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Phil Collins – Both Sides – Rezension

Nach der höchst erfolgreichen Genesis-Tour 1992 kehrte Phil schnell ins Studio zurück, um – wie sich später herausstellte – die Probleme seines Privatlebens zu verarbeiten. Herausgekommen ist Both Sides, ein sehr persönliches Album ohne Begleitmusiker.

Nun ist es endlich soweit. Nach der Veröffentlichung der Vorab-Single Both Sides Of The Story hat Phil Collins am 08.11.93 nach vier Jahren Wartezeit sein fünftes Studio-Album herausgebracht.

Nachdem er 1991/92 seine volle Kraft in das Genesis-Album und die darauf folgende Tour gesteckt und anschließend seinen Film Frauds „promotet“ hatte, ging er im Sommer und Frühherbst diesen Jahres ins Studio und ließ dort seinen eigenen musikalischen Vorstellungen freien Lauf – das Resultat: Both Sides (in nur 6 Wochen aufgenommen).

Genauer gesagt nahm er das gesamte Album instrumental – und auch die vocals – in seinem kleinen 12-Spur Demo-Raum in seinem Haus auf. Auf der „Farm“ wurde dann dem Album nur noch der letzte Feinschliff (d. h. Mixen, Drums,etc.) verpasst. Es war sicherlich nicht leicht, nach einem Album wie But Seriously ein gleichwertiges oder besseres Folgealbum zu produzieren, doch mit der 67:18-minütigen Scheibe ist Phil wieder ein Meisterwerk geglückt. Sie ist erhältlich als CD, MC und Doppel-LP.

Im Gegensatz zu den vorherigen Alben wurde Both Sides von Phil alleine produziert, nur Toningenieur Paul Gomershall (bereits bei Serious Hits Livedabei) und Assistent Mark Robinson (bekannt von We Can ‚t Dance) standen ihm zur Seite. Ebenfalls neu auf diesem Album ist die Tatsache, dass Phil zum ersten Mal alle Instrumente, auch Gitarre und Bass, alleine spielt, und somit ohne die Unterstützung von Leland Sklar, Daryl Stuermer etc. (bekannt von vorherigen Alben und Tourneen) auskam.

Mit den 11 Songs beschreibt Mr. Collins seine eigenen Gefühle und privaten Probleme ebenso wie er öffentliche, politische Themen anklagt. Both Sides ist nüchterner und weniger wuchtig produziert als alles, was Phil je gemacht hat – sogar verglichen mit Face Value, womit er die Scheidung von seiner ersten Frau Andrea verarbeitete. Durch dieses persönlichste seiner Werke zieht sich fast vollständig – wie ein roter Faden – eine einheitliche Stimmung. Phil: „lch hatte am Ende 17 Songs und ich habe einfach die meisten davon rausgeschmissen, die nicht zu dieser Stimmung passten. Was die Performance angeht, so hat dies mehr Herz und Seele als alles, was ich je gemacht habe.“

Phil Collins Both Sides Cover

Noch mehr als auf den vorhergehenden Platten dominieren auf Both Sides private Songs, was auf private Probleme schließen läßt, worüber Phil jedoch nicht reden möchte, sondern nur den Tip gibt, sich seine Songs anzuhören: „Midlife-Crisis? Damit hat es auch zu tun. Aber obendrein hat sich in meinem Privatleben etwas Schwerwiegendes ereignet. Mehr sage ich nicht“. Zu den Einflüssen seiner Gefühle auf die Songs sagt er leise, als hätte ihm innerlich etwas einen Stich versetzt: „Ich habe diesen Punkt erreicht. Sehr vertrauliche, sehr private Songs schienen einfach zu fließen. Ich fühlte auf einmal, dass ich eine Menge zu sagen hatte.“ Jeder mag sich selber eine Meinung über Phil’s gefühlsmäßige Verfassung machen. In meinen Augen – und wie er auch in einem Interview schon sagte – hat er eine sehr schwere Phase durchgemacht die vergleichbar mit seiner Scheidung Ende der siebziger Jahre war. So können wir nur hoffen, dass er möglichst bald aus seinem Tief wieder herauskommt – obwohl in solchen Situationen seine schönsten Songs entstanden.

