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Ray Wilson – Cut_: Millionairhead – Rezension

Nach der Calling All Stations-Tour widmete sich Ray Wilson seinem Soloprojekt. Er nannte seine Band Cut_. Mit dabei: Nir Zydkiahu, der schon bei Genesis an den Drums saß. Das Album Millionairhead erschien im Frühjahr 1999.

Ginge man in der großen Villa Musik auf die Suche nach Cut, so würde man sie wohl in Räumen mit Aufschriften wie „Grunge“,“Crossover“ oder „Independent-Rock“ auffinden (ohne Cuts Musik damit völlig zu erfassen). Dort träfe man auf Bands wie Garbage, No Doubt, Liquido (Narcotic), Pearl Jam, Live, Radiohead oder Jeff Buckley (die letzten vier bezeichnet Ray Wilson als seine Haupteinflüsse).

Cut ist eine weitere Gruppe, die auf Bandfotos tunlichst jegliches Lächeln vermeidend wichtig, ernst, frustriert, mimikarm, unfröhlich und düster dreinschaut, als würde man kritische Glaubwürdigkeit nur mit dieser Ausschnitthaftigkeit des menschlichen Daseins erreichen. Die Cut-Musik spricht wohl auch in erster Linie die mittlerweile teilweise bereits der Jugend entschlüpften Kids der sogenannten „Generation. an, deren Lebensgefühl eine Mischung aus Perspektivlosigkeit, Tristesse, Deprimiertsein, Ausweglosigkeit und Lethargie ist. Wen wundert’s ob der vielerorts grassierenden Kälte und Lieblosigkeit in unserer ach so zivilisierten Zivilisation?

Zurück zur Musik: Man würde Cut unrecht tun, würde man ihnen bloßen „Fähnchen in den Wind“-Zeitgeistkonformismus anhängen. Sie stehen zwar in der Tradition der oben genannten jugend(sub)kulturellen Musikstile, doch Millionairhead ist ein sehr reifes, erwachsenes Album, dessen sensible, zerbrechliche, bizarre, mal verhaltene, mal heftige, häufig düster-depressive, dann wieder kraftvolle Songs, die größtenteils aus der Feder von Genesis-Newcomer Ray Wilson stammen, mit sehr stilvollen und ungewöhnlichen Arrangement- und Dynamikmitteln umgesetzt werden. Insgesamt sind die Cut-Songs, die sich allesamt im mittleren Tempobereich bewegen, melodiöser als das Stiltskin-Material. Die Musik klingt wie eine Verquickung aus Stiltskin und Genesis. Wilsons Stimme klingt auf Millionairhead teilweise ganz anders als auf Calling All Stations, erweist sich als sehr wandelbar und vielschichtig. Von zwanzig Stücken, die bis Sommer 1996 geschrieben wurden, erblickten bislang einschließlich CD-Single-Bonus-Track dreizehn das Licht der öffentlichen Welt – eine verspätete Geburt, da Ray Wilson wegen seines unvorhergesehenen Einstiegs bei Genesis alle Pläne mit Cut zunächst auf Eis legte.

CoverDas Line-up der Band Cut, die seit Sommer 1995 besteht, ist nahezu identisch mit Guaranteed Pure, der Band, in der Ray Wilson vor Stiltskin und Genesis mitwirkte: Rays Bruder Steve (Gitarre), Wahl-Norweger Paul Holmes (Tasteninstrumente) und John Haimes (Bass). Neu an Bord ist Genesis-Schlagzeuger Nir Zidkyahu! Cut hinken mit Millionairhead dem Trend möglicherweise ein paar Jahre hinterher, aber das ist völlig schnurz. Irgendein kluger Kopf sagte einmal: „Moden sind eingeführte Epidemien“ – dem ist nur hinzuzufügen: Wohl dem, der sich nicht von Trends gängeln lässt und zeitlos sein eigenes „Ding“ macht! Das von Ray Wilson selbst produzierte und von Nick Davis auf der Fisher Lane Farm abgemischte Album ist mitnichten eine Partyplatte und sicherlich auch nicht in jeder Stimmungs- und Lebenslage genießbar, aber man schiebt sie nach dem Hörgenuss mit der Gewissheit ins CD-Regal zurück, ein sehr interessantes Album zu besitzen, das man immer mal wieder herausholen wird. Auf Genesis bezogen erhöht Millionairhead die Spannung: Wie wird es wohl klingen, wenn Banks, Rutherford und Wilson ihre erste wirklich gemeinsame CD herausbringen?

Die Songs

Jigsaw

Ein toller Opener! Den luftig arrangierten, verspielt-zärtlich-kernig-soften Strophen stehen heftige Passagen gegenüber. Komplettiert wird der Song durch ein rotziges Gitarrensolo und einen kraftvollen, bombastischen Schluss.

