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Phil Collins – Sheffield 2017 vs. Prag 2019 oder: Warum sich die Tour gelohnt hat – Essay
Nein, da gehe ich nicht hin. Mit einer Mischung aus Entsetzen über die Ticketpreise und Befürchtungen, einen schlagzeuglosen Collins nicht überzegend zu finden, hatte ich mich entschieden, die Köln-Konzerte 2017 nicht anzusehen. Warum ich am Ende trotzdem zwei Shows gesehen habe und warum dies die bessere Entscheidung war, lest ihr hier.
Die Vorgeschichte …
Phil Collins live. Das war für mich immer eine Bank. Es war vor allem eine konstante Bank. Mein erstes Konzert sah ich im Niedersachsenstadion Hannover am 3.9.1994 – zu einem großen Teil in strömendem Regen, aber Collins lieferte. 60 DM kostete das damals. Drei Jahre später folgte der Trip Into The Light. Und für 70 DM bot Collins erneut zweieinhalb Stunden Unterhaltung auf höchstem Niveau. Dazu die Rundbühne – die Tour war spektakulär, die Band exzellent und Collins fit wie nie. Dreimal in Dortmund und einmal in Frankfurt war ich dabei.
Es folgte die Big Band Tour. Wieder lieferte er – allerdings etwas völlig anderes. Collins sang nur zwei Songs bei den Zugaben und spielte den Rest des Abends Schlagzeug – für mich war das der musikalische Himmel auf Erden. Für andere nicht – die verließen in Scharen nach wenigen Songs das Konzert. 2002 dann erschien Testify und Collins wollte keine Tour machen. Seine Promo-Veranstaltung in Hamburg war trotzdem etwas besonderes. Mit relativ bescheidener Bühnenshow, interessantem Set und In The Air Tonight als Pianoversion überraschte er die Fans. Dass er es dann doch nicht ohne Tour wollte, zeigte sich wenig später. 2004 und 2005 ging er auf First Final Farewell Tour – natürlich war ich dabei: In Milwaukee, zweimal in New York City und auch zweimal in Düsseldorf. Danach kam die Genesis Tour, natürlich war ich auch da zahlreich bei. Eine weitere Besonderheit waren dann die Motown Showcases in Nordamerika, unter anderem in Montreux – welche ich ausgelassen hatte in der Hoffnung auf „nähere“ Shows im Jahr darauf. Dazu kam es nicht, Collins zog sich zurück und machte mehr Schlagzeilen mit seiner Gesundheit, als mit seiner Musik.
2014 gab es wieder etwas Hoffnung – Collins probte in Miami um zu testen, was noch geht oder wie man Live-Auftritte absolvieren könnte. Die Setlist der Rehearsals wurde unter Fans schnell geteilt, jedoch kam danach erst mal nichts mehr. 2016 sah man Phil dann bei den US Open und in einer Talkshow im amerikanischen Fernsehen (siehe zum Beispiel hier) und Ende des Jahres platzte die Bombe: Am Krückstock betrat Phil die Bühne der Pressekonferenz in London und verkündet sein Bühnencomeback. Erster Gedanke: Geil! Zweiter Gedanke: Echt jetzt?
Der Mann konnte kaum laufen und wirkte, als könne er keine 30 Minuten auf der Bühne durchhalten.
Die Tour kommt näher …
Fünfzehn Konzert sollten es sein, jeweils fünf in London, Köln und Paris. Später kam noch eine Art Generalprobe in Liverpool hinzu sowie die Open Air-/Festival-Shows in Dublin und im Hyde Park London. Der Ticketvorverkauf startete und neben der Frage, ob ich dafür 550 km nach Köln oder noch weiter fahren/fliegen soll, standen mehrere Aspekte für mich im Mittelpunkt: Will ich Collins noch mal sehen bzw. kriegt er das Drum Fill bei In The Air Tonight wirklich hin? In der Pressekonferenz hatte er es nicht ausgeschlossen. Als dann aber die Ticketpreise für Köln bekannt wurden, war für mich klar: ohne mich. Satte 350 Euro sollten es für die besten Plätze im bestuhlten Innenraum sein. In London sah es kaum besser aus, dazu kam dort ein Reseller-Skandal. Plötzlich machte sich eine Art Gleichgültigkeit breit, aber auch ein bisschen Wut, dass ausgerechnet einer, der jahrelang für relativ faire Ticketpreise einstand, nunmehr absurde Preise verlangte (bzw. nicht verhinderte, dass sie passierten).
