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Phil Collins – The Long Goodnight – DVD Rezension

Anthony Mathile begleitete Phil Collins 2005 auf der First Final Farewell Tour durch Osteuropa und den nahen Osten. Die Dokumentation ist nun auf DVD erhältlich. Wir haben mal reingeschaut…

Besucher der Genesis Tour 2007 haben an den Merchandise-Ständen vermutlich eine DVD von Phil Collins entdeckt, die sie bisher nicht kannten. Wir haben die DVD für Euch angesehen…

Seit Genesis wieder auf Tour sind, vergessen wir oft, wie Phil Collins einst sagte, er habe genug vom Touren und wolle – auch aus gesundheitlichen Gründen – kürzer treten. Sein Abschied wurde zunächst zu einer sicheren Sache für seine Standard-Länder in Europa und Nordamerika, doch dann entschied er sich doch noch, seine ursprüngliche Idee umzusetzen – nämlich in Ländern zu spielen, die er selten oder nie besucht hat. Dazu zählten auch Südamerika und Asien / Australien – diesen Plan musste er aber erst einmal verwerfen, da ihm die Broadway-Musical-Produktion von Tarzan einen Strich durch die Rechnung machte. Also beschränkte er sich auf Osteuropa und den Nahen Osten…

Zu dieser Konzertreise kam es schließlich im Herbst 2005, etwa ein Jahr nach dem Ende des Nordamerika-Schnitts der Tour. Er trat dann Ende 2005 doch noch einmal im westlichen Europa auf (unter anderem gleich zwei Mal in der Düsseldorfer LTU-Arena, „getarnt“ als Benefiz-Konzert), insgesamt jedoch spielte er auf unbekanntem Terrain, Zu diesem etwas exotischen Tourabschnitt gibt es nun diese Dokumentation auf DVD. Verantwortlich dafür ist Anthony Mathile, der derzeit auch mit Genesis unterwegs ist und dessen Arbeit man wohl auch auf der kommenden Rom-DVD sehen kann.

Das Cover wirkt etwas düster. Eine Gestalt im Bademantel, der auch ein Regenmantel sein könnte, mattes Licht, alles in Schwarz/weiß gehalten – dass dies Phil Collins ist, erkennt man auf den ersten Blick nicht. Sieht eher aus wie ein Schnappschuss aus der Pause eines Boxkampfes. So schlicht wie das Cover ist auch die Verpackung. Ein ganz normales Cardsleeve, wie man es von einigen MaxiCDs und vor allem Promo-CDs kennt, das ganze für stolze € 20. Auf der Rückseite befindet sich außerdem ein Begleit-Text von Phil Collins.

„2004 traf ich eine wichtige Entscheidung in meinem Leben. Ich entschloss mich, meine schier unendliche Tourerei aufzugeben. Ich war 30 Jahre lang auf Tour, aber auch wegen meiner zwei kleinen Kindern sagte ich mir – genug ist genug! Es war Zeit, Gute Nacht zu sagen!

Dieser Film dokumentiert die letzten Tage dieser „Gute-Nacht“-Tour. Diese deckte viele Orte ab, in denen ich nie zuvor spielte und sogar einige Orte, in denen noch überhaupt niemand vorher spielte. Als Ergebnis mussten wir uns mit einigen bemerkenswerten Hindernissen auseinandersetzen. Traurigerweise passierte es genau während dieser Tour, dass meine Ehe genau vor meinen Augen zerbröckelte und ich konnte nichts weiter tun als einfach weitermachen…

Der Filmemacher Anthony Mathile war vom ersten Tag der Proben in Neuchatel an dabei – bis zum letzten Tag in Prag und hat deshalb viele gute und schlechte sowie lustige und traurige Momente eingefangen.

