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Phil Collins – 20 Jahre Both Sides – Rückblick und Nachbetrachtung

Am 8.11.1993 veröffentlichte Phil Collins sein vermutlich persönlichstes Album Both Sides. Es war ein Bruch in seinem Schaffen und es wurde unter Fans kontrovers diskutiert. Peter Maiwald erinnert sich und für ihn hat das Album bis heute nichts von seinem ganz eigenen Reiz verloren …

Vor 20 Jahren, am 8.11.1993, erschien mit Both Sides ein bis heute besonderes Werk in Phil Collins‘ Karriere. Nach dem weltweit brachial eingeschlagenen Hit-Album …But Seriously, auf dem Collins u.a. mit Marcus Miller, Steve Winwood oder Eric Clapton eine ganze Reihe von Musikergrößen zum Mitspielen einlud, beschränkte er sich für das persönlichste Album seit Face Value für Both Sides ganz auf sich selbst. Collins pur – das sorgte für Diskussionen und bis heute stehen selbst eingefleischte Fangruppen zerstritten da, wenn es um die Bewertung des Albums geht. Peter Maiwald, selbst Musiker und kritischer Fan der Genesis-Familie, erinnert sich und kommt zu einer Nachbetrachtung, die zu diesem Album denkbar gut passt: Eine subjektive und unverblümt persönliche Einschätzung.

Once upon a long time ago – am 08.11.1993 erschien das lang erwartete Album Both Sides von Phil Collins. Nein, dieses wird keine Rezension, wie sie sonst bei so vielen Alben der Protagonisten geschrieben wurde. Es wird eher eine Beleuchtung, was dieses Album in den letzten 20 Jahren aus- bzw. losgelöst hat.

Lange musste die Fangemeinde warten. Sehr wenig sickerte durch, was den Hörer erwarten würde. Und natürlich kam es so, wie es kommen musste – Anfang/Mitte der 90er Jahre waren die Bedingungen der Zulieferung in den Geschäften noch nicht so ausgefeilt wie heutzutage. Es gab jede Menge Verzögerungen – aber irgendwann lag es dann doch Mitte November auf meinem Tisch! das fünfte Studioalbum von Phil Collins.

Die Latte lag sehr hoch, nach dem Album …But Seriously einen würdigen Nachfolger zu präsentieren. Keiner hatte erwartet, dass es die persönlichste Platte von Phil Collins werden würde. Es war ein gewagtes Experiment, alle Instrumente selbst einzuspielen.

Dass Phil Collins in den 80ern und 90ern des letzten Jahrhunderts ein begnadeter Produzent war – und sich KollegInnen reihenweise die „Klinke in die Hand gaben“, damit deren Aufnahmen von ihm produziert werden – war bekannt. Aber dass Mr. Collins jedes der Instrumente auf Both Sides selbst spielte, war für viele überraschend. Unterstützung bei der Produktion bekam er nur von Mark Robinson und Paul Gommershal, welcher auch für den exzellenten Ton des Live-Albums Serious Hits … Live verantwortlich war. So gesehen „schoss“ sich dann auch die Fachpresse auf das Album ein, als wäre kein Entrinnen möglich. Ich kann mich da noch an so manchen Verriss gut erinnern.

Es war schon sehr erschütternd, was manche Kollegen der schreibenden und sendenden Zunft an Beleidigungen abgelassen haben. Das Zitat aus dem „New Musical Express“ ist ja hundertfach im Netz abgedruckt. Für mich ein unmögliches Verhalten, da genau diejenigen, die weltweit diese Art der Verrisse verfassten, wie Unschuldslämmer bei den Presseterminen saßen, als sie persönliche Interviews mit ihm führten. Aber es ist nicht der Sinn dieses Beitrags, mit der Presse zu hadern – es geht schlicht und einfach um Both Sides!

1994 erreichte das Album dreifach-Platin in Deutschland … Die Verkaufszahlen weltweit sind vor allem aus heutiger Sicht atemberaubend.

Nun aber doch … „Track by Track“ – die Eindrücke nach 20 Jahren:-)

Ich denke, ich kann darauf verzichten, ausführlich zu beschreiben, worum es inhaltlich in den Songs geht – das ist in den Jahren zur Genüge an anderer Stelle (auch hier) geschehen… Wenn, dann jetzt nur ansatzweise!

Both Sides

Both Sides Of The Story

Viele HörerInnen haben sich garantiert noch nicht die ersten zwei Sekunden verinnerlicht… Das knarren des Drumhockers vor dem eigentlichen Beginn des Stücks. Und dann – dieser fulminante Anfang – diese Drums, dieser „manuelle Loop“! Die Akkordfolge bringt mir auch nach 20 Jahren immer noch Gänsehaut am ganzen Körper – auch wenn diese aus viele Stücken vorher (und auch danach) mehr als bekannt ist. Der geniale und dramatische Keyboardteppich – auch nach den ganzen Jahren immer noch aktuell und nicht altbacken. Und die Stimme von Phil: Kraftvoller denn je! Ein Hochgenuss und eines der ewigen Favoriten. Auch in der Live – Umsetzung der folgenden Tour!