Both Sides Of The Story

Die erste Singleauskopplung aus dem Album befasst sich mit der Ungerechtigkeit, die in verschiedenen Formen auf dieser Welt vorkommt. Phil rechtfertigt das Auftreten der Farbigen und verurteilt gleichzeitig die unterdrückenden Rassen, sich nicht mit dem Problem Rassismus zu beschäftigen.Das Stück ist mit 6:43 min. das wohl aggressivste Lied des Albums und erinnert durch das sozialkritische Thema stark an die erste Singleauskopplung des letzten Albums, Another Day In Paradise.

Can’t Turn Back The Years

Mit 4:40 min. das kürzeste Lied des Albums, jedoch eines der aussagekräftigsten. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen, sondern man muss aus ihr lernen. Die Vergangenheit kann nicht verdrängt werden; man wird immer wieder an Geschehenes erinnert.

Everyday

Phil eröffnet dieses Lied mit einem Klavier-Solo. Mit gefühlsbetonter Stimme hebt er die Bedeutung des Partners vor. Die Liebe kann dich zu Taten hinreißen, von denen man nie geglaubt hätte, dass sie möglich wären. Er versucht, das Phänomen „Liebe“ zu erklären und schafft dies in 5:44 min. auch sehr eindrucksvoll.

I’ve Forgotten Everything

Das Schlagzeug eröffnet das 5:15 lange Stück, ehe Phil langsam dazu einsetzt. Die Liebe kann vergänglich sein; man erinnert sich nur noch schwach an gemeinsame Zeiten. Wird man an diese Zeiten erinnert, wundert man sich, warum nichts mehr davon übrig ist.

We’re Sons Of Our Fathers

Durch eine County-Gitarre fühlt man sich zeitlich zurückversetzt. Die Familienwerte sind im Gegensatz zu frü̈her stark gesunken. In 6:24 min. besingt Phil, dass die Kinder in der heutigen Zeit immer mehr ihren eigenen Weg gehen und respektloser werden. Ein sehr interessantes Stück, das viele Instrumente miteinander verknüpft.

Can’t Find My Way

Phil Collins Pressefoto 1993

Es ist schwer, den eigenen Weg für sich zu finden. Man besinnt sich und denkt über den Weg des Lebens nach. Man versucht immer das Beste zu machen, im Endeffekt scheint dies der richtige Weg zu sein. Das 5:09 min. andauernde Stück ist eines der langsamsten auf dem Album.

Survivors

Von der Aufmachung her ähnelt das 6:04 min. lange Stück sehr Both Sides Of The Story. Verzeihen zu können, ist ein hohes Gut; niemals den Anderen verletzen zu wollen und sich gegenseitig zu verzeihen trägt zum Überleben in dieser Welt bei. Phil singt in einigen Teilen des Liedes relativ hoch und unterstützt seine musikalischen Elemente eindrucksvoll. Das Stück ist relativ schnell und erhält durch den Refrain den richtigen Kick.

We Fly So Close

Mit 7:33 min. das längste Stück des Albums. Die Gitarre eröffnet das Lied, ehe Phil mit einstimmt. Es geht um die Einsamkeit, die unter den Menschen herrscht. Man ist sich manchmal so nahe und doch merkt man es nicht. Dies gilt sowohl für die alltäglichen Dinge des Lebens, als auch für Dinge, die das Leben verändern können.

There’s A Place For Us

Vermutlich das langsamste Stück des Albums. Irgendwo gibt es einen Ort und eine Zeit, in der man zu zweit leben kann. Phil besingt den Wunsch nach Gemeinsamkeit und Zärtlichkeit. Zweifel für diese Beziehung räumt er aus, indem er sagt, dass es irgendwo den Ort und die Zeit dafür gibt, wenn man es zusammen probiert. Mit 6:53 min. ein relativ langes und einfühlsames Lied.

We Wait And We Wonder

Ein Dudelsack eröffnet das mit 7:01 min. zweitlängste Stück des Albums. Der Terror in Nordirland ist das Thema dieses Liedes. Man sieht zu, wartet und wundert sich nur, dass sich nichts ändert, weil jeder auf seinem eigenen Weg beharrt.

Please Come Out Tonight

In 5:47 min. drückt Phil die Sehnsucht nach Zweisamkeit aus. Einfach nur das Gefühl haben, dass jemand da ist, an den man sich anlehnen kann. Er drückt aus, dass das Gefühl wichtiger ist als Worte, die man zu diesem Thema sagen könnte.

Autoren: Claudia Moll (Text), Andreas Bonder (Songs)
zuerst veröffentlicht in it Nr.09 (Dezember 1993)