- Artikel
- Lesezeit ca. 14 Minuten
Phil Collins – Dance Into The Light – Rezension
Ein halbes Jahr nach oder offziellen Trennung von Genesis veröffentlicht Phil Collins Dance Into The Light. Das Album enthält einige Überraschungen, so gibt es z.B. keinen Drumcomputer auf dem Album. Bernd Vormwald legt hier eine intensive Analyse vor…
Viel ist geschehen seit dem letzten Phil Collins-Album Both Sides: Eine gigantische vierzehnmonatige Welttournee, die Trennung von Ehefrau Jill und Töchterchen Lily, der Umzug von England in die Schweiz zu seiner neuen Freundin Orianne und last but not least die Trennung von Tony Banks und Mike Rutherford, besser bekannt als Genesis. Man durfte gespannt sein auf das neue Album Dance Into The Light, und, soviel sei vorweggenommen, die Erwartungen werden nicht enttäuscht.
Mit Dance Into The Light liefert Phil Collins sein sechstes Studioalbum ab, das den Vergleich mit „Klassikern“ wie Face Value oder …But Seriously nicht zu scheuen braucht. Litt Both Sides noch darunter, dass es im Grunde unfertige Home-Demo-Versionen beinhaltete, glänzt Dance Into The Light nicht zuletzt durch eine ausgezeichnete, größtenteils live-erprobte Band:
Collins langjähriger Wegbegleiter Daryl Stuermer erhielt mit Ronnie Caryl „Konkurrenz“ an der Gitarre. Collins: „Mit ihm hatte ich schon zu Schulzeiten eine Art Supergroup gegründet. Da spielte ich wie Ginger Baker, und Ronnie war Eric Clapton. Wir nannten uns The Real Thing. Wir waren 13 oder 14 Jahre alt. Ich habe immer Kontakt zu ihm gehalten. Als ich ihn jetzt um Mitarbeit bat, dachte er, das sei mal wieder so ein Witz von mir. Als Ronnie dann wirklich im Studio auftauchte, war Daryl anfangs leicht pikiert, so nach dem Motto: ‚Was, du hast noch eine zweite Geliebte außer mir?‘ Aber das hat sich eingerenkt. Daryl spielt ja die Lead-Gitarre. Er klingt sehr smooth und Ronnie ein bisschen kantig. Die beiden ergänzen sich gut“.
Am Bass taucht zum zweiten Mal auf einem Collins-Album Nathan East auf (auf …But Seriously spielte er bei den Stücken Hang In Long Enough und Something Happened On The Way To Heaven), dem es mit seinem exzellenten, engagierten Bassspiel gelingt, die Lücke zu schließen, die Saitenstreichler Leland Sklar hinterließ. Brad Cole, seit einigen Jahren Nachfolger von Peter Robinson als Livekeyboarder, ging erstmals mit Collins ins Studio. Des weiteren sind aus der Both Sides-Livecrew die seinerzeit neugegründeten Vine Street Horns (Harry Kim, Trompete / Daniel Fornero, Trompete / Arturo Velasco, Posaune / Andrew Woolfolk, Saxophon) und die Sangeskolleginnen Amy Keys und Arnold McCuller mit von der Partie – auch sie trugen einen nicht unerheblichen Teil zum Gelingen von Dance Into The Light bei. Phil Collins selbst steuert Percussions‘ (Schlagzeug, Kalimba u. a.) und Keyboards (Lead, Slide & Rhythm Guitars, Bagpipes u. a.) bei und singt natürlich.