So kam die Tour näher und ich hatte kein Ticket – und irgendwie auch keine Lust. Dann kamen die ersten Infos aus Liverpool. Ja, er saß fast das ganze Konzert und nein, er spielte überhaupt kein Schlagzeug. Das alles waren Bestätigungen, dass ich das richtige tat – oder? Naja, es gab da dieses Video von You Know What I Mean, das hatte mich richtig gepackt. Phil Collins mit seinem damals 16-jährigen Sohn am Piano. Das war mehr als nur rührend. Auch, dass er I Don’t Care Anymore wieder ausgepackt hatte, überraschte mich doch sehr.
Trotzdem beließ ich es erst mal dabei. Dann kam Phils Unfall in London, in dessen Folge zwei Shows in der Royal Albert Hall verlegt werden mussten – und Großbritannien so zu einer kleinen und unerwarteten Herbsttour 2017 kam – denn man hatte, um die Wiederholungskonzerte herum ein paar weitere Termine organisiert. Das war die Chance, doch noch mal eine Show anzusehen und so flogen wir mit Freunden Ende November nach Sheffield.
Sheffield, 24.11.2017
Es sollte das zweite Konzert des Herbst-/Winter-Abschnitts sein und Sheffield war auch reisetechnisch für mich etwas völlig neues. Von Prag, das aus Dresden gesehen oftmals die bessere Alternative ist, als zum Beispiel Berlin, ging es via Manchester und Mietwagen nach Sheffield. Im Hotel haben wir nur kurz eingecheckt – und gleich mal einer etwas absurden Zusammenkunft von älteren Damen in Weihnachtsmannkostümen und Pyjama-ähnlichen Aufzügen beiwohnen dürfen. In gespannter Vorfreude fuhren wir zum Konzert …
Die Halle füllte sich nach und nach – sie war recht voll, wenn auch nicht komplett ausverkauft.
Collins betrat die Bühne – wieder am Stock – und setzte sich auf seinen Stuhl und erklärte wortreich, dass er sitzen muss, sein Bein kaputt sei nach diversen Operationen und dass dies aber niemanden daran hindern soll, Spaß zu haben. Hinter ihm war ein Vorhang und so sah man nur Phil auf seinem Stuhl und die beiden Scheinwerfer neben ihm. Vertraute Piano-Klänge und wie bei den ersten Konzerten der Tour eröffnete Against All Odds den Abend. Ein paar Dinge wurden mir sofort klar: Alle Erwartungen, die ich an das Konzert möglicherweise hatte, spielen hier keine Rolle mehr. Das wird völlig anders werden. Collins ist älter geworden, ja er wirkt alt und das Sitzen wird seiner Stimme nicht zuträglich sein. Bei vielen höheren oder druckvolleren Passagen muss er sich mühen, aber insgesamt bietet er eine ordentliche Gesangsleistung. Wir erinnern uns. Der Mann ist eigentlich Schlagzeuger – Sänger wurde er mehr aus Zufall. Aber: Aus dem singenden Schlagzeuger, wie er sich gern selbst nannte, ist ein singender Ex-Schlagzeuger geworden. Und das konnte ich zu keinem Zeitpunkt wirklich ausblenden. Ein weiterer Faktor: Gänsehaut, Kloß im Hals. Es würde emotional sein. Das war mit den ersten Zeilen des Songs klar.
Es dauerte auch nicht lange, bis ich von zig Gefühlen durchflutet war – Nic Collins‘ überdimensionaler Schatten über dem sitzenden Vater taucht auf und er drischt in bester Collins-Manier auf sein Schlagzeug ein. Against All Odds – das war auch immer hartes Drumming mitten in einer Ballade. Szenenapplaus im Publikum.
