- Artikel
- Lesezeit ca. 19 Minuten
Peter Gabriel – Secret World Tour 1993/1994 – Tourbericht
1993 ging Peter auf seine ambitionierte Secret World Tour und präsentierte ein Rockspektakel auf zwei Bühnen. Eine ausführliche Zusammenfassung der gesamten Tour könnt ihr hier lesen.
Obwohl die Secret World-Tour vor über fünf Jahren mit dem ’94er Woodstock-Festival in den USA einen Abschluss fand, dürfte denjenigen, die ein oder mehrere Konzerte erleben durften, diese Tournee noch sehr gut in Erinnerung sein. Der Grund hierfür liegt in der fantastischen Show, die bei vielen Konzerten präsentiert wurde. Das Ganze war ein nie zuvor gesehenes Spektakel, welches neue Maßstäbe setzte. Eine Eindruck dessen, was auf der Bühne (oder besser: auf den beiden Bühnen) passierte, vermittelt das 1994 veröffentlichte Video Secret World Live. Es lässt erahnen, welche visuellen Effekte und theatralischen Leistungen neben der Musik auf die Besucher der Konzerte einwirkten.
Fangen wir aber ganz vorne an. Das Album wurde am 28.09.1992 veröffentlicht. Es war klar, dass es im Zuge der Veröffentlichung dieses Werkes auch eine Welttournee geben sollte. Die Planung für die Bühnenshow fing bereits im November 1992 an. Folgende Aussage gibt wieder, was Peter zu jener Zeit bewegte: „Ich wollte einfach viel für’s Auge bieten. Die ursprüngliche Idee war, mit verschiedenen Videoleinwänden zu arbeiten. Jede Wand sollte ihr Eigenleben haben; es sollte Landschaften, Gesichter und ähnliches gezeigt werden. Dann sah ich die U2-Show, die eben auf dieser Idee basierte – und sie war so gut, dass ich mir etwas Neues ausdenken musste. Ich traf mich mit Robert Lepage, einem der interessantesten Theaterregisseure, um die Show auszuarbeiten. Einer der nächsten Vorschläge meinerseits hatte mit Zügen und Bahnhöfen zu tun – wir hätten Bahngleise gelegt, um die Songs bildlich miteinander zu verbinden, und ich hätte Lokführer gespielt. Leider hätte es damit Schwierigkeiten mit den Feuer- und Sicherheitsbestimmungen in unseren Hallen gegeben.“
Peter wandte sich an das Atelier Markgraph in Frankfurt, welches bereits mit Brian Eno zusammen gearbeitet hatte. Es folgten einige Gespräche, die zum Resultat hatten, dass die gesamte Bühnenproduktion in die Hände des Ateliers gelegt wurde. Im Frühjahr fanden sich Peter Gabriel, Rolf Engel vom Atelier Markgraph, seine Assistentin Claudia von der Bey, Robert Lepage, sein Assistent Philippe Soldevilla, Michael Coulson, Nicola Bruce (Zeichnerin) und der Tournee-Leiter Dave Taraskevics zu ersten Treffen zusammen. Im Laufe von mehreren Meetings wurden aus den Ideen in den Köpfen aller Beteiligten Konzepte erarbeitet. Für nahezu jeden Song, der auf der Set-Liste für die späteren Konzerte stand, wurden Elemente erarbeitet, welche die Wirkung der Stücke begleiten und/oder unterstützen sollten. Diese Elemente sollten aus Schattenspielen, Lichteffekten, diversen Requisiten, einer Leinwand und technischen Elementen bestehen. Stattfinden sollte das Ganze nicht auf einer einzelnen, sondern auf zwei miteinander verbundenen Bühnen. Nachdem alles in der Theorie abgeschlossen war, musste man nun prüfen, welche Ideen auch in die Tat umgesetzt werden konnten. Bei der Bühnenidee griff man auf das US-Logo vom Plattencover zurück. Es gab eine quadratische Bühne und eine runde Bühne, die durch einen Laufsteg inklusive Laufband verbunden wurden. Der Theater-Regisseur und Avantgarde-Bühnenschriftsteller