Für mich ist das ein Film mit gemischten Gefühlen, aber es ist eben auch ein Film der mich mehr berührt als irgendetwas, das ich zuvor gemacht habe…“

Also klären wir, ob diese DVD das Geld wert ist.

cover

Anthony Mathile sammelte viel Film-Material, aufgenommen in Hotels, Backstage, während der Bühnenaufbauarbeiten oder in Autos und Bussen auf der Fahrt in die Städte und zu den Venues. Dazu kommen diverse Sightseeing Touren der Bandmitglieder, etwa durch Jerusalem. Daraus schnibbelte er eine kurzweilige Odyssee durch Osteuropa, den nahen Osten und zurück nach Westeuropa zusammen. Das hört sich zunächst langweilig an, doch weit gefehlt.

Es werden nicht alle Stationen dieser Tour behandelt, vermutlich auch nicht unbedingt alle wichtigen, es sind einfach einige Stationen der First Final Farewell Tour 2005, bei denen allerhand interessante und kuriose Dinge passieren.

Der Fokus der Dokumentation liegt eindeutig auf Phil Collins und den logistischen Aufgaben, denen sich Crew und Management stellen muss. Da war der kuriose Beginn, als man zunächst in Helsinki (Finnland) spielte, dann zwei Mal in Tallinn (Estland), um dann wieder eine Show in Helsinki zu spielen. Eine interessante Tourplanung, aber auch vergleichsweise harmlos im Verleich zu dem, was noch kommen sollte.

In der Folge hatte sich die Crew immer neuen Hürden zu stellen und viele waren dann auch relativ einfach zu überwinden. Tony Smith erklärt, dass viele der Länder und Städte eben nicht die Infrastruktur für solch ein Ereignis haben, wie sie in West-Europa vorhanden ist, da hier eben ständig Konzerte dieser Größenordnung stattfinden .

Schnell wird klar, dass nicht nur „mal eben“ einige Tagesabläufe abgefrühstückt werden. Relativ regelmäßig sieht man nur Phils Pressearbeit, die in jedem Land naturgemäß etwas anderen Ritualen unterworfen ist. Man sieht auch viel aus Phils Privatleben und seine Vaterrolle – Sohn Nicholas darf sich zwischendurch mal am Schlagzeug beweisen – und seine für sein Alter beachtlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen.

Neben Phil selber kommt Luis Conte vergleichsweise oft zu Wort, er ist zuweilen auch etwas schwer zu verstehen, aber dennoch recht informativ. Luis stammt aus Kuba und erzählt viel über den Ostblock und zieht Vergleiche mit seiner Heimat und redet entsprechend viel über den Kommunismus. Daneben hört man ebenso Ronnie Caryl oft, den Phil noch aus seiner Jugend kennt. Auch Leland Sklar und Daryl Stuermer sind oft im Bild. Aber nicht nur die Band wird interviewt, es gibt auch Aufnahmen der Crew, Interviews mit Tony Smith und Situationen, in denen auch ein Tim Brockman (Tourmanager) oder Tony Smith extrem laut werden können, dazu später mehr.

Ein ganz anderes Extrem des Tourlebens wurde in Vilnius (Litauen) dokumentiert. Collins hatte sich zuvor erkältet und verlor während des Konzert mehr und mehr seine Stimme. So hört man deutlich, wie er bei In The Air Tonight nur noch Töne herauspresste und bei Sussudio kaum noch etwas singen kann. Backstage bekommt man dann die Strategien mit, wie die Band und Crew damit umzugehen versucht, die Entscheidung, die Show ohne Zugaben zu beenden und Diskussionen bzgl. des weiteren Vorgehens für die Tour. Dies ist höchst interessant, da man so etwas selten zu sehen bekommt. In diesem Moment wird einen schlagartig das Dilemma von Collins klar. Zurückkehren nach Litauen kann er aus logistischen Gründen nicht, in der ersten Reihe ist ein Banner „we waited 30 years for this“ und Collins geht an die Grenzen des Machbaren. Für Vilnius zumindest ein kleiner Wehrmusttropfen, denn Collins spielt keine komplette Show. Die folgenden Shows in Prag mussten sogar ausfallen. Glück für Prag, dass die beiden Konzerte dort verschoben werden konnten. Weniger glücklich für viele Fans, die extra dafür nach Prag kamen. Doch Phil ließ es sich nicht nehmen, denen das vor Ort persönlich zu erklären.