Es folgten zwei weitere Welthits: Another Day In Paradise, das erfreulicherweise viel mehr nach Live-Performance klingt, als bei früheren Tourneen (auch der exzellenten Schlagzeugarbeit von Nic geschuldet) und ein für mich völlig obsoletes One More Night. Die erste Überraschung ist Wake Up Call – es ist einer von Collins‘ Favoriten seiner jüngeren Alben und es wurde auch wohlwollend aufgenommen. Für mich bleibt es allerdings ein Rätsel, worin der Reiz dieses Stücks liegt. „Vor ein paar hundert Jahren war ich in einer Band“, sagte Collins. Ja, er tat es wieder: Ein Genesis-Song: Follow You Follow Me. Dieses Stück erinnerte doch stark an die Genesis-Tour. Auf den Screens liefen Bilder aus vergangenen Band-Tagen – das gab es bei der Genesis-Tour während I Know What I Like. Leider kann Collins dieses Stück nicht mehr schlagzeugspielend darbieten wie noch 2007. Dennoch war der Nostalgiefaktor hoch und seine Befürchtung, er könne ja spielen was er wolle, er werde nicht das spielen, was man will, trifft auch nur teilweise zu. Das Publikum honorierte diese Reise in die Vergangenheit. Und das war auch das Thema des nächsten Songs. Can’t Turn Back The Years, gleichermaßen ein Favorit von Collins selbst und dem Autor dieser Zeilen, fasst viele Momente des Abends perfekt zusammen. Und irgendwie kam es mir so vor, als sei Daryls Gitarrenspiel in ruhigen Momenten nie so gut wie bei diesem Song.
Spätestens bei I Missed Again kam mir wieder in den Sinn, was für eine fantastische Live-Band Collins hat. Diverse Musikmagazine hatten sie regelmäßig als eine Benchmark im Rock/Pop-Bereich bezeichnet und ein Track wie I Missed Again dürfte der Band richtig Spaß machen. Und auch dem Publikum. Danach begann Hang In Long Enough – es dauerte also ganze acht Songs, bis endlich mal richtig Zunder auf die Bühne kam. Das war vielleicht auch die größte Schwäche des Setaufbaus 2017. Hang In Long Enough … dieses Stück hatte ich während der Sommer-Tour bei YouTube einfach mal laufen lassen – von allen Tourneen seit 1990 nacheinander weg – also 1990, 1994, 1997, 2004, 2017. Die Band groovt und Collins hüpft und springt und rennt umher … nur 2017 wirkte es etwas deplatziert. Die ganze Bühne in Bewegung, Party davor und Collins schaute sich das sitzend an. Das waren diese Momente, die einfach schwer zu verdauen sind.
Danach stellte Phil seine Band vor. Alle bekamen großen Applaus, aber als Collins davon berichtet, wie stolz er sei, dass sein 16-jähriger Sohn am Schlagzeug sitze, gab es selbst im eher reservierten Sheffield einen Jubelsturm. Wie muss der sich fühlen in einer Band voller alter Männer (aus seiner Perspektive), aber auch in einer Band voller Legenden wie Brad Cole, Leland Sklar oder Daryl Stuermer und Luis Conte? Wie schafft er das? Wie steckt er den Druck weg, vor 12.000 Leuten zu spielen? Beeindruckend …
Im Vergleich zu Hang In Long Enough funktionierte Separate Lives als Gesamtperformance natürlich viel besser, da Collins sich hier ohnehin nie bewegte. Bridgette Bryant war zurück und Erinnerungen an 1990 waren hier sowohl zulässig als auch interessant. Ein wenig aber merkte man Collins an, dass er sich nicht sicher war, wie genau er es singen soll.
2017 war das Konzert noch in zwei Hälften geteilt. Das Ende des ersten Sets beschließt in Sheffield das „dark horse“ (ungeschriebenes Blatt / unbeschriebene Größe) von No Jacket Required: Only You Know And I Know. Der Song beginnt wie bereits auf der Both Sides Tour ähnlich der 12″ Maxi Version. Tags zuvor hatte Collins noch Who Said I Would gespielt (erstmals auf der Tour). Danach gab es eine Pause.
Der zweite Teil des Sets begann dann mit einem Drum-Duett, in dem sich Nic Collins zeigen konnte und sich genüsslich mit Luis Conte duellierte. Das wiederum mündete in I Don’t Care Anymore und während der ersten Takte sah man auch Collins zurück auf die Bühne kommen. Bei allen Problemen, die er hier und da mit dem Gesang an verschiedene Stellen hatte – I Don’t Care Anymore bekam er erstaunlich gut hin. Natürlich schrie er nicht mehr so wie 1983 oder 1995, aber es war doch sehr solide. Und es war wieder einer der Songs, der irgendwie passte – es war ihm egal, er machte es trotzdem. Mehr Probleme hatte Phil dann mit Something Happened On The Way To Heaven. Hier musste sein Background-Gesangsteam doch öfter mal aushelfen. Das ist sicher auch keine leichte Nummer.