Robert Lepage aus Kanada hat von der ersten Stunde an eng mit Peter Gabriel an diesem Projekt zusammengearbeitet. Für Peter symbolisierten die beiden Bühnenelemente die Geschlechter. Er sagte dazu: „Wir haben uns eingehend mit den Songs, die ich auf der Tour spielen wollte, beschäftigt, und dabei stellten wir immer wieder fest, dass die meisten davon mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben. Dadurch kamen wir auf die Idee, zwei Bühnen zu benutzen: Eine traditionelle Rock’n’Roll-Bühne, in deren Zentrum die Telefonzelle stand und die das Männliche, das Urbane und das Wasser symbolisieren sollte. Als zweites mitten im Publikum eine runde Bühne mit einem beweglichen Baum als Zentrum, die das Weibliche, das Organische und das Feuer darstellt. Um eine Verbindung zwischen diesen beiden Bühne und somit also auch zwischen den Geschlechtern herzustellen, haben wir das Fließband dazwischen gebaut.“ Nachdem wieder einige Wochen der Planung verstrichen waren, wusste das Team, welche der Ideen für die Songs realisierbar waren und welche nicht. Man hatte unter anderem Zeichnungen der Requisiten angefertigt und legte alle Unterlagen Peter Gabriel vor. Danach wurde abschließend darüber entschieden, wie die gesamte Show letztendlich ablaufen sollte. Die einzig existierende Bühne für die bevorstehende Tournee wurde in England von der Firma Brilliant Stages gebaut. Am Ende wurden alle Elemente, also die Bühne, die Requisiten, das Licht- und Soundsystem und die Specialeffects zu einer Einheit, der endgültigen Show, zusammengefügt. Die Secret World-Tour konnte beginnen! Bevor wir aber ins Detail gehen, sei folgendes erwähnt: Nicht alle Konzerte sind mit der aufwendigen Show und vor allem mit der komplexen Bühne aufgeführt worden. Speziell die Gigs bei den Festivals zum Ende der Tournee wurden auf normalen Bühnen absolviert. Im Detail sah das Ganze wie folgt aus (Warmup-Konzerte nicht berücksichtigt):
Mitte April 1993 bis Anfang August 1993
=> erster Teil der Secret World-Tour in Europa, USA und Kanada;
Ende August 1993 bis Anfang Oktober 1993
=> WOMAD-Festivals in Europa, USA, Kanada und Mittel- und Südamerika;
November 1993
=> zweiter Teil der S.W.-Tour in Europa;
Februar und März 1994
=> dritter Teil der S.W.-Tour in Indien, Australien, Neuseeland, Japan und China;
Mai 1994 bis Mitte August 1994
=> diverse Festivals und WOMAD-Festivals in Europa, Nordafrika, Asien und USA.
Eine hundertprozentige Aussage, wann nun mit kompletter Bühne und Show gespielt wurde, kann leider nicht getroffen werden. Vermutlich wurde nur bei dem obengenannten ersten und zweiten Teil der Secret World-Tour die Show in vollem Umfang (also mit zwei Bühnen etc.) präsentiert. Eine Besonderheit sei noch erwähnt: Bei den Konzerten gab es einen abgesperrten Bereich, der sich um den gesamten Bühnenbereich erstreckte. Dieser Bereich war aber nicht nur für die Fotografen vorgesehen, die während der ersten Songs Bilder machen durften! Vor Konzertbeginn wurden nämlich durch autorisierte Personen Pässe oder Armbänder an die Fans in den ersten Reihen verteilt, welche den Zutritt in eben diesen Graben ermöglichten. Auf diese Art befanden sich neben Presse-Leuten auch häufig um die 30 Gabriel-Fans in unmittelbarer Nähe des Bühnengeschehens, die im Gegensatz zu den Fotografen die gesamte Show miterleben durften. Es ist davon auszugehen, dass diese spezielle Aktion nur bei den Konzerten mit beiden Bühnen ablief.
