- Artikel
- Lesezeit ca. 9 Minuten
Peter Gabriel – Xplora1 und EVE (CD-ROM)
1993 und 1996 veröffentlichte Peter Gabriel zwei CD-ROMs mit multimedialem Inhalt. Wir schauen rund dreißig Jahre später nochmal drauf.
Der multimediale Urknall im Hause Real World
In den 90ern war es nach Abschluss der Secret World Live Tour sehr still um Peter Gabriel geworden. Insbesondere neue Musik (vom Umfang eines ganzen Albums) sollte noch bis zum Jahr 2000 auf sich warten lassen.
Inaktiv war Gabriel deswegen aber nicht. Neben allerlei politischen und sozialen Aktivitäten, erlag er kreativ den Möglichkeiten, die die neuen, digitalen Medien zu bieten begannen. Gleich zwei CD-ROMs erschienen, auf denen seine Musik, seine Weltsicht und seine künstlerischen Interessen visuell und interaktiv präsentiert wurden.
Damals war sowas Neuland – wurde danach so oder ähnlich von vielen anderen Musikern aufgegriffen. Eine Weile lang hatten CDs gerne einen CD-ROM Teil, auf dem die Künstler Videoclips, Interviews oder andere Ergänzungen zu ihrem Album boten.
Gabriel hatte es ja schon immer geliebt, nicht nur Musik zu machen, sondern sie auch mit anderen Kunstformen zu verbinden, die sich dann gegenseitig durchdrangen. Auch sein Publikum miteinzubeziehen, ihm Entscheidungsmöglichkeiten für sein Erlebnis zu bieten, war etwas, das ihm gefiel. Die multimediale Technik passte dazu perfekt.
Kein Wunder, dass er sich auf das Unterfangen einließ, damit etwas zu erschaffen.
Ein Rückblick?
Anders als Gabriels gesamter Musikkatalog werden die beiden CD-ROMs heute kaum noch in Betrachtung genommen. Der Grund ist vor allem, dass sie technisch nicht mehr auf der Höhe aktueller Plattformtechnik sind. Man kann sie höchstens noch im Umfeld von Emulatoren starten, die im Internet aber immerhin auch zu finden sind.
Trotzdem lohnt es sich, rund 30 Jahre später nochmal einen Blick auf sie zu werfen. Neben technischem Neuland, das Gabriel hier mal wieder betrat, sind sie auch durchaus unterhaltsam. Vor allem aber sind sie ein weites Feld, in dem Gabriel viel offenbarte, was ihn beschäftigte, ihn interessierte – und was deshalb auch in seine Musik einfloss. Um in die Gedanken und Welten seiner Stücke wirklich einzutauchen, ist das, was die beiden Multimediawerke präsentieren, nicht völlig unwichtig.
Im Folgenden wollen wir versuchen, ein wenig davon aufzuzeigen. Auch, weil die Bedeutsamkeit von einigem erst so richtig im Zurückschauen deutlich wird.
Xplora1: Peter Gabriel’s Secret World
(erschienen 21. Dezember 1993)
Es war ein gewisser Steve Nelson von der in San Francisco ansässigen Firma Brilliant Media, der Peter Gabriel die Möglichkeiten multimedialer Technik nahebrachte, als er gerade das US Album herausbrachte. Und Gabriel war schnell begeistert. Brilliant Media war dann für die Umsetzung zuständig, die von der eigens geschaffenen Firma Real World Multimedia veröffentlicht wurde.
Xplora1 ist im Wesentlichen eine große Infospielwiese, auf der man alles mögliche zu Gabriel, seiner Musik und seinen Aktivitäten abrufen kann. Es gibt dazu vier Kernbereiche:
● Weltmusik (mit dem Katalog von Real World Records, Musikinstrumenten der Welt, einem Rundgang über ein WOMAD Festival)
● Gabriels persönlicher Raum (mit Präsentationen zu Witness, Amnesty International, Gabriels Diskografie und privaten Fotos und Super8-Clips aus seiner Kindheit)
● Das US Album (mit Vertiefungen zu den Songideen, den Songvideos – so vorhanden – und dem Kunstwerk zum Song)
● Behind the Scenes (mit einem Rundgang durch die Real World Studios, Aufnahmen zur Grammy Verleihung 1993 und einem Hinweis auf die Fanzeitschrift Box Magazin)
Im Grunde ist das, was zu erleben ist, vergleichbar mit dem Öffnen von Webseiten einer Internetpage. Manche Teilbereiche bleiben dabei erstmal verschlossen, bis man bestimmte Gegenstände irgendwo gefunden und im mitgeführten Koffer abgelegt hat. Die funktionieren dann wie Einlasspässe – und manchmal sind die gesuchten Gegenstände auch welche. Manchmal ist aber auch sowas wie ein Blümchen, das gepflückt werden kann.
