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Peter Gabriel – Tour Of China 1984 – Bericht
Peter Gabriels dritte Tournee 1980 führte weder nach China, noch fand sie 1984 statt – trotzdem nannte er sie mit einem Seitenhieb auf die Konkurrenz „Tour of China 1984″.
„What’s gone is gone and I do not give a damn.“
Ähnlich unkonventionell verliefen die Konzerte. Das Publikum erlebte einen neuen Peter: selbstbewusst, nicht angewiesen auf Hilfsmittel wie Coverversionen oder Lieder aus der Genesis-Vergangenheit und ebenfalls nicht angewiesen auf allzu viele Bühnenspielereien. Peter füllte die Hallen, sogar in Amerika, und feierte sowohl kommerzielle wie künstlerische Erfolge – er war erwachsen geworden! Die Konzerte spiegelten die düstere Atmosphäre des dritten Albums wider. Viele Lieder über Seelen jenseits des sogenannten „ Normalzustands“. Viel Gefühl auf der Bühne jenseits des üblichen Herz-Schmerz-Ich-liebe-Dich. Ein wirklich unmittelbarer „Draht“ (,,And Through The Wire“) zum Publikum – der Mensch ist „berührt“ und weiß noch nicht, wieso. Etwas konkreter? Aber klar doch, können wir auch!
Der Set
Platzen wir gleich mit der Setlist heraus. Wesentlich einheitlicher als bei der vorangegangenen Tour, bestand diese aus:
lntruder
The Start
I Don’t Remember
Solsbury Hill
Family Snapshot
Milgram’s 37
Modem Love
Not One Of Us
Lead A Normal Life
Moribund The Burgermeister
Mother Of Violence oder Humdrum
White Shadow (selten) oder Humdrum
Bully For You
Games Without Frontiers
And Through The Wire
I Go Swimming
Biko
On The Air
D.I. Y. (nicht immer)
Here Comes The Flood (2-Strophen-Kurzversion, nicht immer).
Einzige rühmliche Ausnahme: In der zweiten Show im Londoner Hammersmith Odeon gab es noch ein allerletztes Mal Me And My Teddy Bear von der Vorjahrestournee.
Musiker
Obwohl David Rhodes auf dem dritten Album erstmals mitgewirkt hatte, war er 1980 noch so in seine Band Random Hold verstrickt, daß er zwar mit ihnen in England und Amerika als Vorgruppe zu Peter Gabriel spielte, aber während der gesamten Tournee niemals gleichzeitig mit Peter auf der Bühne agierte. Als Ersatz für David wurde John Ellis von den Vibrators für Gitarre und Begleitgesang verpflichtet. Daneben fanden sich in Gabriels Tourband die schon bekannten Gesichter von Larry Fast (Synthesizer), Jerry Marotta (Schlagzeug und Saxophon) und – für England und die USA – Tony Levin (Bass, Stick und Marimba). Für den Rest der Europatournee standen bei Tony leider King Crimson und Promotion-Tätigkeiten für den Paul Simon-Film One Trick Pony im Terminplan (in dem er damals eine kleine Rolle übernommen hatte), und so spielte dann eben John Giblin den Bass und Tonys Rolle.
Wo wir oben gerade die Vorgruppen ansprachen: Während der Europatournee spielte eine damals völlig unbekannte Elektropopcombo namens Simple Minds im Vorprogramm. Jim Kerr über Peter: „ Ich traute mich kaum, ihn backstage zu treffen, doch er machte alles einfacher für uns, machte uns Mut und gab uns Auftrieb.“
Die folgenden Impressionen sind lose nach der Liedreihenfolge im Konzert und nicht nach der geographischen Tourneeabfolge sortiert, also springen wir jetzt wild zwischen den Kontinenten hin und her.
Überraschungen
Der Beginn der Konzerte dürfte überall überraschend gewesen sein, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Während der dumpfe, hypnotische Rhythmus von lntruder von den Wänden widerhallte, betraten die Mannen um Peter mal wieder die Bühne über den Weg mitten durchs Publikum.