Der emotionalste Moment des Abends folgte jetzt: Die Band verließ die Bühne, Nic kam nach vorn und setzt sich zusammen mit seinem Vater ans Klavier (welches eigentlich ein Keyboard in Klavieroptik ist). „Nic hat sich meine alten Alben angehört und er hat einen Song gefunden, der ihm gefällt. Einen.“ Heiterkeit im Publikum. „Ich hab keine Ahnung, wie man das spielt also hat Nic es gelernt und wir wollen es jetzt spielen“. You Know What I Mean. Wer hätte gedacht, dass Collins ein solches Juwel nochmals auspackt? „I wish I could write a love song“ – die Zeile klingt heute völlig verrückt, aber das zerbrechliche, verzweifelte – das brachte kongenial rüber. Es war der Moment mit dem größten Kloß im Hals. Daran änderte auch In The Air Tonight nichts, das natürlich Nic durchtrommelte und Phil konzentriert sitzend zu Ende sang. Hier fehlte mir auch deutlich der aggressive Gesang am Ende.
Die letzten fünf Songs waren dann die gewohnte Collins-Party seiner Shows. Nur Two Hearts fehlte und vielleicht auch Wear My Hat von früheren Tourneen. In diesem Teil hatte man zuweilen das Gefühl, dass die Band dem Gesang von Collins davonmusizierte – oder anders: Collins kaum hinterher kam. Und spätestens Sussudio war für mich eine Farce – das ging gar nicht. Aber das musste er wohl spielen.
Mit Take Me Home ging das Konzert erwartbar zu Ende. Und so war Sheffield eine interessante Erfahrung. Der Blick nach innen war anstrengend. Es war emotional an vielen Stellen, nostalgisch an anderen, aber auch schwer zu ertragen bei einigen Stücken. Auch wenn man die Erwartungshaltung angepasst hat, man wurde an diesem Abend als Fan auf vielen Ebenen gefordert. Es war schön, noch mal dabei gewesen zu sein. Wunderschön. Und es war auch das Gefühl, ihn ein letztes Mal gesehen zu haben.
Die Setlist in Sheffield:
Against All Odds (Take A Look At Me Now)
Another Day In Paradise
One More Night
Wake Up Call
Follow You Follow Me
Can’t Turn Back The Years
I Missed Again
Hang In Long Enough
Separate Lives
Only You Know And I Know
Drum Duet
I Don’t Care Anymore
Something Happened On The Way To Heaven
You Know What I Mean
In The Air Tonight
You Can’t Hurry Love
Dance Into The Light
Invisible Touch
Easy Lover
Sussudio
Take Me Home
Prag, 25. Juni 2019
Gut anderthalb Jahre später hiet die Tour dann Still Not Dead Yet Live. Phil war zuvor zu Jahresbeginn in Australien und Neuseeland und hatte auch dort mit einer leichten Setlistvariation überrascht. Inside Out wurde (wenn auch in einer gekürzten Fassung) gespielt. Zum zweiten Mal dann Europa im Sommer, doch dieses Mal überwiegend in großen Stadien. Die Ausnahmen bildeten Mailand und Prag. Hier gab es auch keine Vorband. Und es ergab sich für mich die Chance, Collins noch einmal live zu sehen.
In den Foren drehte sich die Diskussion nun darum, ob Phil in den Konzerten sicherer wirkte und besser sang als noch 2017. Interessanterweise teilte sich das Lager hier grob in zwei Teile: Die eine Seite hatte keine Konzerte besucht und sah keine Verbesserung und fand Collins‘ Performance, in der Mehrzahl basierend auf YouTube-Schnipseln, nicht gut. Die andere Fraktion waren die Konzertgänger, die nahezu alle begeistert waren. Entscheidend dürfte hier die Erwartungshaltung sein. Wer nicht hingeht, kann sich eigentlich kein Urteil erlauben. YouTube-Schnipsel waren noch nie ein guter Ratgeber und eignen sich auch nicht für Bewertungen. Ich selbst habe die auch „verschlungen“, doch das Erlebnis in Sheffield war dann doch ein völlig anderes.