Was nützt schon die tollste Bühne und die genialste Show, wenn man keine guten Musiker um sich versammelt hat? Auch hier hatte Peter einige Überraschungen parat. Zunächst aber zu den bekannten Gesichtern. Am Schlagzeug / den Percussions saß Manu Katché, den Peter bereits bei der This Way Up-Tour verpflichtet hatte. Ergänzt wurde die Rhythmus-Sektion vom alten Wegbegleiter Gabriels, der Bass-Legende Tony Levin. Die Gitarre spielte – immerhin zum dritten Mal bei einer Gabriel-Tournee – David Rhodes. Zum ersten Mal gehörte mit Joy Askew, die an den Keyboards saß und zusätzlich sang, eine Frau zur Band. Eine weitere Überraschung war die Anwesenheit des Geigenspielers Shankar in Gabriels Gruppe. Mit ihm hatte Gabriel schon Anfang der achtziger Jahre zusammengearbeitet. Schätzungsweise ab Mitte der Tournee gab es einen personellen Wechsel, den viele Fans nicht als Schock, sondern als eine Bereicherung ansahen. Joy Askew verließ die Band und wurde am Tasteninstrument von Jean Claude Naimro (spielte unter anderem bei der Band Kassav) ersetzt. Es gab von Mitte / Ende Juli 1993 bis Anfang August 1993 (vermutlich zwecks Anlernen) einige Konzerte mit Joy und Jean Claude. Das letzte Konzert mit Joy Askew fand am 8.8.93 in Bath statt. Ebenso dazu stieß die Amerikanerin Paula Cole, die mit ihrer tollen Stimme das Publikum zu bezaubern vermochte. Paula hat ja mittlerweile einige Erfolge als Solo-Künstlerin feiern können. Erwähnenswert ist noch der Umstand, dass die Drummer-Legende Bill Cobham im Mai 1994 kurzfristig den erkrankten Manu Katché ersetzte und einige unvergessene Konzerte in der Gabriel-Band spielte. Ein weiterer Gast war Levon Minassian, der bei einigen Konzerten (u. a. Nimes am 13.5.93, Los Angeles am 20.7.93, Modena am 16.11.93 und Paris am 24. und 25.11.93) nach dem Intro Zaar die Bühne betrat und auf der Doudouk The Feeling Begins (ohne Begleitung) vom Album Passion darbot (in Nimes spielte Levon zudem noch bei der Zugabe Here Comes The Flood). Es gab aber noch andere Gäste während der Tournee. In St. Austell / Carlyon Bay am 30.8.93 sang Sinead O’Connor während des ganzen Konzertes anstelle von Paula Cole. Sinead war zudem beim Konzert in Dublin am 28.05.93 und bei den beiden Gigs im Earl’s Court in London (31.05.93 und 01.06.93) zu hören und zu sehen. In New York am 6.7.94 war Lenny Kravitz an der Gitarre mit von der Partie.
Bevor das Spektakel namens Secret World-Tour richtig losgehen konnte, gab es einige Warm-up-Gigs, zu denen bereits im Februar 1993 zwei Konzerte im australischen Adelaide gehörten. Im März und April gab es in Montreal, Los Angeles und New York weitere Vorbereitungskonzerte. Die für die Tournee konzipierte und gebaute Bühne war bei allen diesen Konzerten allerdings noch nicht im Einsatz. So lief es darauf hinaus, dass am 13. April 1993 das erste richtige Konzert der Secret World-Tour im The Globe in Stockholm stattfand.
