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Phil Collins – Face Value – CD Rezension
Als Phil Collins 1981 sein erstes Soloalbum veröffentlichte, war er schon zehn Jahre Mitglied bei Genesis und fünf Jahre Frontmann der Band. Trotzdem gelang Collins ein außergewöhnliches Album mit dem Flair des „ersten Mal“.
Debütalben haben immer etwas besonderes. Bei Genesis geriet es eher zur Lachnummer, während Peter Gabriels und Steve Hacketts Solodebütalben von Fans und Kritikern gefeiert wurden. Abseits von Genesis gelang Pink Floyd ein außergewöhnliches Werk, R.E.M. in den 80ern ebenso. Als Phil Collins 1980 darüber nachdachte, ein Soloalbum zu aufzunehmen, da hatte er keine Ahnung. Und es erschien, als hätte er nicht gewusst, was passieren könnte. Einige Dekaden später ist „Face Value“ Legende und ein Meisterwerk der Musikgeschichte. Mit zwölf Songs und ohne richtiges Konzept gelang ihm ein großer Wurf, der alles verändern sollte.
Zwei Dinge waren entscheidend für Face Value. Zum einen versuchte Phil, seine Ehe zu retten – notfalls auch auf Kosten von Genesis. Zum anderen waren Tony und Mike selbst mit Soloalben beschäftigt, als er von seinem (gescheiterten) Eherettungsversuch zurück kam. Noch vor Duke setze sich Collins an die Arbeit – konsequent an Face Value gearbeitet hat er dann aber erst nach der Duke-Tour. Phil Collins hatte vorher eigentlich nie einen Song selbst geschrieben. Es gab Momente, an denen hatte er großen Anteil. Lilywhite Lilith etwa, Blood On The Rooftops, Los Endos, später Ballad Of Big und Down And Out oder And So To F… für Brand X. Doch dass er mit Misunderstanding und Please Don’t Ask erstmals eigenständige Songs in eine Genesis-Produktion einbrachte, war ein Novum.
Und so entstanden, geprägt von den Ereignissen rund um seine gescheiterte Ehe, eine Reihe von Songs, die persönlicher nicht sein konnten. Phil nahm das meiste gleich zu Hause auf, sein Faible für das „Home Demo“ hat hier seinen Ursprung. Die Intention, ein ganzes Album aufzunehmen, hatte er trotzdem nicht. Er wollte sein Privatleben verarbeiten. Es war unter anderem Ahmet Ertegün, Chef der Atlantic Records, der Phil Collins ermunterte, ein ausgewachsenes Album zu produzieren. Nach und nach formte er seine Songs aus seinen Demos und Face Value bekam am Ende eine erstaunliche Gastmusikerliste. Daryl Stuermer war eine logische Wahl, Eric Clapton eine zu diesem Zeitpunkt interessante Wahl. Dazu kamen die Phoenix Horns von Earth, Wind And Fire, Jazz-Musiker Alphonso Johnson, der Geiger Shankar und schließlich Arif Mardin.
Als Produzent wurde Hugh Padgham engagiert. Phil hatte mit Hugh bereits bei der Produktion von Peter Gabriels drittem Sololabum III (Melt) zusammengearbeitet.
Phil entschied sich, zwei weitere Songs für das Album zu verwenden. Zum anderen seine eigene Version des Genesis-Songs Behind The Lines, zum anderen eine Coverversion des Beatles-Songs Tomorrow Never Knows. Andere Song wurden nicht verwendet. Misunderstanding und Please Don’t Ask landeten auf dem Genesis-Album Duke, ein weiteres Demo mit dem Arbeitstitel How Can You Sit There wurde erst drei Jahre später unter dem Titel Against All Odds (Take A Look At Me Now) ein großer Hit.