Für diesen Tourabschnitt hatten wir uns für Prag entschieden. Es war von Dresden aus leicht zu erreichen und vor allem war es eine Hallenshow. Die Aussicht, bei 35° im Stadion auszuharren, oder am anderen Ende des Stadions zu sitzen, war nicht sehr attraktiv. Also fiel die Wahl auf Prag. Der 25.06. war ein heißer Sommertag und auch in Prag herrschten entsprechende Temperaturen. Wir konnten in der Nähe der Halle parken und so vorher in einer nahe gelegenen Mall noch etwas essen. Der Einlass war allerdings schon etwas merkwürdig – wie am Flughafen mussten alle durch eine Sicherheitsschleuse – vermutlich war das der Preis, den wir nun alle zahlen müssen, aber die Prozedur verzögerte den Einlass doch sehr. Als wir um 19.50 Uhr unsere Plätze einnahmen, war der Innenraum schon randvoll, aber die Tribünen waren kaum zu einem Drittel gefüllt. So kam es, dass die Show mit knapp halbstündiger Verspätung begann. Natürlich mit Souareba von Salif Keita, das seit vielen Jahren die Shows von Phil Collins eröffnet.
Eine Pause gab es auf diesem Tourabschnitt nicht mehr – das war tatsächlich nur 2017 der Fall. Also war klar – Collins würde durchspielen. Im Vergleich zu den Shows 2017 hatte sich die Show und die Setlist auch verändert.
Ehrlicherweise muss man festhalten, dass Collins nicht fitter wirkte als 2017. Immer wieder hatte man das Gefühl, dass Gehen und Stehen ihm unglaublich schwer fiel. Collins betrat kurz nach seiner Band (es gab hier auch keinen Vorhang mehr) die Bühne und es gab sofort einen tosenden Applaus. Die Stimmung in Prag war überhaupt nicht mit Sheffield zu vergleichen. Immer wieder brandeten Jubelstürme auf und die Stimmung war bereits am Kochen, bevor Collins überhaupt etwas gesagt hatte. In Prag sagte er ein paar Worte auf Tschechisch, bevor er für den Rest des Abends ins Englische wechselte. Großen Szenenapplaus gab es beim Einsetzen des Schlagzeugs bei Against All Odds – und übrigens auch bei Another Day In Paradise. Bei letzterem hatte Nic nochmal an seinem Spiel gefeilt und die Version der 2019er Europatour dürfte wohl die definitive Live-Version des Stücks sein.
Und nun wurde auch eine große Schwäche des 2017er Sets behoben – Hang In Long Enough hatte als dritter Song dem Publikum ordentlich eingeheizt und die ohnehin gute Stimmung perfekt gefestigt. Mit Don’t Lose My Number gab es eine weitere Ergänzung im Set (oder sagen wir besser: einen weiteren Austausch), aber bei diesem Stück hatte sich Collins völlig versungen und blickte schon während der Performance entschuldigend Richtung Band. Nach dem Song erläuterte er dies auch dem Publikum: „Habt ihr das mitbekommen, ich hab’s verkackt. Ich muss mich bei meiner Band entschuldigen“. Ob man Don’t Lose My Number nun wirklich braucht, sei dahin gestellt. Natürlich könnte man argumentieren, dass It Don’t Matter To Me, Survivors oder Find A Way To My Heart genauso gepasst hätten, aber Fakt ist auch: Mit dem Song macht man nicht viel falsch und er ist natürlich der breiten Masse bekannter, als die anderen genannten.
Neu im Set, allerdings schon seit Südamerika 2018, war auch der Genesis Track Throwing It All Away, der auch in einem Collins-Set gut funktioniert, allerdings hätte ich mir hier doch eine weitere Collins-Solonummer gewünscht. Zur Auswahl stünden auch genug Hits, Can’t Stop Loving You, Both Sides Of The Story oder auch I Wish It Would Rain Down. Für mich war das eine vertane Chance auch weil Follow You Follow Me im Set geblieben war. Anders als bei drei Konzerten zu Beginn der Tour, tauchte auch Mike Rutherford nicht auf der Bühne auf (er war ja mit den Mechanicsschon länger nicht mehr als Vorgruppe dabei) und das war auch der einzige Moment, bei dem ich mich ärgerte, nicht in Berlin gewesen zu sein.