Der Gesang, der auf dieser Platte mit sehr viel Liebe häufig zwei- und mehrstimmig arrangiert wurde, ist eines der auffälligsten Merkmale, egal ob Collins nun selbst die weiteren Stimmen singt oder das Duo Keys/McCuller. Die drei Stimmen harmonieren sehr gut miteinander. Eine bemerkenswerte Neuigkeit ist auch, dass Collins diesmal völlig auf Drummachines verzichtete! Wenn man sich die eigentlich unnötige Mühe macht, Dance Into The Light zu schubladisieren, stößt man darauf, dass diese CD auch den Titel Four Sides hätte tragen können, da sich vier stilistische Grobrichtungen herausfiltern lassen:
Neben Collins-typischen Stücken (z.B. Dance Into The Light, The Same Moon) stehen „südkontinental“, sprich:afrikanisch oder südamerikanisch beeinflusste (z. B. Lorenzo, Wear My Hat), jazzig-funkige (z. B. Just Another Story, Oughta Know By Now) und Collins-untypische gitarrenlastige Songs (z. B. Love Police, That’s What You Said). Wenn man diesen künstlichen Trennungsversuch unterlässt und das Gesamtwerk betrachtet, holt sich Collins seine Inspiration aus allen möglichen musikalischen Richtungen und legt damit eine undogmatische Weltoffenheit zutage, die bereits Musiker wie Peter Gabriel, Sting oder Mike Oldfield zu Weltruhm gelangen ließ, die wie Collins keine Lust haben, in der großen Villa Musik nur ein paar wenige Räume zu bewohnen. Aus dieser Offenheit ist eine sehr interessante Mischung entstanden, die Dance Into The Light zu einem überaus hörenswerten Album macht!
Erstmals ziert nicht Collins‘ Kopf das Cover eines Soloalbums, sondern passendzum Titel zeigt uns Phil einen farblich gelungenen, leicht unscharfen Dance Into The Light. Das künstlerisch gestaltete Booklet zeigt weitere Fotos aus der Cover-Photo-Session. Sehen wir uns nun aber die dreizehn Titel dieser CD einmal etwas genauer an…
Dance Into The Light
Tempo: 87 beats per minute
Tonart: C-Dur mit Wechsel auf D-Dur
Takt: 6/4
Das neue Album von Phil Collins beginnt mit einem Stück im 6/4-Takt, einer Taktart, die zwar nicht wahnsinnig außergewöhnlich ist, jedoch im Bereich Pop- und Rockmusik nicht sehr häufig Anwendung findet. Nach dem sextolischen Schlagzeug-Auftakt folgt eine Collins-typische Groove-Nummer mit satten Bläsern, mehrstimmigen Gesangsarrangements und Melodien, die sich hitverdächtig im Ohr festsetzen. Das Keyboard am Ende erinnert in Sound, Arrangementstilistik und Melodieführung an In The Air Tonight und Hand In Hand. Textlich ist Dance Into The Light eine metaphorische und euphorische Ode an die Lebensfreude, die Selbstentfaltung und den Weg in die seelische Freiheit, zu der jeder Mensch „den Schlüssel selbst in der Hand hält.“ Blicke nach vorne, „dreh dich nicht um“ – der Tanz ins Licht ist ein Tanz ins Glücklichsein, ins Genießen des Augenblicks. Wer es alleine nicht schafft, wird unterstützt von der menschlichen Gemeinschaft: „Seite an Seite haben wir keine Furcht!“
Dance Into The Light ist eines von vier Stücken, bei denen die komplette Band zum Einsatz kommt.
That’s What You Said (Spirit Of ’65)
Tempo: 128 beats per minute
Tonart: Es-Dur, Bridge in Ges-Dur
Takt: 4/4
1965 veröffentlichten The Beatles ihr Album Help, und genau auf dieses Album würde That’s What You Said (Spirit Of ’65) mit dem hundertprozentigen Ticket To Ride-Feeling hervorragend passen. Der im Untertitel des Songs heraufbeschworene „Geist von 1965“ wird tatsächlich lebendig. Auffallend und für Collins ungewöhnlich ist die Gitarrenlastigkeit dieses Songs, für die gleich drei Musiker verantwortlich zeichnen: Stuermer, Caryl und Collins selbst. Die Beatles-Stilistik des Gitarrensolos wurde bereits von Genesis in dem Song Tell Me Why nachvollzogen. Dieser anfangs recht harmlos wirkende Song wartet mit einem interessanten Takt-Schema auf:
1. Strophe: 7 Takte / 7 Takte / 3 Takte
1. Refrain: 4 Takte / 5 Takte
2. Strophe: 7 Takte / 7 Takte / 3 Takte
2. Refrain: 4 Takte / 5 Takte
1. Bridge: 4 Takte / 7 Takte
Solo: 7 Takte / 7 Takte / 3 Takte
3. Refrain: 4 Takte / 7 Takte
2. Bridge: 4 Takte / 7 Takte
3. Strophe: 7 Takte / 7 Takte / 3 Takte
4. Refrain: Fade-out, daher nicht zählbar
Wetten, dass sich Collins ganz schön den Kopf über dieses Schema zerbrochen hat! Der Harmoniewechsel am Ende der Bridge (Des-Dur nach Des-Moll) taucht in dieser Art auch am Refrainende von Land Of Confusion auf, dort allerdings von As-Dur nach As-Moll! Und noch eine Assoziation: Ein bisschen erinnert That’s What You Said (Spirit Of ’65) auch an den Beatles-Song Norwegian Wood. Der Text handelt von einem Mann, der es nicht verkraftet, dass sich seine Julia von ihrem Romeo getrennt hat. Dieser Song wurde ohne Bläser und Keyboards eingespielt, der Gesang stammt ausschließlich von Phil Collins.