Phils Erkältung war nicht das einzige gesundheitliche Problem. Ein Sturz auf der Bühne in Helsinki machte seinen relativ frisch operierten Knie zu schaffen, dies bekamen die Ärzte aber schnell in de Griff und so hatte nur die Erkältung Folgen für den weitere Tourplan.

Die Erkältung eingefangen hatte er sich in St. Petersburg, wo es auf der Bühne einen heftigen Zugwind gab. Der Abstecher nach Russland, besonders Moskau, war für die gesamte Truppe ein einmaliges Erlebnis. In Moskau war besonders bemerkenswert, dass die ersten Reihen voller VIPs und Funktionäre waren, während das „normale Volk“ weiter hinten stand und saß. So dauerte es etwas, bis die VIPs auftauten und infolge dessen auch die echten Fans aus sich heraus gingen. Ein Hauch von alter Staatsordnung ist hier zu spüren…

Die vergleichsweise modernen Hallen in Estland und Litauen waren für die Logistik wohl ein Kinderspiel. Anders sah das in Bukarest aus – in der rumänischen Hauptstadt wurde ein Flugzeughangar „hergerichtet“ und die Band findet sich plötzlich in einer anderen Welt wieder. Hier wird zum ersten Mal richtig deutlich, dass Bukarest nicht wirklich vorbereitet ist auf Tourneen großer Rockmusiker.

Dies sollte man in Athen eigentlich sein. Griechenland war schon oft Schauplatz großer Rockereignisse, nicht nur Peter Gabriel, auch Bands wie U2 gaben sich bereits die Ehre. Doch was die Collins-Crew in Athen vorfand, überstieg wohl auch abenteuerlichste Vorstellungsvermögen eines Super-Gaus. Ein Kran stand dort in der Halle, statt des üblichen Bühnenaufbauequipments, das der lokale Veranstalter zur Verfügung stellen sollte. Die Folge: Die Crew war mit den Aufbauarbeiten arg in Verzug geraten, die Lightshow war zum eigentlichen Einlass noch lange nicht soweit und während Phil Collins gegenüber der Presse gute Miene zum bösen Spiel machte. wir haben einige Probleme und eine kleine Verzögerung, aber die Show wird toll werden“), wurde Tony Smith richtig sauer und fertigte den lokalen Verantwortlichen lautstark und vor laufender Kamera ab. Doch nicht nur die Organisation des Bühnenaufbaus lag im Argen, auch hinter den Kulissen gelang es den örtlichen Verantwortlichen nicht, Ordnung ins Chaos zu bringen. So wurde der Umkleidebereich der Musiker zum Durchgang für jedermann, nackte Tatsachen kamen so ungewollt ans Licht. Und so bekommt diese DVD auch einen irgendwie urkomischen Auftritt von Tim Brockman, einem der Tourmanager, der mit seinen geschätzten 2,10 m Körpergröße und auch sonst imposanten Erscheinung als „Kante“ bezeichnet werden kann. Die Art und Weise, wie Tim die lokale Security zurechtweist und in der Folge Türen knallt, ist für den Zuschauer urkomisch, die Verantwortlichen vor Ort dürften gezittert haben, dass Tim denen die Bude abreißt…

Ganz andere Probleme gab es in der Türkei (Istanbul). Dort wurden eilig etliche Teppiche aufgehängt, man wollte offenbar Phils Anwesenheit werbewirksam verwerten. Doch Phils Pressebeauftragte Jaqueline (EMI Frankreich) stellte vor dem Interview und der Fotosession klar – keine Bilder von Phil mit den Teppichen. Die erste Frage eines Journalisten war dann: „Können wir Sie mit einem Teppich fotografieren…“ – Jaqueline schreitet erbost ein…nächste Frage: „Ok, was halten Sie von türkischem Fußball und wie finden Sie die Teppiche?“ – anschließend musste Jaqueline mal eine Standpauke halten – übrigens dem Redakteur der größten türkischen Tageszeitung, Hürriyet…