Nun zur Musik! Während andere Bands seit Jahren stur ihr Programm herunterspulen, hatte Mr. Gabriel einige Überraschungen im Hemdsärmel versteckt. Ein typisches Konzert sah während der Secret World-Tour 1993/1994 so aus: Zaar (als Opener vor dem eigentlichen Konzert vom Tonband abgespielt), Come Talk To Me, Quiet Steam (kurze Version) / Steam, Games Without Frontiers, Across The River; Slow Marimbas (nur bei den Konzerten mit zwei Bühnen!), Shaking The Tree, Blood Of Eden, San Jacinto, Lovetown, Kiss That Frog, Washing Of The Water; Solsbury Hill, Digging In The Dirt, Sledgehammer, Secret World. Zugaben: In Your Eyes, Biko. Auf die prinzipiellen Veränderungen im Set wollen wir nun etwas genauer eingehen. Beim ersten Konzert in Stockholm waren außer den oben erwähnten Tracks noch Only Us und Love To Be Loved zu hören. Only Us wurde aber auch später noch vereinzelt gespielt – Love To Be Loved vermutlich nie wieder. Ein paar Tage später wurde Shock The Monkey mit ins Programm aufgenommen. In Deutschland konnte man diesen Klassiker erstmals am 20.5.93 in München hören. Des öfteren wurde auch noch eine dritte Zugabe gespielt: Here Comes The Flood (oder bei einigen Konzerten Jetzt kommt die Flut) war ein toller Nachschlag, der von Peter in einer langsamen und intensiven Akustikversion am Keyboard sitzend präsentiert wurde. Ab Mitte Oktober 1993, nach dem Südamerika-Aufenthalt, erholte sich die Band für einen halben Monat, bevor man im November 1993 für weitere Konzerte nach Europa kam. Zu hören war dann ein weiterer Klassiker, nämlich Family Snapshot (oder bei einigen Shows Schnappschuss). Für Family Snaphot musste Lovetown weichen, welches allerdings zum Ende der Tour (beispielsweise am 8.3.94 in Tokyo, Budokan Hall) wieder einen Platz finden sollte. Beim 100. Konzert am 8.11.93 in Hamburg spielte die Band erstmals in Deutschland auf der S.W.-Tour Red Rain, was allerdings kein einmaliges Ereignis bleiben sollte. Eine weitere Zugabe wurde häufiger ab November 1993 gebracht: Don’t Give Up, das in Deutschland erstmals am 6.11.93 in Berlin präsentiert wurde. Ein weiteres Highlight war unumstritten Schock den Affen (die deutsche Version von Shock The Monkey), das man in Hannover am 19.5.94 im Rahmen des in der Messehalle 2 stattfindenden WOMAD-Konzertes und am 21.5.94 in München beim Event „Rock in Riem“ hören konnte. Es gibt aber noch mehr selten oder nur einmal gespielte Nummern. Beim Konzert in Chile am 30.9.93 kamen die Besucher in den Genuss von Wallflower, das Peter und seine Band zusammen mit der in Chile bekannten Gruppe Inti Ilimani darbot. Kurz vor dem Ende der Tournee nahm Peter Mercy Street mit ins Programm. Das erste Mal konnten die Fans diese neu instrumentierte Version am 10.8.94 in Allentown, USA, hören. Unseres Wissens wurde Mercy Street nur noch zwei weitere Male gebracht, und zwar in New York City am 11.8.94 und in Philadelphia am 12.8.94. Eines sei noch erwähnt: Bei den Auftritten der Band bei Festivals war der Set etwas gekürzt. Zum Beispiel wurden San Jacinto, Games Without Frontiers, Washing Of The Water, Don’t Give Up und Here Comes The Flood manchmal gespielt, manchmal aber auch weggelassen. Jede kleinste Veränderung der gespielten Songs bei zirka einhundertfünfzig Konzerten aufzulisten, würde an dieser Stelle zu weit führen. Eines zeigt aber dieser kleine Einblick in die Modifikationen im Set: Peter (und seine Band) hatte Lust, die Tournee für sich und das Publikum spannend zu halten. Man konnte Überraschungen erleben, auch wenn man schon das zehnte Konzert dieser Ausnahme-Tournee erlebte. Dies macht halt die Besonderheit bei Peter Gabriel-Konzerten aus. Kritik muss der Gute sich aber auch gefallen lassen! Außer den Hits und dem Klassiker Here Comes The Flood ließ er die Frühphase seiner Solo-Karriere weitgehend unbeachtet. Was hätte dagegen gesprochen, Sledgehammer durch Humdrum oder D.I.Y. oder White Shadow oder Intruder zu ersetzen? Und muss er Solsbury Hill immer im Set unterbringen? Geht die Welt unter, wenn die Menschheit diese Hits bei einem Gabriel-Konzert nicht hört? Wie dem auch sei, Spaß machte es trotzdem, und vermutlich erliegt er da einfach nur der großen Nachfrage bei seinen Fans – oder?