Peter leuchtete jedesmal in die Gesichter derer, denen er begegnete, so als wollte er sagen: ,,Du bist von all dem hier auch ein Teil, wir wollen Dich genauso sehen wie Du uns!“ Obwohl dieses Ritual damals schon zwei Jahre alt war, wurden viele im Publikum immer noch total überrascht, wer sich da von hinten durch die Menge drängelte …
Für das Publikum in England hörten die Überraschungen auch danach nicht auf, weil die Hälfte des Konzertes aus Material des neuen Albums bestand, welches zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlicht worden war – lauter unbekannte, neue Songs also! Die Leute in Amerika hingegen waren überrascht, weil Peter sich in Las Vegas unerwarteterweise einen Glatzkopf geschert hatte. Somit bildete er in seinem Aussehen jetzt mit Tony Levin und John Ellis ein Trio.
Und zur Überraschung der deutschen Konzertgänger schließlich sang Peter einen großen Teil der Songs in Deutsch: Eindringling, Schnappschuß (ein Familienfoto), Wir tun was ihr sagt, Du bist nicht wie wir, Ein normales Leben und Und durch den Draht. Gelegentlich gab es in Deutschland auch Jetzt kommt die Flut anstatt Here Comes The Flood. Naja, irgendwie musste man ja dafür entschädigt werden, dass die Tournee hier nicht „Tour of China 1984″, sondern schlicht „Tour ohne Grenzen“ oder „Tour without frontiers“ hieß. Die Ansagen Peters waren ebenfalls durchgehend in Deutsch. Peter hatte Keuchhusten – den Songs merkte man zwar nichts an, doch seine Ansagen waren ein einziges fortwährendes Räuspern ins Mikrophon.
Optik
Als erstes fiel an der Band auf, dass sie und Peter alle gleichförmig gekleidet waren. Ein asymmetrisch mit weißen Streifen verzierter schwarzer Overall wirkte wie eine Uniform und verstärkte das Gefühl der Einheit. Dazu trug natürlich auch bei, dass mehrere Mitglieder der Band schon seit der letzten Tour dabei waren – alte Bekannte also, und die Band wirkte immer mehr wie eine Familie. Mit Ausnahme von Peter, der oft zwischen Keyboards und Bühnenrand wechselte und auch sonst ein wahrer Wildfang war, bewegten sie sich sparsam. Präzise und konzentriert spielten sie die intensive und dynamische Musik, bildeten die musikalische Atmosphäre, auf der Peter aufbauen konnte. Die optische Atmosphäre wurde von fünf mannshohen farbigen Neonsäulen bestimmt, die, unregelmäßig über die Bühne verteilt, in unterschiedlicher Kombination und verschiedenen Helligkeiten meist für düstere Stimmungen sorgten.
Songs
Bei lntruder waren die Neonsäulen jedenfalls das erste, was der Konzertbesucher auf der Bühne sah. Bedrohlich pulsierten sie im Takt mit dem alles beherrschenden Rhythmus. Später folgte ein ruhiger Moment: Die Marimba (ein Holzxylophon) kam nicht etwa pre-recorded vom Band, sondern wurde von Tony höchstpersönlich gespielt!
Es folgte die Begrüßung des Publikums. Peter redete surreale Worthülsen und,, … the rest – I Don ‚t Remember.“ Für The Start kam Jerry Marotta hinter seinem Schlagzeug hervor und spielte eine ruhige, sparsam intonierte Saxophonpassage (nicht unähnlich übrigens zu späteren Doudouklntros auf Passion und Us) – ein eindringlicher Moment! Tonys pulsierende Bassarbeit verlieh I Don ‚t Remember eine ganz andere Qualität, das insgesamt hektischer wirkte als die Studioversion. Peter erzählte die einleitende Geschichte von Arthur Bremmer, dem Mann, der … Zwischenruf: „ Watcher Of The Skies !“ – Peter: ,,Nein, er hätte ein ‚Watcher Of The Skies‘, ein Beobachter des Himmels, sein können, aber er war schon seit langem mit 120 Volt Stromspannung versorgt und war mehr ein Beobachter des Fernsehens, ein Fernsehzuschauer“. Family Snapshot – Tony bearbeitete seinen Stick – Klänge nicht von dieser Welt – und Peter fiel mit dem Piano ein. Ein Lied aus der Perspektive eines Attentäters – sinister!