Lorenzo
Tempo: 118 beats per minute
Tonart: As-Dur
Takt: 4/4
Die „Buschnummer“ Lorenzo ist eine Art Verquickung von Find A Way To My Heart und Biko. Die gabrielesque Wirkung wird noch verstärkt durch die David Rhodes-artige Gitarrenfigur. Collins-typisch ist der tiefe Bordunton, der dieses Stück in weiten Teilen unterlegt (As). Im Mittelteil trommelt Collins, was die Felle hergeben; besonders beeindruckend sind hierbei die schnellen Rolls auf den Schlagzeug-Toms. Die packende Gesangsschlusspassage „Come with me I’m going back…“ hat ein einziges Manko: Sie ist viel zu kurz! Der Text stammt nicht von Phil Collins, sondern von einer Dame namens Michaela Odone. Sie erzählt die authentische Geschichte ihres Sohnes Lorenzo, mit dem die Familie bis zu dessen 4. Lebensjahr in Ostafrika lebte und der nachder Rückkehr in die USA an der unheilbaren Stoffwechselkrankheit ALD erkrankte (verfilmt als „Lorenzos Öl“). Bei diesem Stück wirkt bis auf die Bläser die komplette Band mit.
Just Another Story
Tempo: 84 beats per minute
Tonart: Es-Blues
Takt: 4/4
Just Another Story ist in seiner Stilistik mit Sicherheit ein Produkt von Collins‘ Zusammenarbeit mit der Big Band. So cool-jazzig präsentierte sich Collins eigentlich noch nie. Dieses Stück ist eine Art „Slow-Hip-Hop-Cool-jazz“-Version (Vorsicht: Schublade!) von In The Air Tonight. Man achte mal auf die Harmoniefolge! Der Refrain von In The Air Tonight lässt sich passagenweise problemlos dazu singen. Im Herzen des Stücks erhält Brad Cole die seltene Gelegenheit zu einem Klaviersolo; aber wer ist bloß verantwortlich für die Auswahl des Pianosounds? Ein echtes Klavier hätte hier viel besser gewirkt.
Von Minute 3:35 bis 3:42 zitiert Cole ganz kurz Supertramp im Stil der Schlusspassage von Child Of Vision (Cole war in den 80er Jahren nach dem Ausstieg von Roger Hodgson für einige Zeit Live-Keyboarder bei Supertramp). Das Stück endet mit einem Keyboard-Trompeten-Solo Marke Miles Davis. Warum wurde keine echte Trompete verwendet? Ein Bläserstück ohne Bläser – seltsam (möglicherweise stimmen aber die Angaben im Booklet nicht und hier sind doch echte Bläser am Werk)!
Just Another Story ist ein sozial kritischer Song, der dazu aufruft, wach zu sein, sein Hirn einzuschalten und den eigenen Weg zu gehen, fernab von gruppendynamischen Irrwegen und Manipulationen, falschen Freunden, Drogen, Gewalt, sozialer Blindheit und Feigheit.
Love Police
Tempo: 118 beats per minute
Tonart: Es-Dur, wechselnd im Mittelteil
Takt: 4/4
In einem Interview mit dem Fachblatt Musikmagazin (10/96) erzählt Collins: „Ich habe mir in der Zeit, in der ich die Songs schrieb, sehr viele CDs von Bob Dylan angehört, alte und neue, einfach um mal einen anderen Input zu kriegen. So als würde man den Klassiksender anstatt der Popwelle einschalten. Ich habe mich auch sehr intensiv mit der Musik von Tom Petty beschäftigt und mir vorgestellt, wie anders die Songs klingen wu?rden, wenn man die Gitarre durch Keyboards ersetzen wu?rde. Und genau umgekehrt habe ich es dann mit meinen Songs gemacht. Ich habe die Keyboardparts durch Gitarren ersetzt.“ So geschehen unter anderem im Song Love Police, bei dem der Dylan-Einfluss ganz deutlich zu hören ist.