Musik ist wichtig, aber bei dieser Tournee waren auch die visuellen und theatralischen Komponenten entscheidend. Auch hier ist es nahezu unmöglich, jede Variante bei den Shows aufzuführen. Das ganze Projekt Secret World-Tour war einfach zu sehr davon geprägt, dass alles im Laufe der Konzerte wuchs und auch immer sicherer wurde. Die Band festigte ihr musikalisches Zusammenspiel zusehends. Zudem funktionierte die Technik von Gig zu Gig perfekter. Es war toll, mit anzusehen, wie die Musiker auf der Bühne sogar die personelle Umbesetzung locker vertragen hatten und trotzdem Lust bekamen. weiterhin zu experimentieren.
Schon mit dem ersten Stück, Come Talk To Me, welches bei dieser Tournee gespielt wurde, bekam der Zuschauer eine Ahnung, was ihn in den nächsten Stunden erwarten würde: Nachdem die ersten Takte zu hören waren wurden die Vorhänge abgesenkt, die bis dahin die Szenerie verhüllt hatten. Die anderen Musiker wurden per Lift auf die Bühne gehoben und nahmen ihre Position ein. Peter sang die ersten Strophen in einer alten roten englischen Telefonzelle. Im Laufe des Stücks verließ er die Telefonzelle und bewegte sich auf dem Steg in Richtung der runden Bühne, auf der nach der Bandumbesetzung während der Tour Paula Cole stand und mit ihm sang. Peter wickelte die Telefonschnur mehrmals um seinen Körper. Gegen Ende von Come Talk To Me kehrte er zurück zur Telefonzelle und hängte rechtzeitig zum letzten Takt des Songs den Hörer in die Gabel. Gegen diesen Opener war Quiet Steam (kurze Version) / Steam richtig unspektakulär. Auf der Leinwand, die nun über der quadratischen Bühne hing und die sich um die eigene Querachse drehen ließ, waren Filme von Dampflokomotiven und anderen dampfenden Objekten zu sehen. Die Dampffontänen, die regelmäßig von der quadratischen Bühne emporstiegen, waren übrigens keine Trockeneiseffekte sondern einfache Feuerlöscher, die synchron von Mitgliedern der Crew betätigt wurden. Games Without Frontiers wurde in der aufgepeppten Version gespielt, die Peter den Fans seit der This Way Up-Tour präsentiert. Teils im Stechschritt marschierend sang Gabriel diese Nummer, die ihre tolle Ausstrahlung in all den Jahren nicht verloren hat. Es folgte der große Auftritt von Shankar, der bis dahin nicht zu sehen war. Shankar präsentierte im Rahmen des Vorprogramms (z. B. in Mannheim am 4.11.93) übrigens einen eigenen Song. Aber zurück zur Show: Shankar stand auf der runden Bühne, am Ende des Laufstegs und bot nach einer Einleitung von Peter eine atemberaubende Mischung aus Gesang und Spiel auf seiner Double-Neck-Geige, die einem die Schauer gleich reihenweise über den Rücken laufen ließ. Peter, aber auch Tony und David ergänzten immer wieder die Performance von Shankar. Das Ganze fand einen tollen Übergang zum schnelleren Teil dieses Songs, der bisher selten im Repertoire des Meisters zu finden war. Es war Across The River, geschrieben 1982 von Peter Gabriel, David Rhodes, Shankar und Stewart