Can‘t Turn Back The Years

Was wäre die Welt nur ohne diese Art der Balladen? Ohne den ewig wiederkehreneden Weltschmerz nach dem Verlust der großen Liebe.

Everyday

Das ist der Schmalz, den wir an Phil Collins Liedern so mögen. Als zweite Singleauskopplung im Januar 1994 erschienen, beinhaltet sie in der Albumversion dieses markante Intro am Piano, welches im Radioedit schmerzlich vermisst wird, aber auch damals schon nicht in die Computerparameter der Sendeanstalten passte. Markant hier die angedeuteten Gitarrenakkorde am Keyboard, welche eine sehr emotionelle Stimmung heraufbeschwören.

I‘ve Forgotten Everything

So teilweise unsauber in der Endabmischung – so genial in der Umsetzung. Auch die „Kunstbläser“ haben einen gewissen Charme. Bis zu dem Zeitpunkt, wo jemand deinen Namen erwähnte habe ich alles über dich vergessen. Scheiss Erinnerungen!

We’re Sons Of Our Fathers

Allein die bildliche Vorstellung eines Banjos, Cellos, Jazz-Drumkit als Bühnenumsetzung dieses Songs bringt Erinnerungen an den Jazzer Phil Collins. Nur wurde diese Vorstellung leider nicht erfüllt.

Can’t Find My Way

Langsam glaubt man an eine Midlife-Crisis bei Phil Collins. Dass er mit diesem ganzen Album scheinbar textlich sein ganzes Leben auf- und umkrempelt ehrt ihn wahrlich. Zu bedenken gibt es, ob er durch diese künstlerische Offenheit nicht diesen ganzen Unmut der Gazetten seiner Musik gegenüber unbewusst auf sich gezogen hat. Musikalische Kunst ist – wie auch in anderen Genres der Kunst – eben nicht nur das Vorgaukeln einer heilen Welt! In diesem Song beweist Phil Collins, dass er scheinbar ein sehr gefühlvoller und verletzbarer Mensch ist.

Survivors

Nach dem Titelsong der gewaltigste auf diesem Album. Ich war auf die Umsetzung auf der Bühne sehr gespannt – und der geneigte Besucher der 1994er Tour wurde in keiner Wiese enttäuscht. Das „asynchrone“ Bedienen der Snare und des Tambourins versprühen einen gewissen Reiz, den es nur in seltenen Fällen der Pop-/Rockmusik gibt!

We Fly So Close

Emotionen, Sehnsüchte, vergeben Liebesmüh‘ – was fällt einem nicht alles zu dieser großartigen Balade ein, die man sich doch eher in ruhigen Stunden am Kamin vorstellen kann!

There‘s A Place For Us

Jazz pur… Man stelle sich einen Jazzclub in New Orleans vor. Vor der Eingangstür klingen einem die Klänge dieses großartig performten Songs entgegen… „I don‘t wanna go – We don‘t know much about it…“ Eine große Hymne an die Liebe!

We Wait And We Wonder

Irgendwie genauso aktuell, wie vor 20 Jahren. „Die tapferen Helden verstehen sich nur auf das Zuschlagen – um danach abzutauchen“. Musikalisch eine eindringliche Hymne gegen kriegerische Auseinandersetzungen. Ein politischer Phil Collins, der vielen aus der Seele spricht! Es wurden keine Namen genannt… Aber diese wären einfach auszuwechseln – das Thema bleibt trotzdem!

Please Come Out Tonight

Diese Ballade ließ schon vor 20 Jahren den Tränen freien Lauf. Wieder eine sehr emotionale Hymne an die Liebe, an Verlustängste – aber irgendwie auch an Hoffnung auf Neubeginn…

Ein – wenn nicht der – große/r Wurf in der Solokarriere von Phil Collins! Wie ich schon bei einem der Songs schrieb, sich musikalisch so „auszuziehen“ gebührt allen Respekt. Für mich eines der persönlichsten Alben der neueren Musikgeschichte. Nicht nur von den Texten, sondern auch von der Musik her großartig gestaltet. Danke Phil für dieses großartige Werk – und für die wunderbare Umsetzung auf der Bühne! Es fehlt irgendwie eine Fortsetzung…

Achso Mr. Collins … für dich habe ich bei den von mir besuchten vier Konzerten damals in Hannover gerne Klamotten in einem vierstelligen Wert „zerregnen“ lassen… Selten gab es eine bessere Tournee eines Künstlers!


Peter Maiwald ist freischaffender Musiker und Journalist. Er arbeitet u.a. für das Hamburger Lokalradio und ist Betreiber des Webradios www.rundspruch.net
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