Über die Passage „If I asked him nicely…“ lässt sich problemlos Dylans Mr. Tambourine Man anstimmen. Eine ungewöhnliche Assoziation stammt von Kultfreund Steffen Gerlach: „Das Stück klingt nach Smokie!“ Für das Gitarrensolo gilt das gleiche wie für das von That’s What You Said (Spirit Of ’65). Eine weitere Parallele zu diesem Song ist die identische Besetzung, mit dem einzigen Unterschied, dass Collins Keyboards spielt, die jedoch kaum hörbar sind. Im mysteriösen Text von Love Police geht es um einen Menschen, der mit seiner Lage unzufrieden ist.
Wear My Hat
Tempo: 138 beats per minute
Tonart: F-Dur mit Wechsel auf Fis-Dur
Takt: 4/4
In einen Interview im Vorfeld der Veröffentlichung von Dance Into The Light äußerte Collins, dass er sich alle Platten von Youssou N’Dour gekauft habe, was auf das Stück Wear My Hat einen gewissen Einfluss hatte. Das Fachblatt-Musikmagazin konfrontierte Collins in seiner Oktoberausgabe mit der Feststellung, der Song Wear My Hat würde an Paul Simons You Can Call Me Al erinnern. Collins: „Das war immer mein Lieblingssong von Paul Simon. Aber ich finde, musikalisch haben die beiden Lieder nicht so viel miteinander zu tun, außer dass sie ein südafrikanisches Feeling haben und Paul und ich Weiße sind. Aber, um ehrlich zu sein, ich hatte befürchtet, dass diese beiden Lieder miteinander verglichen werden.
Im Text geht es um die Fans, die du in den Lobbies der Hotels triffst. Ich schrieb den Song, als ich wegen des Presserummels um meine Scheidung in meinem Hotelzimmer festsaß. Wenn ich mich mal in die Lobby runtertraute, lauerten dort schon die Fans, wildfremde Typen, die fragten: ‚Hey, Phil, erinnerst du dich noch an mich?‘ „Musikalisch bemerkenswert und in diesem Song besonders herausragend sind die Gesangsarrangements. Ungewöhnlich ist, dass Collins die Snaredrum zu Beginn eines jeden Taktes schlägt. Bei Wear My Hat kommt mal wieder die komplette Band zu Einsatz.
It’s In Your Eyes
Tempo: 120 beats per minute
Tonart: F-DurTakt: 4/4
It’s In Your Eyes hat mit dem fast gleichnamigen Gabriel-Stück nichts gemeinsam außer dem Titel. Dieser Song bildet eine Art Trilogie mit Love Police und That’s What You Said (Spirit Of ’65). Auch hier stehen die Gitarren klar im Vordergrund. Und auch hier stand ein Beatles Song geistig Pate: It’s In Your Eyes klingt wie eine verlangsamte Version des Beatles-Klassikers She Loves You. Collins: „Meine Schwester dachte, dass es in It’s In Your Eyes um meine vorige Freundin geht, um die Beziehung, wegen der ich mich letztendlich scheiden ließ. Dabei war mir der Text ohne irgendeinen bestimmten Zusammenhang eingefallen. Es könnte letztlich genauso gut um meine Tochter Lily gehen. It’s In Your Eyes klingt ein bisschen nach Britpop à la Beatles oder Oasis.“
Ohne diese Information aus erster Hand würde man It’s In Your Eyes wohl als Liebeslied über einen Mann beschreiben, der um eine Frau wirbt, die ihn zwar verlassen hat, die er jedoch noch immer begehrt und bei der er wahrnimmt, dass dies wohl auf Gegenseitigkeit beruht. Laut Booklet spielt bei diesem Song die komplette Band, aber ich konnte bislang weder Bläser noch andere Stimmen außer der von Collins identifizieren. Aber ich brauchte auch Jahre, um Eric Claptons Gitarre bei If Leaving Me Is Easy herauszuhören…
Oughta Know By Now
Tempo: 78 beats per minute
Tonart: Des-Moll mit Wechsel nach Es-Moll
Takt: 4/4
Der Song beginnt mit einem raffinierten Schlagzeugintro: Die Schläge sind versetzt, und der Bläsereinsatz ist eine Sechzehntel vorgezogen. Die Inspiration zu diesem Stück könnte sich Collins bei Bands wie The Temptations geholt haben. Wer kennt nicht deren Welthit Papa Was A Rolling Stone? Eine Art „Spirit Of The Seventies“ groovt in dieser schleppenden Nummer mit, die ihren Reiz aber genau in dieser groovenden Trägheit hat. Ronnie Caryls funkige Gitarrenfigur auf den ersten vier Sechzehnteln jedes Strophentaktes verleiht Oughta Know By Now eine hypnotische Wirkung, die noch verstärkt wird durch das „Dreaming While You Sleep-artige Geklöppel“ im Hintergrund.