In all diesen Bereichen kann man verschiedenes anklicken, öffnen, abspielen, lesen. Zu entdecken gibt es Bilder, kleine Videos (meist dokumentarischer Art) oder interaktive Elemente, wie exotische Musikinstrumente, die anzuspielen möglich ist. Besonders spannend ist dabei natürlich, wenn man Digging In The Dirt Remixen kann (zumindest eine kurze Fassung davon) oder sich über das Gelände der Real World Studios zu bewegen (und einige Türen zu öffnen). Und es gibt auch einige versteckte Feature wie die ‚Lovebomb‘.
Immer wieder meldet sich PG dabei oben links in der Ecke per Videoeinbledung, wendet sich direkt an den Benutzer und gibt kurze Hinweise, was auf der aktuellen Seite möglich ist oder noch übersehen wurde.
Angelegt ist, dass man Stunden mit dem Erkunden verbringen kann. Bald aber wird es auch etwas monoton, denn eigentlich kann man nur Infos abrufen. Das Erlebnis beschränkt sich auf Klickerei durch die Angebote der Bereiche. Eine Art von Fortentwicklung oder Erfolg gibt es nicht wirklich (wenn man davon absieht, für manche Bereiche den Schlüssel zu finden). Zudem verfestigt sich ein bisschen der Eindruck ein, dass Xplora1 im Wesentlichen ein ausgedehntes Werbevehikel für das US Album und Real World Records ist.
Technisch ist das alles zudem sehr schlicht. Bilder und Oberflächen sind pixelig, Videos in winzigkleinem Format, Musikschnipsel kurz. Auch die Benutzerführung ist zwar immer irgendwie verstehbar, aber nicht immer unbedingt geschmeidig. Was damals bahnbrechend war, ist heute kalter Kaffee und nur noch wenig faszinierend. Immerhin hat es einen hohen, nostalgischen Charme.
Nach der Jahrtausendwende entwickelte sich die multimediale Technik dann so weit, dass man sowas wie auf Xplora1 irgendwann einfach auf Webseiten fand. 1993 war das Konzept neu und wurde technisch auf dem höchsten Stand geboten, den Heimcomputer umsetzen konnten. Aus heutiger Sicht ist das eher etwas niedlich. Ästhetisch aber durchaus überlegt und kreativ.
Xplora1 wurde im Dezember 1993 zunächst für den Apple Macintosh mit macOS veröffentlicht, 1994 dann für Microsoft Windows und 1995 noch für das exotische Format CD-i von Philips und Sony. Es war überaus erfolgreich und erhielt weltweit 12 Auszeichnungen.
Peter Gabriel’s EVE
(erschienen 31. Dezember 1996)
Gabriel fühlte sich durch den Erfolg beflügelt. Xplora1 gewann 1994 alle Preise für interaktive Medien seiner Art und wurde zur meistverkauften Musik-CD-ROM der Welt. Eine Bestärkung, den Weg weiter zu beschreiten und zu versuchen, mit den neuen Techniken noch mehr zu erreichen. Die 1 im Titel hatte ja auch schon angedeutet, dass da durchaus weiteres möglich sein konnte.
Also machte sich das Team von Real World Multimedia an einen Nachfolger.
Und tatsächlich ist EVE so etwas wie eine Fortsetzung von Xplora1. Viele grundsätzliche Ideen wurden übernommen oder weiterentwickelt: Das Unterteilen in Bereiche, die man betreten kann, das Sammeln von Gegenständen, um neue Sektionen oder Features freizuschalten, die Möglichkeit, an Songmixen herumzuspielen. Auch das Motiv des Koffers wurde wiederaufgegriffen. – Diesmal ergab das alles aber nicht mehr eine große „Infothek“, sondern über allem stand eine grundlegende Erzählung und eine Ablaufentwicklung. EVE ist in diesem Sinne tatsächlich viel mehr ein Computerspiel.