In Prag wurde I Missed Again auch wieder gespielt – das hatte Phil bei einigen Shows davor öfter mal weggelassen. Und nun kamen wir auch in den Genuss von Who Said I Would, das noch mal um eine instrumentale Saxophon-Sequenz erweitert wurde. Es folgte wieder die gewohnte Bandvorstellung – und hier gab es größeren Applaus für Daryl Stuermer, und noch bevor Phil Leland Sklar nennen konnte, wurde dieser frenetisch gefeiert. Sowas kennt man eigentlich sonst nur von den Gabriel-Shows bei Tony Levin. Schön zu sehen, wie Bassisten zu Kultfiguren aufsteigen können. Arnold McCuller trieb bei seiner Vorstellung ein kleines Spielchen mit Phil und warf ihm anzügliche Blicke zu, was Phil trocken mit einem „später, später“ konterte. Und natürlich war es wieder Nic Collins, der den größten Applaus erhielt. Phil selbst wirkte in diesem Moment sehr ergriffen von der Reaktion des Publikums und so flatterte ihm die Stimme zu Beginn von Separate Lives gleich zwei Mal – aber insgesamt sang er dieses Stück sehr souverän und deutlich selbstbewusster, als noch 2017.
Auch in Prag gab es einige Momente, die für mich emotional waren, insgesamt war es aber natürlich durch den Umstand, dass ich schon in Sheffield dabei gewesen war, eher ein gewohntes Gefühl. Das änderte sich beim Drum Trio – ja Trio, denn zunächst hatte Nic sich wieder duelliert – dieses Mal mit Richie Garcia, der Luis Conte vom letzten Jahr an den Percussions abgelöst hatte. Und dieses Duell fiel deutlich länger aus, als noch 2017. Phil selbst saß während dessen direkt vor dem Drumkit seines Sohnes, bevor er sich eine Art digitale Konga schnappte (dieses Gerät heißt Cajon, vielen Dank an dieser Stelle an Brad Marsh für die Aufklärung) und den Rhythmus für den zweiten Teil des Drumsolos vorgab. Nic und Richie kamen hinzu und spielten weitere Variationen der Cajon. Dieser Moment war für mich sehr speziell, denn irgendwie war es eine Art Rückkehr zu den Drums für Phil. Überhaupt sei an der Stelle mal erwähnt, dass er ständig wippte, Luftschlagzeug spielte usw. Wie muss sich einer fühlen, dem die Gesundheit das geraubt hat, was er am besten kann (und das wie kaum ein zweiter)? Umso schöner war dieser Moment, und das Publikum hat dies natürlich ebenso bemerkt. Wie gewohnt ging das Drum-Intermezzo dann in Something Happened On The Way To Heaven über. Danach kam wieder You Know What I Mean und es war ganz wunderbar, dass dieses Stück die Änderungen der Tour überlebt hatte. „Man ist nur ein Mal jung“, sagte Phil mehrdeutig, als er am Klavier platz nahm und etwas witzelte über die Zeit, als Nic zur Band stieß.
Erneut war You Know What I Mean eines der Highlights, aber dieses Mal hatte mich auch In The Air Tonight wieder gepackt. Das lag auch daran, dass Collins diesen Song komplett im Stehen absolvierte, sicherer sang als noch 2017 und am Ende auch mehr aus sich heraus ging. Es folgte die übliche Collins-Hits-Party, bei der Sussudio dieses Mal nicht mehr ganz so grausam war, wie noch in Sheffield. Aber auch Easy Lover hatte seine Fremdschäm-Momente. Das waren im Sinne der Showelemente „Altlasten“, die schlicht nicht zu Collins anno 2019 passen.
Die Zugabe Take Me Home erschien etwas kürzer als 2017, insgesamt gefiel mir aber gut, dass diese von vorn bis hinten sehr live klingt, und nicht mehr auf einen Drumcomputer zurückgegriffen wird. Der Song hat sich seit 1985 sehr erfreulich entwickelt, und anders als Sussudio würde er mir im Set auch fehlen.
Die Setlist in Prag:
Against All Odds (Take A Look At Me Now)
Another Day in Paradise
Hang In Long Enough
Don’t Lose My Number
Throwing It All Away
Follow You Follow Me
I Missed Again
Who Said I Would
Separate Lives
Drum Trio
Something Happened On The Way To Heaven
You Know What I Mean
In the Air Tonight
You Can’t Hurry Love
Dance Into The Light
Invisible Touch
Easy Lover
Sussudio
Take Me Home
Take A Look At Me Now – Collins 2017 und 2019
Es ist und bleibt eine Frage der Erwartungshaltung. Die Fans werden älter, die Musiker sollten es besser nicht tun. Phil Collins war bei den ersten Konzerten 66 Jahre alt, in Prag 68. Fairerweise muss man feststellen, dass er älter wirkt, als er wirklich ist. Leland Sklar ist älter und definitiv fitter. Daryl Stuermer ist nicht viel jünger, aber sieht irgendwie noch immer so aus wie 1992. Das sind alles Wahrnehmungen, die sicherlich auch das Erlebte noch mal anders erscheinen lassen. Collins aber war ja immer der Tausendsassa, der kilometerweise über die Bühne rannte, hinter’s Schlagzeug sprang, parallel sang und das auch live auf hohem Niveau (wenn auch nicht immer perfekt) – und war zweieinhalb Stunden lang als Gute-Laune-Bär in diesem Zirkus. Jetzt humpelt er am Stock auf die Bühne, lässt sich in seinen Stuhl fallen und trifft die hohen Töne seltener. Er hat seinen Humor nicht verloren, aber er muss sich viel mehr anstrengen, um eine Show durchzustehen – die heute auch „nur“ noch zwei Stunden dauert. 2016 spielte er erstmals mit Nicholas In The Air Tonightwährend der US Open. Da wirkte er fitter und vor allem seine Stimme klang kräftiger als auf der folgenden Tour.
