1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 6 Minuten

Phil Collins – No Jacket Required – Rezension

1985 veröffentlichte Phil Collins ein neues Soloalbum, das sein bis heute erfolgreichstes Album wurde.

1985 versprach ein besonderes Jahr im Leben des 34 Jahre jungen Phillip Collins zu werden. Hart hat er gearbeitet, schon immer, aber besonders seit 1980, dem Jahr, in dem er mit Face Value endgültig zum ernstzunehmenden Künstler avancierte. Der quirlige Workaholic, der bis dato allenfalls als Genesis-Frontmann-Nachfolger und in Fachkreisen als einer der besten Rockdrummer bekannt war, hatte mit seinem Solodebut neue Maßstäbe in Sachen Produktion und Sound gesetzt (und sein bis heute geltendes Referenzwerk geschaffen).

Die folgenden vier Jahre sollten eine kaum nachzuvollziehende Tour de force werden. Noch 1981 nimmt er mit seiner Stammcombo Genesis das sperrige Abacab auf, Ende 1981 folgt die Tour. Anfang 1982 erscheint Hello, I Must Be Going!, welches ihm die erste Solo No. 1 Single in den UK bringt. Er produziert für Frida von ABBA, von August bis Oktober 1982 geht’s erneut auf Genesis Tour und direkt im Anschluss startet Collins‘ erste Solotour. 1983 erscheint Genesis mit der anschließenden Mama-Tour bis Anfang 1984. Während dieser Tour produziert er (…so nebenbei…) Against All Odds für gleichnamigen Film von Hollywood-Regisseur Taylor Hackford, welches seine erste No. 1 in den Staaten wird. 1984 produziert er für EW&F-Mann Philip Bailey dessen Album Chinese Wall und singt mit diesem das Power Duett Easy Lover ein. Kaum zu glauben, dass bei diesem Terminkalender noch Zeit für ein Privatleben bleibt, aber auch hier läuft bei Onkel Phil alles bestens. Nachdem seine erste Ehe zu Bruch geht (was er auf seinen ersten beiden Alben ausführlichst thematisiert), heiratet er 1984 Jill Tavelmann – ein Bilderbuch Märchen Pärchen, wie Zeitgenossen berichten.

Was jetzt noch fehlt, ist ein Hitalbum, und 1985 sollen die Lehrjahre des Mr. Nice Guy, des Hans-Dampf-in-allen-Gassen, des Mr. Phil Collins vorbei sein, der Gentleman bittet zur Kasse…

Cover

Der Albumtitel ist zurückzuführen auf ein Ereignis, bei welchem Collins der Zugang zu einem Restaurant in Chicago verwehrt wurde, weil dessen Jackett nicht zum Dresscode passte.

In der Tradition seiner Vorgänger ziert ein großes Kopffoto des Künstlers das Cover. Diesmal in rotem Diskolicht und mit Schweißperlen erinnert es an das dämonische Mama-Video von Genesis und beschwört eine hitzige, schweißtreibende Atmosphäre. Im Innencover ist er ganz 80er Jahre Miami Vice-mäßig in Jackett und Turnschuhen zu sehen. 

Produktion

Produziert wurde das Werk wieder vom Meister persönlich zusammen mit seinem Kumpel Hugh Padgham, mit dem er 1980 auf Peter Gabriel III seinen Drumsound entwickelte. Von Mai – Dezember 1984 haben Gitarrist Daryl Stuermer, Bassist Lee Sklar, die Phenix Horns, R&B Produzent und Experte David Frank und Sessionsaxophonist Gary Barnacle das Album eingespielt. Weiterhin beteiligt sind Arif Mardin (String Arrangement), Helen Terry, Peter Gabriel, Sting (Backing Voc) und Nick-Glennie Smith (Keys).

Collins und Padgham fahren modernsten Sound auf, moderne Synthies, glasklare Bläser, und gewaltiger Drumsound – die Drummachine ist wieder da. Und: There is no Fairlight on this Record – Collins verzichtete auf den gängigen Musikcomputer zur Synthese verschiedener Bläser und Streicher!

Die Songs

cover


Sussudio

Ein knallender, heißer Dance Drum Machine Beat zeigt sofort, wo’s lang geht. Collins Liebe zu Motown hat ihn auch zur Dance Musik gebracht und Sussudio wurde oft des Plagiats von Prince’s 1999bezichtigt, was Collins nicht komplett leugnete. Die Phenix Horns schmettern einen Satz hin, der noch immer jeden Bläser fasziniert. Der Song avanciert zum Live Klassiker, verliert jedoch mit den Jahren seine ursprüngliche Power. Das Original ist klasse und darf auch heute noch in Diskotheken laufen.

Only You Know And I Know

Ein kräftiges Tom Intro, Synth Bass und Riff sowie Bläser treiben das Stück voran. Stuermer, der als Co-Autor verzeichnet ist, spielt ein kleines Gitarren Solo Battle in der Bridge. Schöne Autofahrmusik.