Aber der wohl schwierigste Teil der Tour lag noch vor der Crew. Der Libanon war ein weißes Blatt Papier, was die Konzerthistorie angeht. Beirut kennen wir in der Regel nur aus dem Fernsehen, und selten sind es gute Nachrichten, die man von dort zu hören bekommt. Das tatsächliche Leben dort ist aber wohl weit unaufgeregter, als es uns durch die Berichterstatung suggeriert wird. Auch in London gibt es Terror und Beirut ist eine weitere Metropole, die sicher ihre gesamtregionalen Besonderheiten hat, aber deswegen nicht über-gefährlich ist. So sah man es wohl auch im Collins-Camp und setzte ein Konzert im sogenannten BIEL in Beirut an. Dort waren „nur“ 7.000 Zuschauer, mehr passten auch nicht hinein und die Bestuhlung erinnerte schon etwas an Großmutters Gartenmöbelfriedhof. Viel wichtiger als improvisiertes Mobiliar war allerdings das Foto in der Zeitung – zerstrittene Politiker einig stahlend nebeneinander, auch sowas macht ein Besuch von Phil Collins im Libanon möglich.

In Tel Aviv war die Situation nicht ganz so neu. Allerdings war der Weg dorthin – es waren von Beirut aus nur rund 300 km, etwas mühsam, da man den Flieger nehmen und in Zypern zwischenlanden musste. Tony Smith erklärt den logistischen Gau und nennt diverse astronomische Summen, was das alles kostet und dass die Tour an dem Punkt plötzlich im Minus landete – Phil hat dafür nur ein „it’s okay to loose some money, I’ve got enough“ übrig. In Tel Aviv selber gab es eine Open Air Show…und es regnete. Eigentlich regnet es dort nicht, aber es regnete wie aus Eimern. Die Show stand etwas auf der Kippe. Ein gekürzter Set wurde ebenfalls diskutiert, am Ende wurde aber alles gespielt und Phil hinterließ einmal mehr ein begeistertes Publikum. Tel Aviv und Jerusalem waren auch für die Band und die Crew eine besondere Erfahrung, wie Aufnahmen einer Sightseeing Tour auf der DVD dokumentieren.

Dubai wird auf der DVD leider nicht dokumentiert, wohl aber das Kunststück von Tony Smith, mit den beiden Düsseldorf Shows das gesamte Equipment wieder nach Zentral-Europa zu schaffen. Es war eine Art Trick, Phil mit dem „Köder“ einer Benefizveranstaltung für seine eigene Little Dreams Foundation davon zu überzeugen, nochmal in Deutschland zu spielen. Für Collins und die Band ein Heimspiel…

Während des letzten Abschnitts gibt es Heiteres aus den Band-Quartieren in Düsseldorf zu sehen, schließlich folgt der Abstecher auf die Insel, wo aber leider auch nur Glasgow dokumentiert wird. Collins liest vor laufender Kamera mit resignierender Stimme eine vernichtende Kritik einer englischen Tageszeitung und zeigt sich erleichtert, dass die Tour in Prag endet und nicht in England. In Prag kommt es zum emotionalen Finale, das keinen der Zuschauer oder Crewmitglieder kalt lässt. Da muss sich auch ein Tony Smith in sich kehrend eine Träne verkneifen.

Phils Farewell ist vorerst beendet…war’s das?

Fazit

The Long Goodnigh tist nicht einfach nur eine DVD unter vielen. Es ist ein tiefer Einblick in eine fast schon exotische Tour durch teilweise unbekannte Flecken unserer Nachbarländer und den nahen Osten. Anthony Mathile fängt eine Vielzahl von Stimmungen und Kuriositäten exzellent ein und verdient sich für diese Dokumentation Bestnoten!

The Long Goodnight wird ironischerweise während der Genesis Tour am Merchandise Stand verkauft, was uns daran erinnert, dass Phils Long Goodnight alles ist, aber noch lange nicht beendet.

Autor: Christian Gerhardts
Grafik: Helmut Janisch