Sarah

Auch in dieser typischen „Indie-Rock- Nummer“ stehen harte, von einem Achtel-Bass unterstützte Gitarrenklänge im Kontrast zu verhaltenen, teilweise ungewöhnlichen Parts. Ray Wilson: „Sarah ist Schauspielerin oder Rockstar, eine Frau, die du gerne treffen würdest, doch du weißt, dass du sie niemals treffen wirst und nie mit ihr zusammen sein wirst.“

Another Day

…war ursprünglich für ein zweites Stiltskin-Album geplant. Ein leicht folkiger Song, der ob seiner Ohrwurm-Refrainhookline als Single-Auskopplung prädestiniert war. Ray Wilson: „Another Day handelt von meinem Befinden seinerzeit, gleichzeitig aber auch von einem ehemaligen Schulfreund, der Selbstmord begangen hat.“ Trotz dieser Thematik ist Another Day durch seine Dur-Harmonik und von seiner Atmosphäre eher der positivste Song auf Millionairhead.

Hey, Hey

Auffallend und interessant ist das melodische Drumming in den Strophen, später ergänzt durch ein Mellotron. Schwebende Refrains, ein zurückhaltender Klavierpart, ein rockiger Mittelteil mit überraschender Wendung und ein Genesis-tauglicher, epischer Schluss, der wieder ganz ruhig endet, komplettieren diesen abwechslungsreichen Song.

Millionairhead

Der rockig-treibende Stiltskin-ähnliche Titelsong beschreibt auf ironische Art einen Disput, den Ray Wilson mit Stiltskin-Gitarrist Peter Lawlor hatte. Geht frontal los, geht frontal weiter, hört frontal auf.

Shoot The Moon

Die Akustik-Gitarre im Intro und in den Strophen weckt Assoziationen zu Mike Rutherford. Der wunderschöne, wehmütig-romantische Refrain leitet nach dem zweiten Mal zu einem hohen Gesangspart über, bei dem sich eine Frage stellt: Wer singt hier? Es schließt sich ein Procol-Harum (A Whiter Shade Of Pale)-artiges Sixties-Hammondorgel-Solo inklusive Mellotron an.

Young Ones

… schließt sich nahtlos an Shoot The Moon an: Verhaltene Strophen, dichte Refrains mit Genesis-Format (eine Mischung aus Not About Us und Uncertain Weather), interessante Drum-Sounds, witziges Synthesizer-Honky-Tonk-Barpiano im Mittelteil und ein ruhiger Teil mit einem herausragenden Flügel-Solo und Soundeffekten (Schulhof?) im Hintergrund.

No Place For A Loser

… unterscheidet sich von den anderen Songs vor allem dadurch, dass er durchgehend sehr füllig arrangiert ist und, lediglich durch ein Schlagzeugbreak vor dem Mittelteil unterbrochen, sehr gleichmäßig und geradlinig fließt. Ungewöhnlich klingt die erste Harmonieverbindung (G-Dur/Es-Dur) im Refrain.

Space Oddity

… klingt sehr ähnlich wie das Original. Ray Wilson: „David Bowie war der erste Musiker, dem ich bewusst zuhörte. Er ist der Grund, weshalb ich überhaupt anfing, Musik zu machen.“

I Hear You Calling

Im Telegrammstil: Schrilles Gitarren-Intro, Achtel-Bass, effektverfremdeter Gesang, wenig Keyboards, straightes Rockstück, hat was von Anything Now, CD-Single-B-Seite.

Gypsy

Die sachten Gitarrenklänge zu Beginn werden bald unterstützt durch eine warme Orgel. Der großartige Refrain erinnert an irgend etwas von The Lamb Lies Down On Broadway (Lilywhite Lilith?). Der „pinkfloydige“ erste Mittelteilpart wird ergänzt durch eine zweite „Led-Zeppelinige“ Passage. Gypsy ist inspiriert durch das U2-Video zu All I Want Is You, in dem ein Liliputaner sich in eine Trapezkünstlerin verliebt. Ebenso wie der Clip vermittelt dieser Song ein sentimentales, melancholisches Flair. Übrigens: Gypsy ist Nir Zidkyahus Lieblingssong auf Millionairhead.

Ghost

Nach einem verträumten Intro steigern sich jeweils die Strophen in Lautstärke und Arrangementdichte hin zu den Refrains. Der Mittelteil gliedert sich in einen Gesangspart und ein Piano-Solo, um ins Refrain-Outro einzumünden. Ghost, von Ray Wilson erst nach seinem Einstieg bei Genesis geschrieben, ist der neueste Song auf diesem Album. Wilson gibt preis, was er über stete Kritikerworte denkt: „You break me into many pieces.“

Autor: Bernd Vormwald

zuerst veröffentlicht in itNr.26 (Frühjahr 1999)