Copeland. Im Verlauf der Tour animierte Peter das Publikum vor dem eigentlichen Einsetzen von Shankar zum Mitsingen, zu einem voice loop. Er gab nach und nach einen Ton auf seinem Keyboard vor, den er dann selbst sang. Die Konzertbesucher sollten jeweils genau diesen Laut nachsingen. Die vom Publikum gesungenen Töne wurden gesampelt und als permanenter Grundton (die unterschiedlichen Töne ergeben so etwas wie einen Akkord) für den weiteren Verlauf von Across The River benutzt. Tja, danach wurde der Fluss wirklich überquert – zumindest symbolisch. Alle Musiker, die sich auf der quadratischen Bühne befunden hatten, überquerten angeführt von Peter als Fährmann inklusive Rainstick oder Regenstab (ein hohler Bambusstab gefüllt mit Kugeln, welcher in der Bewegung ein meeresrauschenähnliches Geräusch verursacht) den Fluss – sprich sie wurden vom Transportband des Laufsteges zur runden Bühne bewegt. Während dieses Aktes war vom Tonband Slow Marimbas vom Birdy-Soundtrack zu hören. Auf der zweiten Bühne waren in der Zwischenzeit alle benötigten Instrumente aufgebaut worden.
Die Tatsache, dass man während dieser Tour praktisch zwei komplette Bühnen plus Instrumente technisch derart gelungen umsetzen konnte, ist als großartige Leistung der Techniker und Ingenieure zu betrachten. Die Beschallung erfolgte durch oben an der Bühnenstahlkonstruktion befestigte Boxen. Keine hohen Lautsprechertürme störten, wie sonst üblich, den Gesamteindruck der Bühne.
Die erste Nummer auf der runden Bühne war Shaking The Tree. Im Original sang Youssou N’Dour im Duett mit Peter. Diesmal war Youssou nicht dabei, aber dennoch strotzte dieser Song vor Spielfreude der Musiker. Peter ließ einer alten Leidenschaft freien Lauf, indem er sich selbst ans Schlagzeug setzte, spielte und dabei sang! Im Verlauf von Shaking The Tree überließ er dann aber doch Manu den Platz hinter den Trommeln. Es folgte Blood Of Eden in einer tollen Version. Paula übernahm meisterhaft die Rolle der Duett-Partnerin, die auf US ja von Sinead O’Connor ausgefüllt wurde. Das vorerst letzte Lied auf der runden Bühne war San Jacinto, ein wahrer Klassiker. Peter Gabriel bot eine theatralische Meisterleistung, die in Worten schwer zu beschreiben ist. Es war neben dem Gesang ein fesselndes Spiel mit dem Licht. Während der Darbietung kniete er sich auf ein Holzfloß, welches vom Laufband langsam zurück zur anderen Bühne auf ein auf die Leinwand projizierten Abbild des Mondes zu transportiert wurde. Einen beeindruckenden Abschluss fand San Jacinto auf der quadratischen Bühne in einem atemberaubenden Schattenspiel, in dessen Verlauf sich Peter hinter die Leinwand bewegte. Von hinten angestrahlt, zeigte sich nun seine Silhouette auf der weißen Projektionsfläche. Im Rhythmus des Atems verzerrte sich der Schatten, wurde größer und wieder kleiner. Mit den letzten Worten des Textes verzerrte sich auch der Schatten ein letztes Mal und schien nach oben hin ins Publikum emporzusteigen.