Man folgt der Veränderung der Welt (symbolisiert in der Spiellandschaft) durch die Stadien Schlamm, Garten und Industialisierung. Verquickt wird das mit der Suche, wieder ein geeintes Wesen zu werden, nach der Aufspaltung in einen Adam und eine Eve. Die drei Landschaften (plus eine vierte) wurden von je einem bildenen Künstler ästhetisch gestaltet und man kann in ihnen Gedanken abrufen, vor allem zum Thema ‚Menschen und ihr Miteinander‘ von Philosophen, Wissenschaftlern, normalen Menschen und Peter Gabriel selbst. Manche dieser Gedanken sind ziemlich abstrus – aber zum Nachdenken regen sie alle an.
Zentral sind zudem die Remix-Bereiche, in denen man wieder Songs von Gabriel neu abmischen kann. In jeder der drei Entwicklungsstadien der Landschaft sind dazu musikalische Fragmente versteckt, die man durch aufdecken / öffnen / anstoßen aktivieren und dann für die Remixe verwenden kann. Für die gibt es immer zwei Übersichten: Eine, die eher einem Schaltpult gleicht, und zusätzlich eine als Bewegtbild. In beiden sind die Songfragmente als animiertes Objekt dargestellt, jedoch im Bewegtbild fügen sie sich zu einer Art Musikvideo des Songs zusammen.
Je mehr man entdeckt und anspielt, desto weiter gedeiht und verändert sich die zentrale Landschaft, die dabei immer wieder frappant die Gesamtwirkung wechselt. Manchmal muss man auch kleine Geschicklichkeitsspiele absolvieren (Gartenzwerge zerschlagen, Insekten fangen), die aber immer vor allem Spaß machen und nie überfordern sollen. So durchläuft man eine Weltentwicklung, lernt Verschiedenes über soziales Verhalten und wird immer von Gabriels Musik begleitet. Am Ende sollte man es eigentlich schaffen, wieder ein geeintes Wesen in eine idyllischen Landschaft zu bringen.
EVE ist in folgende vier Entwicklungsstadien unterteilt:
● Schlamm – mit der Musik von Come Talk To Me und der Kunst von Yayoi Kusama
● Garten – mit der Musik von Shaking The Tree und der Kunst von Helen Chadwick
● Profit – mit der Musik von In Your Eyes und der Kunst von Cathy de Monchaux
● Paradies – mit der Musik von Passion und der Kunst von Nils-Udo
Im Ganzen ist EVE viel mehr ein Spielerlebnis als Xplora1 mit seiner eher didaktischen Sektionierung. Alles ist hier kreativ und lebhaft in der Handhabung, viel ästhetisierter, zudem durchaus humorvoll und bisweilen auch leicht verrückt. Dadurch allerdings auch bisweilen etwas verwirrend. Außerdem kann man auf jedem Screen immer nur eine begrenzte Anzahl von Elementen aktivieren, danach muss man erstmal weiterziehen. Ein Wiederbesuch ist also unabdingbar und kann manchmal etwas nerven. Echtes Spielerlebnis mit gewinnen und scheitern gibt allerdings dann doch nicht. Es steht auch hier das Entdecken im Mittelpunkt – zudem sowas wie unbeschwert „Rumbummeln“.
Damit kann man in EVE wieder Stunden verbringen. Wenn man nur die Fortentwicklung der Welt und die Zusammenfügung von Adam und Eve voranbringen will, deutlich weniger, wenn man aber alles ausprobiert, sich alle Clips und Infos gibt, dann stehen einem 22.000 Fotografien, 80 Minuten Videomaterial und 45 Minuten Musik(segmente) zur Verfügung.
EVE erschien am 31. Dezember 1996 für macOS und Windows 95
Einordnung
Beide CD-ROMs scheinen in Gabriels Schaffenswelt nur eine Seitenaktivität zu sein, haben sie doch in Bezug auf Musik (fast) nichts neues zu bieten. Tatsächlich aber stehen sie fest eingefügt in seine Denk- und Ausdruckswelt der mittleren 90er.