Vor Milgram’s 37 erklärte Peter ausführlich, wovon dieser Song handelt (über ein Experiment zum Thema Gehorsam, Gewissen und Eigenverantwortung). Der Song begann ganz ruhig und harmonisch, in der spärlichen Beleuchtung von nur der Hälfte der Neonsäulen. Doch die Dramatik steigerte sich immer mehr. Peter wurde lauter und lauter und eine Säule nach der anderen wurde illuminiert. Die Schreie der Gemarterten wurden von Peter und der Musik eindringlich herübergebracht. Die Aussage dieses Songs kam unmittelbar und direkt an und erregte beispielsweise einige Aufmerksamkeit bei der generell sehr beeindruckten englischen Musikpresse.
Bei Lead A Normal Life war die Bühne fast unbeleuchtet. Nur Tonys Marimba erklang. Später setzte Peters spärliches Keyboardspiel ein – Melancholie pur. Der Gegensatz zu den plötzlich einsetzenden Schreien Peters konnte größer nicht sein, unheimlich! Ein Schaudern fuhr durch die Menge. Der Song zog sich endlos dahin, doch die Spannung wurde aufrechterhalten. Peter beendete ihn und bemerkte: ,, Das war Normal Life oder auch ‚Der Ausdauertest‘, und er gehört zu einer Serie von Publikum-Mitmachnummern“, was natürlich auf einige berechtigte Zweifel stieß. Bully For You war in Peters Fassung wesentlich langsamer und intensiver als in der von Tom Robinson veröffentlichten Version. Schade, daß er den Song nie selbst veröffentlicht hat.
Games Without Frontiers in England: John Ellis und Larry Fast versuchten sich an der falsettohaft hohen Kate Bush-Version des „Jeux Sans Frontieres“ -Refrains, wofür sie von Peter gelobt wurden. Sie hätten besonders„ butch“, also maskulin, geklungen. Leider mußten sie diesen Refrain noch für einiges länger aushalten, denn Peter breitete die Arme aus, stellte sich an den vordersten Bühnenrand und ließ sich – Gesicht nach vorne – auf das völlig überraschte Publikum fallen! Einige Zeit wogte er auf den ausgestreckten Armen hin und her, bevor er wieder auf die Bühne zurückkehrte. Einige Schreie nach The Knife ertönten aus dem Publikum, und Peter grüßte die „Studenten der grauen Vorzeit“ lächelnd.
Games Without Frontiers in Europa: Auf der Bühne stand ein mannshohes Gestell, zu vergleichen mit einer überdimensionalen Duschkabine. Die vier Seiten wurden von Flachprismen gebildet, wie man sie heute in kleineren Ausmaßen als Autozubehör für die Rückscheibe kennt. Peter bewegte sich in dieser Kabine, und die Prismen verzerrten dabei sein Gesicht und seinen Oberkörper auf alle möglichen und unmöglichen Arten. Die Beleuchtung von unten tat ein übriges – spooky!
And Through The Wire wurde abwechselnd mal mit und mal ohne Dreiton-Intro gespielt. Der im Tourheft abgedruckte Text zu diesem Lied enthielt noch die ursprünglichen zusätzlichen zwei Halbstrophen, die bei der Studioversion dann weggefallen waren. Bei einigen europäischen Konzerten ersetzte Peter tatsächlich zwei von den bekannten Zeilen durch„ Prick up the heat a snake in the grass, unseen I enter, made of glass!“.