Das nun folgende Stück, Lovetown, war im ersten Teil der Tour noch ein fester Bestandteil des Sets. Das Kaufvideo Secret World Live beinhaltet nicht diesen Song, der sich auf dem Soundtrack fü̈r den Kinofilm Philadelphia befindet und sogar als Single veröffentlicht wurde. Wir wollen Lovetown deshalb etwas genauer beschreiben. Das Stück fing mit einem kleinen Jam von Manu und Tony an, dem sich die anderen Musiker anschlossen. Auf der quadratischen Bühne wurde der Eindruck vermittelt, man befinde sich in einem nordamerikanischen Motelzimmer. Auf der Leinwand war der Blick aus dem Fenster dargestellt. Zudem fehlten auch eine Stehlampe und ein Stuhl nicht. Per Hebelift wurden in der Mitte der Bühne von unten ein Fernseher und Bett positioniert, in dem Peter lag. Er sang die ersten Strophen des Liedes, richtete sich dann auf und fing nun an, sich beide Socken, die Schuhe und ein Sakko anzuziehen. Bei dieser Gelegenheit änderte er seine zuvor weiße Kleidung in eine schwarze.
Im Verlauf der Tournee wurde hiernach Shock The Monkey, aber auch Red Rain oder Family Snapshot gespielt. An irgendeiner Regel kann man dies nicht festmachen. Das nächste Stück hieß KissThat Frog, welches ab und zu aber auch weggelassen wurde. Hier waren das erste Mal Peters Künste als Mundharmonika-Spieler zu bestaunen. Ebenfalls witzig: Eine Kamera filmte von unten durch ein Wasserbecken, in welches von oben Tony und David (und Paula) schauten. Die aufgenommenen Bilder wurden auf die Leinwand projiziert. Es folgte das wundervolle Washing Of The Water. Peter sang ergreifend, in farbiges Licht getaucht. Der bekannte Hit Solsbury Hill folgte und wurde frenetisch vom Publikum gefeiert. Mit einer kleinen Videokamera ausgestattet, lieferte Peter zum folgenden Digging In The Dirtungewöhnliche Bilder seines Gesichtes, die auf der Leinwand zu sehen waren. Peter legte ein großes, weißes Abbild seines eigenen Gesichtes frei, welches sich in Tücher gehüllt auf der runden Bühne befand. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass Peter in den Anfängen der Tournee über den Laufsteg zurück zur quadratischen Bühne robbte. Diese Anstrengung tat er sich später allerdings nicht mehr an, sondern lief in gebückter Haltung zurück, um dann am Keyboard stehend die letzten Takte dieses Stückes darzubieten. Das Stück nahm an Agressivität im Fortgang der Tour zu und entwickelte sich zu einem tollen Höhepunkt der Show. Nun, einen Höhepunkt stellte Sledgehammer schon 1986/87 in den Charts dar. Es war klar, dass dieser Mega-Hit nicht fehlen durfte. Den Abschluss des regulären Sets bildete stets Secret World. Es war eine superbe Darbietung aller Musiker, besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle das tolle Bassspiel Tony Levins. Das Licht ging aus, aber bald wieder an, denn es folgten die Zugaben, die auf der runden Bühne dargeboten wurden (bis auf Here Comes The Flood). Los ging’s in den Anfängen der Tour mit In Your Eyes, später aber auch (nicht immer) mit Don’t Give Up. Letztgenanntes überzeugte in der Performance. Paula begeisterte ein weiteres Mal in der Rolle der Duett-Partnerin, die beim Original Kate Bush übernommen hatte. Vergessen sei aber auch nicht Joy Askew, die in den ersten Monaten der Secret World-Tour auch eine ordentliche Darbietung beim Gesang absolvierte. In Your Eyes bot das Forum für eine gemeinsame Session, der im Verlauf der Tour auch die Musiker der Vorgruppen angehörten. Es gab aber hier und da auch Stippvisiten von anderen Prominenten (z.B. Geoffrey Oryema am 24.4.93 in Paris, Peters Töchter Melanie und Anna am 8.8.93 in Bath oder Robert Lepage am 28.6.93 in Quebec). Die Vorgruppen wechselten während der Tour. Anfänglich war es Ayub Ogada, später dann Papa Wemba mit Molokai und bei den Festivals Lucky Dube. Einen krönenden Abschluss und letztes Lied auf der runden Bühne bildete Biko, welches unverständlicherweise nicht den Weg auf das offizielle Kaufvideo fand. Peter stand auf einem Podest, welches sich auf der Mitte der Bühne befand. Die bekannte Hymne für Menschenwürde endete, nachdem Peter das Publikum zum Weitersingen animiert hatte, sich alle Musiker auf das Podest zu Peter gesetzt hatten (als letzter von ihnen Manu Katché), das Podest samt Menschen per Hebebühne abgesenkt wurde, die Kuppel auf die Bühne niedergelassen wurde und so die Szenerie unter sich einfing. Die letzte Zugabe, Here Comes The Flood (oder Jetzt Kommt Die Flut) präsentierte Peter seinen Fans am Keyboard auf der quadratischen Bühne. Kann es einen schöneren Abschluss für ein Gabriel-Konzert geben?