In The Air Tonight
Superlative gibt es viele, aber sie genügen diesem Song nicht. In The Air Tonight ist ein grandioses Stück Musik, vielleicht das überragendste, das Collins – oder gar irgendjemandem von Genesis – je gelungen ist. Es ist kongenial, wie Collins eine depressive Atmosphäre einlullt und schließlich mit dem bekanntesten Drum-Roll der Musikgeschichte aufplatzen lässt. Anders als Phil Collins Solokarriere insgesamt wurde In The Air Tonight immer besser – zuletzt war es der absolute Höhepunkt auf der First Final Farewell Tour.
This Must Be Love
Während In The Air Tonight quasi Endzeitstimmung verbreitet, zielt This Must Be Love auf genau das andere Lebensgefühl. Phil lernte während der Duke-Tour Jill Tavelmann kennen, die er später auch heiratete. Dieses Ereignis inspirierte ihn zu This Must Be Love. Es ist eine Liebeserklärung, der man heute Kitsch nachsagen würde. Doch Collins war 1980/1981 völlig unbefangen und es gibt nicht viele Collins-Balladen, die an das Niveau von This Must Be Love heranreichen. Legendär wurde auch der Bass-Loop von Alphonso Johnson (Weather Report).
Behind The Lines
Es mutet schon etwas merkwürdig an, dass Phil Collins einen Genesis-Song covert. Damals war aber keineswegs sicher, dass Phils Soloausflug Erfolg haben würde. Genesis spielten während der Aufnahmen zu Duke die Songs mit doppelter Geschwindigkeit ab und Collins erkannte in Behind The Lines ein ganz anderes Potenzial, als die verkappt-bombastische Prog-Nummer, die es schließlich wurde. Seine Version hat Bläser. Und diese verleihen dem Song ein ganz neues Gefühl, einen Groove, etwas funkiges. Auch live war der Song immer ein Knaller – leider spielte Collins ihn nach 1995 nicht mehr.
The Roof Is Leaking
Dass es Collins nicht immer nur um Herzschmerz und Zweisamkeit ging, beweist The Roof Is Leaking. Auf eine gewisse Weise ist es mit This Must Be Love verwandt, aber The Roof Is Leaking trumpft nicht mit einer genialen Basslinie oder einer romantischen Melodie auf, sondern wirkt verstört, nicht zuletzt durch Eric Claptons Gitarrenarbeit. Jahre später bereut Collins seine Entscheidung, den Song am Ende doch zu glatt produziert zu haben – und schwärmt von der „rough version“ der Demos.
Droned
Shankar ist nicht irgendwer – er ist ein virtuoser Violinspieler. Collins hatte fast ein schlechtes Gewissen, ihn nur kleine Parts spielen zu lassen. Shankar selbst nahm das gelassen und erinnerte sich Ende der 90er an die außergewöhnliche Face Value-Session: „Wir hatte keine Ahnung, was er vorhatte – es hätte eine Fusion-Platte werden können, ein Rockalbum, ein Instrumentalalbum. Es war alles spontan. Er konnte alles von jetzt auf gleich ändern. Phil erinnert mich an Frank Zappa“. Und Droned ist vielleicht auch das Stück, mit dem Collins einem Querkopf wie Frank Zappa am nächsten kam. Die Einmaligkeit dieses Juwels im Collins-Katalog ist unbestritten. Wie man auf solch eine Idee kommen kann, bleibt sein Geheimnis. Dass Droned alleine aber auch nicht leben kann, beweist der nächste Song:
Hand In Hand
Es ist der gleiche Drumcomputer und die Überleitung sehr holprig, aber irgendwie passend. Dass Phil in erster Linie Musiker und er in zweiter Linie Sänger ist, wird auf Stücken wie Hand In Handdeutlich. Louis Sattlerfield zollte Collins Talent Tribut: „Er gab uns immer anspruchsvolle Dinge zum Spielen. Hand In Hand war einer der Huffy-Puffy Songs für uns“. Collins wollte Bläser und damit grenzte er sich deutlich von Genesis ab. Aus Hand In Hand wurde ein Klassiker, der 1990 und 1997 als Opener ein absolutes Konzerthighlight war.