Ja, er ist alt geworden und physisch meilenweit weg von seinen Möglichkeiten, die er noch 2007 hatte. Das dürfte vielen zu wenig sein, insbesondere denen, die ihn immer gern Schlagzeug spielen gesehen haben. Wir werden alle älter, können immer weniger und nun geht da einer auf die Bühne, der genau diesen Lauf des Lebens auch noch in einem Konzert zur Schau stellt. Wie kann er nur? „Immer noch nicht tot“ heißt augenzwinkernd seine Tour, aber es ist und bleibt auch für den Fan ein Kraftakt, das alles in den richtigen Kontext zu setzen. Die Erwartungen sind entscheidend. Niemand, der einen Collins auf dem Niveau der 1990er Tour erwartet, wird zufrieden aus dieser Show herausgehen. Aber das darf man auch nicht erwarten.
Allein bezüglich seiner gesanglichen Fähigkeiten anno 2019 werden dieser Tage die absurdesten Diskussionen geführt. Seine Stimme ist ebenfalls gealtert, und dass Collins mit deutlich weniger Kraft auf der Bühne steht als früher, kann jeder sehen. Er singt ordentlich, aber auf keinen Fall so gut wie früher. Es kommt nicht von ungefähr, dass sein größter gesanglicher Moment auf der Bühne You Know What I Mean ist. Da ist kein Background-Sänger da – nur sein Sohn, der Klavier spielt (und Brad Cole, der einen dezenten Keyboardteppich beisteuert). Ausgerechnet bei diesem Song zeigt sich dann, wie Collins 2019 am besten funktioniert: reduziert, das wesentliche ausdrückend und ja, auch diese zerbrechliche Komponente. Die gewaltigen Soundexplosionen von Hang In Long Enough oder Sussudio sind nicht mehr seine Welt – bzw. spielen sich außerhalb seiner Möglichkeiten ab.
Die Band
Eine der größten Konstanten in seiner Solokarriere ist die Live-Band von Phil Collins. Brad Cole, Leland Klar, Daryl Stuermer – sie alle waren oft oder lange dabei, dazu sind auch Amy Keys und Arnold McCuller alte Hasen, zuletzt holte er Bridgette Bryant auch noch zurück. Sein alter Kumpel Ronnie Caryl erledigt unaufgeregt die Rhythmus-Gitarrenfraktion, die man vor 1997 doch etwas vermisst hatte. Auch die Bläser sind in veränderten Zusammensetzungen seit Ewigkeiten dabei – alleine Harry Kim kann auf eine beachtliche Konzertanzahl mit Collins zurückblicken. Luis Conte hatte zwischenzeitlich aufgehört, um sich anderen Projekten zu widmen – ihn hat Richie Garcia an den Percussions ohne Mühe ersetzt.
Die größte Veränderung aber gab es am Schlagzeug … auf der Bühne fehlt das zweite Drumkit, da Collins selbst nicht mehr spielt. Und die größte Verantwortung übertrug er ausgerechnet einem 16-jährigen – der auch noch sein Sohn ist…
Der Faktor Nicholas Collins
Über Emotionen habe ich schon geschrieben. Dass Nic Collins 16-jährig Taktgeber wurde in einer Band voller Weltklassemusiker, die seine Großeltern sein könnten, war ein Wagnis. Leland Sklar hat immer wieder geäußert, wie gut Nic sich entwickelt und wie stark er spielt. Es dürfte auch die Erfahrung eines Leland Sklar sein, die Nic die Sicherheit gab, die er brauchte, um als Teenager vor zigtausend Leuten zu bestehen. Er bekam neben dem Stolz seines Vaters und dem Adrenalinkick auch immer die größte Zuwendung aus dem Publikum. Er wurde immer sicherer, reifer und ist auf der Tour quasi erwachsen geworden. Sein Schlagzeugspiel mögen Profis beurteilen – für mich als Laien hat er einen unfassbaren Job gemacht. Und vermutlich ist er auch ein Faktor, dass Phil Collins überhaupt wieder auf die Bühne ging. „Ich hab das vermisst“, sagte Phil bei den Konzerten oft – was muss das für ein Gefühl sein, eine solche Tour mit seinem Sohn machen zu können?
