdner Kulturpalast gab es eine Premiere zu feiern. Im Rahmen der „normalen“ Genesis Classic Show stellte er ein abgespecktes Format vor – das Genesis Classic Quartet. Die über 1000 Zuschauer bekamen eine erstklassige Show zu sehen und eine Band, die sich einmal mehr verbessert hat. Die Bühne war um einiges größer als bei vergleichbaren Wilson-Konzerten. Der Sound war brillant und man konnte es förmlich merken: Ray Wilson war angekommen oder zumindest in der Nähe des musikalischen Niveaus, das er immer gefordert hatte – von seiner Band, aber vor allem von sich selbst. Trotzdem – oder gerade deswegen – bewahrte er sich diese Unruhe, die ihn antreibt, weiterzumachen und sich weiterzuentwickeln. Das gelingt nicht immer fehlerfrei und auch nicht ohne Konsequenzen. Seine Genesis Classic Shows wurden perfekt, aber eben auch zu perfekt. Zu lange schon spielt er einen ähnlichen Set und natürlich missfiel das dem Fankern, der naturgemäß viele Konzerte besuchte. Im Kulturpalast spielte Ray:
Turn it on again
That’s all
Carpet Crawlers
Congo
Another day in paradise
Constantly reminded
Another cup of coffee
Jesus he knows me
Calling all Stations
In The Air Tonight (Ray solo)
Invisible Touch (Genesis Quartett, Ray, Filip, Alicia & Basia)
Mama (Genesis Quartett, Ray, Filip, Alicia & Basia)
Ripples
No Son Of Mine
The Lamb Lies Down On Broadway
Follow You Follow Me
Change
Not About Us
Land Of Confusion
I Can’t Dance
Solsbury Hill (Band + Alicia & Basia)
Inside (Band + Alicia & Basia)
Es mag merkwürdig klingen, aber es waren Change und vor allem Constantly Reminded, die Eindruck machten. Dazu Carpet Crawlers, denn dies ist einfach eine grandiose Version. Und natürllich das Duo Congo sowie das kraftvolle Calling All Stations. Es gibt zwischendurch immer mal wieder Szenenapplaus, vor allem bei Ripples nach einem grandiosen Solo von Ali Ferguson. Nach der Show ist klar: Viel besser kann Ray mit dieser Show nicht werden. Er muss wieder mehr variieren, neues ausprobieren, mutiger sein. Wie in seinen Anfangstagen eine flexible Setlist bereithalten, das unerwartete tun. Bei all der muskialischen Weiterentwicklung kann man nicht leugnen, dass die Songauswahl berechenbar auf Sicherheit ausgerichtet ist. Er sprach immer wieder von The Dividing Line, Domino, sogar One Man’s Fool – bisher baute er dafür aber seinen Set nicht um. Auch das Genesis Classic Quartet ist nur eine Ergänzung, eigentlich auch eher als eine kosten- und platzsparende Variante der großen Genesis Classic Show zu sehen. Und so viel Sicherheit und Risikoarmut passt nicht zu dem Ray Wilson, der 2006 eine Stiltskin-Tour machte und auf Genesis-Songs vollständig verzichtete …
Stiltskin – da war doch was. Früh legte er sich fest, dass sein 2011er Album wieder ein Stiltskin-Album sein würde. Die Arbeiten daran waren am Ende doch erst Anfang August 2011 abgeschlossen. Ray holte sich wieder Peter Hoff und Uwe Metzler ins Team. Dazu kam seine Band, aber Nir Z. war fortan nicht mehr dabei. Kaum war das Album fertig gemischt, tauchte die Band wieder in Dresden auf. Dieses Mal für die Proben zur neuen Stiltskin-Tournee. Das wurde auch Zeit – hatte Ray doch in letzter Zeit eher wenige Stiltskin Shows gespielt. Die Proben fanden zu Beginn in den Räumlichkeiten einer hiesigen Tanzschule statt, später zog man in den Club Pushkin um, der direkt neben dem Alten Schlachthof im Ortsteil Pieschen liegt. Der Club war für die Proben sicher angemessen. Ohne großartige Lightshow versuchte die Band vor allem, die neuen Songs feinabzustimmen. Und schon von draußen hörte man, dass die Live-Präsentation deutlich kraftvoller wirkte. Accidents Will Happen, More Than Just A Memory und vor allem Guns Of God und American Beauty wurden bis zum Exzess geprobt und Ray griff nur selten zum Mikro. Die Gitarre rechts bitte lauter, weniger Hall, die Soundeinspielungen müssen besser hörbar sein – es wurde an allen Ecken und Enden geschraubt. Später erklärte Ray, dass dies nun wichtig sei, es müsse gut klingen.
Früher ging Ray einfach auf die Bühne und spielte drauf los, heute probt er jeden einzelnen Ton, bis er gut klingt. Allein die Akribie, die während der Feinabstimmung von Alis und Uwes Gitarren bei American Beauty an den Tag gelegt wurde, wäre einen eigenen Artikel wert. Und nun, so Ray, gibt es allenfalls noch Genesis-Songs von Calling All Stations im Stiltskin-Set – sonst keine Genesis-Songs, aber dazu etwa 8 neue Songs des Albums Unfulfillment.