Long Long Way To Go

Eines der Album Highlights ist dieses atmosphärische Stück, das von tiefen Bässen, Synthflächen und einem pulsierenden reduzierten Beat lebt. Ein Klagelied über Kriegsleiden und dem Nichtstun und der selbst auferlegten Ohnmacht der Menschen. Der zweite Refrain überrascht mit Sting als hochkarätigen Gesangspartner.

I Don’t Wanna Know

…platzt nach dem unerwarteten Schluss des Vorgängers etwas unsanft in die Gehörgänge. Ein weiterer Collins/Stuermer Song mit nettem Refrain. Mehr nicht.

One More Night

…liefert die Blaupause für alle späteren Collins-Balladen-Fließband-Ausschuss. Aber: Im Gegensatz zu jenen strahlt One More Night eine nie wieder erreichte Wärme aus. Basierend auf eine Improvisation auf einen Roland 808 Drummachine Beat gelingt Collins einer der schönsten 80er Balladen überhaupt und Don Myrick liefert sein Referenz Saxophon Solo.

Don’t Lose My Number

Die zweite Plattenseite eröffnet wieder eine Drummachine Uptempo Nummer. Textlich handelt es von Billy, einem Ausreißer, der gesucht wird…

Schöne Ohrwurm Dance Nummer, die durch den Drummachine Beat einen besonderen Drive hat, der bei den späteren Live Versionen etwas vermisst wird. Who’s playing the Guitar? Daryl Stuermer! Great!…Great Sandwich!!

Who Said I Would

…donnert schweißtreibend mit Moog Bass und Vocoder Effekten. Wirkt etwas overedged und nervös. Kommt live besser.

Doesn’t Anybody Stay Together Anymore / Inside Out

Ersterer wieder aus der Feder Collins/Stuermer bieten beide Songs sehr schöne dynamische Momente, die durch die Reduzierung jeweils in den Strophen erreicht wird. Sehr nett.

Take Me Home

Ein fesselnder 909 Drum Beat und eine elektronische Kalimba eröffnen das beste Stück der Platte, was gleichzeitig in die Collins Top 5 gehört. Textlich aus der Sicht eines Patienten einer Nervenklinik, besticht der Song mit einer wunderschönen Harmonik und Melodie. Falls die Herren Banks, Rutherford und Gabriel nicht neidisch waren, sie hätten es sein sollen. Die Backings für den Refrain liefern u.a. keine geringeren als Sting und Peter Gabriel, was leider nur zu erahnen ist, wenn man es weiß.

Genialer Song, der seither Schlusspunkt der Liveshows ist und an Kraft kaum verloren hat.

We Said Hello Goodbye

Zunächst nur als B Seite von Take Me Homeerschienen, bekam diese Songperle erst auf der CD-Version des Albums ihren würdigen Platz. Sie beginnt mit einem Streicherarrangement von Arif Mardin, der seinerseits schon Against All Odds verschönert hat. Dann hämmert ein Klavier und leitet Phil Collins Omage an die Beatles (wie schon im Titel anklingt) ein. McCartney Klavier und Lennon Gesangseffekt. Sehr schön, einer der unterbewertetsten Songs.

Resumé

No Jacket Required ist in vieler Hinsicht das positivste und wärmste Album des Phil Collins. Stimmlich auf dem Höhepunkt und ausgestattet mit reichlich Erfahrungen in Produktion und Schreiben, zudem beseelt mit privatem Glück und auf dem aufsteigenden Ast, war ein solches Album zu erwarten. Wenn auch nicht so genial wie sein Debut, sprudelt es nur so von überraschenden Harmonien, Melodien und Stimmungen, und Phil singt mit der Gänsehautintensität, die man heute so schmerzlich bei ihm vermisst. Bis heute bleibt es sein meistverkauftes Album. Vier Singles kommen international in die Top Ten, zwei erreichen die  No.1-Position in den USA. Er bekommt drei Grammys (Best Pop Album, Best Male Vocalist, Best Producer) und ist damit auf dem Pop-Olymp angekommen. Leider sollten sich die Zeilen, die er 1980 in Duchess sang, für seine Zukunft als allzu prophetisch herausstellen: „…times were hard, too much thinking of the future and what the people might want…“.  Collins wurde in den Folgejahren „serious“ und wurde das Label des „Weichspülpoppers“ schließlich nicht mehr los. Der Rock und Soul ging ihm verloren …  

Mit No Jacket Required ist Mr.Collins auf Nummer-Sicher gegangen. Die Mischung stimmte, die Zeit war reif. Collins war beliebt und in aller Munde. Seine Musik passte in die Zeit. Vorwerfen kann man dem Album die etwas übereifrige Produktion und ein beginnender, wenn auch in diesem Falle zu entschuldigender, weil rudimentärer Mangel an Tiefgang.

Abschließend ein bissiges Zitat von Martin Lewis, der mit Phil Collins Mitte der 80er viel Zeit verbrachte. „Wenn er Face Value nie gemacht hätte, wäre es egal. Aber er hat es gemacht und damit etwas reales berührt. Es ist ihm danach entglitten. Er hätte ein John Lennon werden können, aber er hat sich für Paul McCartney entschieden.“ 

Autor: Bert Wenndorff