Die Ticketpreise
Es gibt zur Ticketsituation wenig positives zu sagen. Rekordausverkäufe gab es nicht mehr, aber das lag auch daran, dass die Preise für Collins 2017 bis 2019 absurd und unverschämt hoch waren. Die Preispolitik den lokale Märkten zu überlassen ist ein großer Fehler. Eine Collins-Tour ist offenbar eine Veranstaltung für Besserverdienende geworden und das kann nicht im Sinne von Phil selbst sein, der jahrelang dafür sorgte, dass seine Konzerte für fast jedermann erschwinglich waren. Noch 2007 waren Genesis stolz darauf, günstiger zu sein als U2 und Co. 2017 bis 2019 zählt das alles nicht mehr. Das ist schade. Die Ticketpreise 2017-2019 sind eine Unverschämtheit. Punkt.
Social Media
Anders als bei früheren Tourneen wird alles bei YouTube und sonstwo dokumentiert, zerpflückt, diskutiert. Die Stimmung ist im Vorfeld eine andere, alles steht und fällt oft mit Likes und Kommentierungen, es werden große Analysen auf Grundlage schlechter Videos gemacht, Ticketkäufer sprechen vom größten Konzert aller Zeiten, das man noch besuchen wird und alle haben ultimativ recht. Wer sich in so einem Umfeld auf die Meinung von Facebook und Co verlässt, bei der Frage, hinzugehen oder nicht, dem ist nicht mehr zu helfen. Bewahren wir uns ein Stück Unwissenheit und Abenteuerlust und lassen wir nicht zu, dass die Angst, enttäuscht zu werden, uns an nichts mehr Freude haben lässt. Dann wirkt vieles leichter und entspannter. Und man genießt das Erlebte wohlmöglich auch mehr.
Was kommt?
Tja, das ist die große Frage. Macht er noch mal ein neues Album? Wird die Tour fortgesetzt? Im Herbst kommt nochmal Nordamerika dran, danach ist nichts weiter geplant. Möglich erscheint noch eine Asien-Reise. Aber ansonsten macht es wenig Sinn, mit diesem Tourkonzept weiter zu gehen. Wünschenswert wäre ein neues Album. Da Collins nach eigener Aussage an nichts arbeitet, könnte er mit frischen Ideen bei Null anfangen. Und warum nicht etwas völlig anderes? Rick Rubin wäre als Produzent sicher eine gute Wahl und Collins könnte etwas machen, das niemand von ihm erwartet. Aber was wir wollen, ist hier wenig relevant. Collins selbst müsste den Antrieb haben und der scheint ihm derzeit noch zu fehlen.
Außerdem ist ein Thema seit dem Europa-Tourabschnitt wieder sehr präsent. Was passiert mit Genesis? Spätestens seit Mikes Gastspiel auf der Bühne erscheint das nicht mehr so weltfremd wie noch vor 2 Jahren. Mike äußerte sich im it–Interview im April 2019 auch entsprechend offen und auch Tony Banks schloss im letzten it–Interview nichts aus, wenngleich seine Äußerungen eine neue Tour eher weniger wahrscheinlich aussehen lassen.
Ganz offensichtlich aber tut es Phil gut, dass er wieder da draußen ist und vor Publikum spielt. Und auch den Fans tut es gut, dass er wieder da ist und ein Angebot macht.
Egal, was kommt: Es wäre wünschenswert, wenn Collins wieder aktiver wird bzw. aktiv bleibt, solange es ihm Spaß macht. Und egal, welches Angebot er uns macht – weiter touren, neues Album, Genesis, was auch immer – wir haben die Wahl: hingehen oder nicht, Album kaufen oder nicht. So einfach ist das.
Autor: Christian Gerhardts
Fotos: Mat Goadsby (Sheffield), Matthias Fengler (Prag)