I Missed Again
Die zweite Single des Albums war ein Kontrast zu In The Air Tonight. Es zeigt einen verspielten Collins, der in die R&B-Ecke eindringt. Im Jahr 1981 war dies schon etwas besonderes, es handelte sich zum Teil um „schwarze“ Musik – selbst zu dieser Zeit gab es genug Sender in den USA, die so etwas nicht spielen wollten, weil es schwarze und weiße Musik vermischt. Collins machte diesen Stilmix salonfähig – oder hat zumindest eine Aktie daran. I Missed Again wurde ein Top-20-Erfolg für Collins.
You Know What I Mean
Der Prototyp der Collins-Balladen ist nicht In The Air Tonight, sondern You Know What I Mean. Reduziert auf das Klavier und Streicher zelebriert Collins mit gebrochener Stimme seinen Schmerz – und das dauert nicht mehr als zweieinhalb Minuten und zwei Strophen, um maximale Wirkung zu erzielen. Selten kam er in den weiteren Jahren seiner Karriere an diesen Song heran – Long Long Way To Go vielleicht, We Fly So Close gegebenenfalls – dennoch bleibt You Know What I Mean unangetastet – ein Juwel!
Thunder And Lightning
Der vielleicht unauffälligste Song des Albums ist Thunder And Lightning. Wieder sind es die Bläser und ein Up-Tempo-Feeling, das den Song trägt. Insgesamt reativ unspektakulär, was aber im Schatten der Klasse des Gesamtalbums nicht viel heißt. Vrmutlich wäre der Song auf vielen anderen Alben im Kontext ein Highlight gewesen.
I’m Not Moving
Dies ist eine Up-Tempo-Nummer, die nach wie vor in Collins Katalog eine Ausnahmeerscheinung bleibt. Selten klang er so funky, gelöst, ungezwungen. Nur etwa zweieinhalb Minuten dauert das Stück, bei dem Collins fast schon schüchtern singend anfängt, ehe der Song sich zu einer Art trotzigen „ach-egal“-Nummer entwickelt. 1993 bei MTV Most Wanted spielte Collins den Song auf dem E-Piano an und kaum einer erkannte ihn …
If Leaving Me Is Easy
Es ist nicht leicht, Eric Claptons Gitarrenarbeit auf If Leaving Me Is Easyherauszuhören. Viel leichter ist es, Arif Mardins Streicher-Arragement zu würdigen. Der Song ist zweifelsohne ein Highlight des Albums, und das, obwoh er eigentlich sterbenslangweilig sein müsste. Doch die Art und Weise, wie Collins quasi „zerbrochen“ singt, das geniale Sax-Intro und der „wake-up-call“ am Ende runden die knapp fünf Minuten Musik zu etwas besonderem ab. Collins spielte den Song nicht oft live – ihm gefiel vor allem nicht, dass während des Songs Unruhe im Publikum herrschte. If Leaving Me Is Easy ist eben keine Massenware, sondern für die Masse Gelegenheit, Bier zu holen. Auch auf diese Weise zeigt sich manchmal, welche Klasse ein Song hat.