Interessant gestaltet ist der Tonartenwechsel mit Stuermers Gitarrenlinie. Stuermer schwingt sich darüber hinaus gleich zweimal zu einem Solo auf. Der Text beschreibt das Buhlen eines Mannes um die Zweisamkeit mit einer Frau, die ihn „in der Warteschleife zappeln lässt“. Er wartet auf ein Zeichen, um aus diesem unerträglichen Zustand erlöst zu werden. Zum dritten Mal bekommen wir die komplette Band zu hören.
Take Me Down
Tempo: 137 beats per minute
Tonart: Es-Dur
Takt: 4/4
Die stilistische Benennung von Take Me Down könnte „Afro-Swing-Spiritual“ lauten. Der Spiritualcharakter verbreitet sich z. B. durch den Gesang, die rhythmischen Hand-Claps und die Orgel, die den Zuhörer im Geiste in einen Gottesdienst der Schwarzen in den USA versetzen. Daryl Stuermer spielt sehr interessante Gitarrenostinati. Ein Bläsereinsatz bei Minute 1:49 erinnert an It Don’t Matter To Me. Zur Musik würde die Textinterpretation passen, dass es sich bei Take Me Down um das Gebet eines Menschen handelt,der vom Atheismus zum Glauben findet.
Es könnte aber auch sein, dass jemand beschrieben wird, dem „viel Schmerz widerfuhr,“ der „in der Dunkelheit“ herumirrte und der auf Grund seiner Erfahrungen noch voller Misstrauen Orientierung durch ein menschliches Vorbild oder einen Freund sucht: „Lehre mich alles, was ich wissen sollte, gib mir ein Zeichen,“ um eine neue Chance zu finden und zu nutzen, mein Leben in den Griff zu bekommen. Take Me Down ist der vierte und letzte Song, bei dem alle Musiker zu hören sind, die auf diesem Album mitwirken.
The Same Moon
Tempo: 80 beats per minute
Tonart: As-Dur mit Übergang nach C-Dur
Takt: 4/4
The Same Moon klingt wie eine Reminiszenz an das Both Sides–Album. Collins‘ Home-Demo-Synthie-Gitarre, die bereits auf dem Vorgängeralbum das eine oder andere Stück ruinierte, geht auch hier wieder auf die Nerven. Von Komposition und Arrangement her (kurze, trockene Gitarrentöne) erinnert The Same Moon an den Song All Of My Life vom …But Seriously-Album. Das Highlight dieses Songs ist der Mittelteil, der allerdings nicht ganz auskomponiert wirkt, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass er mehr als geschickter Übergang zum Tonartenwechsel denn als eigenständiger Part fungiert. Interessant ist auch Collins‘ Percussion, die zwar drummachineartig klingt, jedoch per Hand eingespielt wurde.
In The Same Moon geht es um ein kurzfristig oder dauerhaft getrenntes Paar, das seine Einsamkeit überwinden und Nähe empfinden möchte, indem es „zum gleichen Mond hinaufschaut,“ mit der Sehnsucht, sich tatsächlich bald wiedersehen und spüren zu können. Aus dem Text wird nicht richtig klar, ob der Wunsch der Vater der Gedanken des Mannes ist oder ob die Frau die Gefühle erwidert. Es spielt die komplette Band ohne Bläser.