Im Interview am 11. August im Club Pushkin erzählt Ray von der Marketing Kampagne seines neuen Albums. Nicht First Day Of Change, wie zunächst geplant, sondern das deutlich radiotauglichere American Beauty wurde die erste Single des neuen Albums und erhielt bereits erstaunlich viel Airplay. Und dann sagte Ray etwas, das man lange nicht mehr von ihm hörte: „Ja, ich will in die Charts“.
Es wird ein Boxset geschnürt, das mit einem einmaligen Preis-Leistungs-Angebot dieses Ziel erreichen soll. Er nennt das Set Genesis vs. Stiltskin und liefert damit die Steilvorlage für diese Bestandsaufnahme. Auch anderswo, aber vor allem in Dresden ist es eine Art Kampf der künstlerischen Ausrichtungen. Wer sein neues Stiltskin-Album kaufen will, „muss“ gleich den Genesis Classic Digipak (2CD/DVD) mitkaufen – und umgekehrt. So zwingt Ray die Fans geradzu, sich mit beiden Projekten zu beschäftigen. Einen großen Aufschrei gab es deswegen nicht, denn das Set war am Ende für unter 20 EUR erhältlich. Übrigens erreiche Genesis vs. Stiltskin Platz 21 in den Albumcharts – die höchste Chartnotierung des Solisten Ray Wilson.
Der vorläufige Höhepunkt des Dresdner Schaukampfs um Genesis Classic und Stiltskin fand im Oktober im Club Tante Ju statt. Ray Wilson spielte dort eine Stiltskin Show. Rein zahlenmäßig konnte das Konzert kaum mit Genesis Classic im Kulturpalast oder gar auf dem Theaterplatz mithalten. Knapp 300 Zuschauer kamen zur Stiltskin-Show. Doch anders als bei Genesis Classic gab es Ray Wilson in Reinform, ohne Konzeptkorsett oder Zwänge, ein ganzer Set nur mit Wilson-Songs. In der Tante Ju spielte die Band folgende Songs:
Bless Me
Another Day
Propaganda Man
Goodbye Baby Blue
First Day Of Change
Lemon Yellow Sun
Congo
Calling All Stations
More Than Just A Memory
Shipwrecked
Razorlite
Fly High
Accidents Will Happen
Voice Of Disbelief
Change
Sarah
Tale From A Small Town
Not About Us
Airport Song
Constantly Reminded
Guns Of God
Footsteps
Inside
American Beauty
The 7th Day
Der ein oder andere Song, wie etwa Sarah oder auch Razorlite, ist bei Wilson Soloshows schon ziemlich totgespielt worden, dagegen klang das ebenso häufig gespielte Goodbye Baby Blue erstaunlich frisch. Trotzdem hätte man sich auch hier mehr Mut zum Risiko gewünscht. Ein paar Stiltskin-Songs mehr (Rest In Peace, Scared Of A Ghost, Wake Up Your Mind, Taking Time, Show Me The Way) hätten der Show gut zu Gesicht gestanden, das Fehlen von Ought To Be Resting vom neuen Album ist ebenfalls etwas mysteriös. Dennoch war die Show eine runde Sache, energiegeladen, zwischendurch auch etwas nachdenklich. Ray war bestens bei Stimme und die Band perfekt eingespielt. Uwe Metzler war mehr als nur eine Ergänzung, er hebte die Band gewissermaßen vom Genesis Classic Stil ab..
Dresden tat sich lange schwer mit Ray. Doch seit dem denkwürdigen Stadtfest-Auftritt 2010 hat sich das geändert. Das dürfte auch für manch andere Stadt zutreffen. Der Gewinner des Duells Genesis Classic / Stiltskin ist Ray selbst. Noch nie war er auf der Bühne und im Studio so gut und doch lässt er sich immer Luft nach oben, will immer wieder etwas verbessern. Die Fans auf der anderen Seite wünschen sich wieder etwas mehr Spontanität und weniger statische Setlists. Auf diesem musikalischen Niveau, das Ray nun erreicht hat, sollte er genug Sicherheit vorfinden, um auch mal wieder das überraschende oder unmögliche zu tun. Es wird spannend sein zu sehen, welchen Weg Ray einschlagen wird, ob er irgendwann wieder etwas völlig neues macht – so lange er seinem Motto treu bleibt „stay inspired and always unfulfilled“ dürfte die innere Unruhe ihn immer antreiben – und die Fans dürften immer genug Gründe finden, ihn zu kritisieren. So wird niemand satt – denn genau davor hat Ray Angst: Eines Tages so zufrieden zu sein, weil man alles erreicht hat und keine Ideen mehr braucht. Diese Gefahr besteht vorläufig nicht. Seine Projekte werden besser, aber es gibt noch genug Luft nach oben. Bei Genesis Classic hoffen wir auf neue Songs und Gastauftritte mit Steve Hackett. Bei Stiltskin auf mehr Variabilität bei der Songauswahl. Wie wäre es mit No Place For A Loser?
Autor: Christian Gerhardts
Fotos: Andreas Weihs, Petra Buttmann, Christian Gerhardts
Diskutiert über das Zusammenspiel, die Unterschiede und Ray Wilsons Entwicklung in diesem Thread im it-Forum