Tomorrow Never Knows
Hand In Hand rückwärts gespielt? Das gibt es, am Ende von Tomorrow Never Knows. Geniale Alben haben irgendwie alle ihre Momente. Das Finale von Face Value ist Phils Tribut an seinen größten Einfluss, die Beatles. Er imitiert und interpretiert John Lennon verdächtig gut und mit Tomorrow Never Knows entfernt er sich soweit von Collins, wie sich Collins von Collins entfernen kann. Am Ende kommt gleich noch eine Hommage – Phil singt Over The Rainbow und plötzlich entflieht Fave Valueins Nichts – doch vorher hört man noch ein flüchtiges „again“ …
Acht Songs, zwei Coverversionen, zwei instrumentale Nummern – Collins schnürte 1980/81 ein musikalisches Paket, das ihm am Herzen lag. Er grenzte sich deutlich von Genesis ab und lehnte sich heftigst aus dem Fenster, auch wenn ihm das kaum bewusst war. Mit Eric Clapton, Alphonso Johnson, Shankar, den Phoenix Horns oder Arif Mardin versammelte der damals eher unbekannte Schlagzeuger eine erstaunliche Gastmusikerliste um sich. Face Value musste nach der Veröffentlichung erst einmal sacken. Genesis nahmen in der Zeit Abacab auf, als Face Value ansetzte, die Welt zu erobern. Der Erfolg muss für einen Mann, der erst fünf Jahre zuvor vom Schlagzeug ins Rampenlicht wankte, unwirklich gewesen sein – und eine große Hypothek. Es ist Spekulation, aber vermutlich ist Face Value für Collins eine große Hypothek gewesen. Der Erfolg nahm ihm viele ungezwungene Elemente seiner Musik. Der Frank Zappa, den Shankar auf Face Value in Collins Arbeitsweise ausmachte, war danach weg und kam nicht mehr wieder. Vielleicht ist es auch gut so, dass Collins nie versucht hat, Face Value zu kopieren. Vielleicht konnte er das aber auch einfach gar nicht, obwohl er es gewollt hat.
Es gibt in der Geschichte von Genesis wichtige Jahre und entscheidende Wendepunkte. Der Ausstieg von Anthony Phillips, der Einstieg von Hackett und Collins 1970/71. Gabriels Ausstieg 1975 ist ohne Zweifel auch so ein Moment, wie auch Hacketts Ausstieg 1977. Peter Gabriels Ausflug in den Mainstream und sein künstlerischen Musikvideos waren 1986 auch so ein Moment. Oder 1989, als Mike + The Mechanics nach Genesis, Gabriel und Collins ebenfalls einen amerikanischen Nr.-1-Hit landeten. Der Ausstieg von Collins 1996 und die Ankündigung der Reunion-Tour 2006 waren ach solche Momente. Vielleicht der künstlerisch wertvollste Moment fand aber 1981 mit der Veröffentlichung von Face Value statt. Dass ein Album mit solch einer Klasse so einen Erfolg haben kann, ist nach wie vor erstaunlich. Dass eine Band wie Genesis eine solche Vielzahl von talentierten Einzelmusikern produzierte, auch. Face Value könnte DAS Album der Genesis-Familie sein. Es gibt einige Klassiker – Selling England By The Pound, The Lamb Lies Down On Broadway, A Trick Of The Tail – oder Soloalben wie 4 (Security), So, The Geese And The Ghost oder Voyage Of The Acolyte – auch spätere Alben wie Darktown und Up. Aber Face Value ist irgendwie anders. Vielleicht einfach besser?
Autor: Christian Gerhardts
. Wir wussten zu keinem Zeitpunkt, was er vorhat. Es es eine Rockplatte wird, eine Jazzplatte, ein Instrumentalalbum. Phil hat dieses Talent, einem Weg zu folgen, ist aber flexibel genug, auf dem Weg woanders abzubiegen. Er erinnert mich an Frank Zappa“ (Shankar)
. Man kommt ins Studio und da steht Phil und sieht aus wie ein englischer Bauer“ (Daryl Stuermer)
. Phil zeigte mir diese Zettel mit Punkten und Strichen und deutete an, wie wir es spielen sollten. Ich dachte, der ist völlig durchgeknallt. Aber die Kohle stimmte, also war es genial“ (TomTom Washington)
. Man sagte uns, wir sollen für einen gewissen Phil Collins spielen. Das sagte uns gar nichts. Dann sagte man uns, er sei Sänger bei Genesis – aber das sagte uns auch nichts“ (TomTom Washington)
„Wenn Leute kommen und mir was vorspielen, was ständig vorkommt, und sie meinen, es seit gut, dann sag ich ihnen immer, wenn es ein Hit sein soll, dann muss es annährend so gut wie das hier sein, um ein Hit zu werden – auch wenn es nie daran herankommen wird“ (Ahmet Ertegün über In The Air Tonight)