Stimmungswechsel von düster-bedrohlich zu fröhlich und ausgelassen. Peter begann das Lied über „the art of gourmet bathing“, nämlich das unveröffentlichte I Go Swimming, am Keyboard. Instrumental wurden Walgesänge angedeutet. Peter wechselte zum Mikrophonständer über, um mit beiden Armen zu rudern bzw., passend zum Thema, zu „kraulen“. In dem Stück gab es noch sehr viel Unfertiges. Den knappen Text ergänzte Peter durch viel Gabrielese. Am Ende „schwamm“ er über die ganze Bühne.
Neues Lied, neuer Stimmungswechsel. Nur die fünf Neonröhren gaben fahles Licht, feierlich, bedrückend – Biko. Von Peter ganz bewusst ans Ende platziert, blieb es jedoch nicht bei der Trauer. Der Schluss des Songs mit dem Refrain war positiv, voll Mut und Solidarität, und das Publikum erfuhr zum ersten Mal die verbindende Eigenschaft des gemeinsamen Gesangs am Ende von Biko. Das Gefühl, dass jeder einzelne politisch etwas tun kann, etwas zu verändern vermag. Einmischen statt Ignorieren!
Mit diesem ungewohnt neuen Gefühl endete der Normalteil des Konzerts, und die Zugaben begannen. On The Air – ein ständiger Wechsel Peters zwischen Keyboards und Bühnenvordergrund. Wild fegte er über die Bühne, und auch die bisher recht statischen Mitmusiker kamen in Bewegung. John Giblin wagte sogar einige große Sprünge vom Bühnenpodest auf den Bühnenrand. In Kontinentaleuropa stoppte Peter an der Bühnenkante, breitete die Arme aus und ließ sich kopfüber fallen – zur Begeisterung des Publikums! Zu guter Letzt Here Comes The Flood – Peter allein am Keyboard – Ausklang.
Drama am Rande
Bei einem „Secret Gig“ im kleinen Club in Santa Ana, Kalifornien, stürmte ein Riesenpolizeiaufgebot die Halle, samt Helikoptern draußen und Suchscheinwerfern vom Himmel. Anschließend durfte razziamäßig keiner den Raum verlassen, bevor er nicht fotografiert worden war. Peters Verhandlungen zwecks Fortführung des Konzerts endeten natürlich fruchtlos. Und das alles nur, weil ein
gieriger Clubbesitzer die aus Sicherheitsgründen begrenzte Besucherzahl um mehr als das Doppelte überschritten hatte!
Gastkommentare
Armando Gallo: ln der Mitte der 1980er Tour rasierte sich Peter den Kopf kahl. Seine Erscheinung gab den Konzerten eine unheimliche Atmosphäre. Fans sagten mir später: ‚Es war eine gespenstische Tour. Es lag etwas Magisches in der Luft, das uns bewegte.
Horst Königstein: Das war im Sommer 1980. Im deutschen Hintergrund spielten plötzlich Mittagspause, Abwärts, Neonbabies, Fehlfarben – waren die Untergangsabende in der Markthalle Hamburg. Peter und ich waren die 11 Eindringlinge“. Peter tourte im Herbst 1980 in der Bundesrepublik. Er radebrechte durch die deutschen Texte, und es war respektvoll, eine für das Publikum sichtbare Arbeit. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ob nun alles zu verstehen war oder nicht (ohnehin eine abstrakte Forderung, wenn Texte auch Klänge sein sollen), hier konnte man beobachten, wie Musik und Bedeutungen angeeignet wurden. Damals bin ich auch zum Fan geworden.
Merchandise
Sozusagen als Antiklimax bliebe bloß noch das Merchandise zu nennen. Das Tourheft war passenderweise das „Little Red Book“ (angelehnt an die „Mao-Bibel“), mit handgeschriebenen Lyrics und verziert mit allerlei skurrilen Chinographika aus dem finstersten Soho. Des weiteren waren schwarze T-Shirts mit Aufdruck „Gabriel China 1984″ und dem neuen Graphiksymbol im Angebot. Daneben
standen ähnlich verzierte Leichtblechbuttons, schwere emaillierte Metallbadges und Stoffaufnäher zur Verfügung.
Autorin: Karin Woywod
Zuerst veröffentlicht im it-Magazin #21, Dezember 1996