River So Wide
Tempo: 140 beats per minute
Tonart: Des-Dur
Takt: 4/4
Nach einem genialen Intro folgt ein kraftvolles Stück mit Collins-typischem, fast durchgängig gleichem Bassgrundton. Die triolische Schlagzeugüberleitung nach dem Intro ist uns wohlvertraut aus dem Stück Colours. River So Wide ist eine Art musikalischer Bruder des Stücks Lorenzo. Auch hier dominieren ganz eindeutig afrikanische Einflüsse. Es ist fast schon überflüssig, auch bei diesem Stück wieder auf den großartigen Gesang hinzuweisen. In der Mitte des Stücks brilliert Stuermer mit einem Gitarrensolo, das seine Spielart charakterisiert: Technisch perfekt, aber manchmal etwas unbeseelt. Am Ende des Stücks darf Stuermer noch einmal ran: Er strickt einen Teppich aus mehreren Gitarren.
Ansonsten bekommen wir erneut die komplette Band ohne Bläser zu hören. Der Text von River So Wide nimmt Gedanken von Dance Into The Light wieder auf: Es geht um den Weg ins Licht, diesmal jedoch in einem globaleren Sinne. Die Menschen sind getrennt durcheinen breiten Fluss. Die Menschheit soll ihre „stürmische Vergangenheit zurücklassen“ und kapieren, dass es jetzt „allerhöchste Zeit ist für Veränderungen,“ …vielleicht „die letzte Chance, eine Brücke über diesen Fluss zu bauen,“ um eine gelungenere Gegenwart und Zukunft zu gestalten, denn im Grunde „sind wir alle gleich, lasst uns den Fluss überqueren, der uns trennt.“
No Matter Who
Tempo: 93 beats per minute
Tonart: F-Dur/G-Dur/F-Dur
Takt: 4/4
No Matter Who ist ein wunderschönes, relaxtes Liebeslied, das sich ganz sanft im Stile von James Taylor in die Gehörgänge schmeichelt und aus diesen beiden Gründen an Everyday erinnert. Das Gitarrensolo steuert diesmal Ronnie Caryl bei, und es tut gut, dass auf einem Collins-Album mal (sorry, Daryl!) nicht Daryl Stuermer in die Saiten greift. Der Einstieg zum Mittelteil erinnert harmonisch an Do You Remember. Nach That’s What You Said, Love Police und It’s ln Your Eyes ist No Matter Who der vierte gitarrenlastige Song dieses Albums, jedoch mit einer anderen Stilistik als die drei erstgenannten Songs. Neben dem Fehlen Stuermers ist noch erwähnenswert, dass dieser Song im Trio (Collins, East, Caryl) eingespielt wurde.
The Times They Are A-Changin‘
Tempo: 98 beats per minute
Tonart: G-Dur mit Wechsel nach A-Dur
Takt: 4/4 und 6/4 oder durchgehend 2/4
Sollte dies der musikalische Abschiedsgruß an Tony Banks und Mike Rutherford sein: Die Zeiten ändern sich? Wohl kaum, denn der sehr politische Text sowie die Musik dieses Songs stammen von Bob Dylan, dessen Knocking On Heaven’s Door von Collins übrigens bereits auf der Both Sides-Tour als Reggaeversion gecovert wurde. Nach einem Mono(!)-Intro, bei dem Collins Klavier spielt und singt, steigert sich der Song zu einem Driving The Last Spike-Groove ab Strophe 3. Interessant ist das Taktmuster dieses Songs: Man könnte die ganze Zeit problemlos einen 2/4-Takt zählen. Wenn man sich für einen durchgehenden 4/4-Takt entscheidet, dann geht das zwar auch auf, aber der gesamte Song wirkt merkwürdig verschoben. Die zutreffendste Zählweise ist wohl ein Wechsel zwischen 6/4- und 4/4-Takt. Daraus würde sich folgendes Schema ergeben: 6, 6, 4, 4. 6, 4, 4, 4. 4, 4, 6, 4, 4. Probiert’s doch einfach mal selbst aus!
Während Collins bei einigen seiner Songs die Keyboards durch Gitarren ersetzte, verfuhr er mit diesem Dylan-Song genau umgekehrt. Erwähnenswert ist noch, dass Collins Dudelsack spielt, aber mit ziemlicher Sicherheit nicht in natura, sondern per Synthesizer. Der Schlusssong von Dance Into The Light wird ohne Bläser und Gesang von Keys/McCuller dargeboten.
Autor: Bernd Vormwald
zuerst veröffentlicht in it Nr.21 (Dezember 1996)