Viele (auch nur kleine) Momente aus anderen Arbeiten Gabriels kommen in den beiden Multimediawerken vor. Nicht zuletzt das Element „Koffer“, das bei den Kunstwerken von US erstmals erscheint und auch in der Secret World Live Show eine Rolle spielt.
In Xplora1 tauchen auch immer wieder Zitate aus den Song-Kunstwerken oder -videos von US auf. Ebenfalls ist es geprägt von dessen ganzem Vermarktungsdesign (wie es etwa auch auf der Video-Doku-Compilation All Around Us vorkommt – viele Filmpassagen daraus werden wiederverwendet). Ganz EVE zeigt sich zudem in der Ästhetik des Videos zu Lovetown (oder umgekehrt – wie man will).
Für OVO wird später das Motiv der Entwicklung einer achaischer Welt hin zur Überindustrialisierung wiederaufgegriffen. Außerdem natürlich die Gestaltungskunst von Nils-Udo, die in der Real World Edition des Albums verwendet wird.
Und auch die Real World Recording Weeks, die schließlich zu Big Blue Ball führen, sind in Xplora1 schon präsent. Dass die beiden CD-ROMs voll sind mit Musik aus Passion und US ist überdeutlich und muss kaum erwähnt werden. Überhaupt sind sie noch klar im Kontext der Weltmusik angesiedelt. Die unterfüttert Gabriels Schöpfen ja auch noch eine Weile weiter und erst mit Up löst er sich davon und beschreitet andere Wege (die dann auch klar auffallen).
Ebenfalls deutlich in den CD-ROMs wird Gabriels Faszination für Wissenschaft und deren Erkenntnisse auch Abseits von gängigem Allgemeinwissen. EVE bot dafür großen Raum – wenn thematisch auch fokussiert auf Sozialpsychologisches. Später äußerte sich dieses Interesse Gabriels wieder in den mikroskopischen Abbildungen beim Scratch My Back / New Blood Projekt und dann natürlich in Themen der i/o Songs Panopticom, Playing For Time, Olive Tree und vielleicht noch weiteren.
In dieser Einordnung nicht vergessen werden darf die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern, die sich zu US das erste Mal zeigte, hier fortgeführt wird, für Up auf Fotografien umschwenkte, um für i/o wieder bildende Künstler einzubinden. Ein Feld, dass Gabriel nach eigenen Aussagen enorm spannend findet.
Die Idee, seine Songs zum Remixen anzubieten, ließ Gabriel ebenfalls nicht so schnell wieder los. Im Fahrwasser von Up bot er zum einen ein Online-Mix-System namens Noodle an, mit dem man unter anderem The Tower That Ate People neu abmischen konnte (die Plattform ist inzwischen leider tot), zum anderen veröffentlichte er ab 2008 auch Samples der Tonspuren von drei älteren Stücken für denselben Zweck.
Im Ganzen lässt sich also sagen, dass Xplora1 und EVE nicht einfach nebensächliche Seitenerscheinungen waren – sie sind Ausdruck und Teil der Gedanken, die Gabriel lange Zeit beschäftigten – die er vielleicht noch immer mit sich herumträgt. Um sein Selbst- und Kunstverständnis zu begreifen, sollten sie deshalb unbedingt beachtet werden.
Autor: Thomas Schrage (November 2024)
Links
Xplora1
Unboxing and Playthrough Video
https://www.youtube.com/watch?v=EbF7dh8shpY
Beginn mehrteiliges Playthrough:
https://www.youtube.com/watch?v=nfLGl9_5oGg
Zusammenschnitt interessanter Stellen aus dem Spiel (17 min):
https://www.youtube.com/watch?v=y7EKnhIG6zY
Director Michael Coulson erzählt:
https://michaelcoulson.typepad.com/
EVE
Unboxing Video
https://www.youtube.com/watch?v=UW3fI0DkehM
Beginn mehrteiliges Playthrough:
https://www.youtube.com/watch?v=XGMLPAFGbDk
Director Michael Coulson erzählt:
https://michaelcoulson.typepad.com/
Eine kritisch-faire Rezension:
https://www.korrupt.biz/