Zugegeben ist die vorangegangene Beschreibung der Show nur oberflächlich, das sei ausdrücklich erwähnt! Aber tausend Worte sagen halt weniger als ein Bild. Von daher wollen wir nochmal auf die beliebte Rubrik bei On Tour-Berichten eingehen, nämlich die Anekdoten. Hier nun eine Auswahl, die nur ein Bruchteil dessen sein kann, was so alles während dieser Tournee passiert ist: Am 8.5.93 im Palaghiaccio Marino in Rom holte Peter nach den Zugaben seine Eltern (Ralph und Irene) mit auf die runde Bühne und stellte sie dem Publikum unter tosendem Applaus vor. Am 4.11.93 in Mannheim gab es keine runde Kuppel, da der örtliche Veranstalter Angst hatte, dass die frisch gestrichenen Stahlträger, an denen die Konstruktion befestigt sein sollte, Schaden nehmen würden. Am 22.07.93 im Great Western Forum in Los Angeles wurde auf die runde Bühne ein Bett gestellt, um Peter während Shock The Monkey als Spielwiese zu dienen, auf der er herumtanzen und -springen konnte. Nachdem Peter vorhatte, Jetzt Kommt Die Flut für seine deutschsprachigen Fans zu singen, musste der Text besorgt werden. Man wandte sich also an Horst Königstein (den Übersetzer von Here Comes The Flood), um kurzfristig die gewünschten Worte zu erhalten. Nachdem dies gelungen war, zog sich Peter auf sein Hotelzimmer zurück und lernte fleißig Strophe für Strophe des Liedes. Am 19.9.93 im Golden Gate Park in San Francisco kamen 100.000 bis 250.000 (es gibt da verschiedene Quellen) Besucher. Es war somit das Konzert mit den meisten Zuschauern während der Secret World Tour im Jahre 1993. Erwähnenswert ist auch der vermeintlich letzte Gig der Tour (bevor man sich entschloss, im Februar 1994 das Ganze fortzuführen) in Paris am 25.11.93. Nahezu drei Stunden standen die Musiker im Rampenlicht. Neben allerlei Scherzen, welche die Roadies Peter spielten, wurde ein toller Set inklusive The Feeling Begins (präsentiert von Levon Minassian), Only Us und Here Comes The Flood geboten. Am 10.8.94 in Allentown hatte Paula Cole einen Hänger bei Don’t Give Up. Sie vergaß für einige Momente den Text. Nach dem Song erklärte Peter dem Publikum, dass es bei Paula das erste Mal gewesen sei, dass sie ihren Text vergaß, während ihm das ständig passieren würde. Sein abschließender Kommentar lautete: „… but she is learning from the master.“ [„… aber sie lernt vom Meister.“] Nach den Auftritten in Südamerika präsentierte sich Peter im November 1993 mit einem kombinierten Ober-und Unterlippenbart. Im Mai 1994 musste man sich allerdings von diesem ungewöhnlichen Anblick bei ihm verabschieden.
Tja, gibt es mehr zu sagen zu dieser wahren Welt-Tournee? Ganz sicher! Vielen Besuchern der Konzerte bleiben die phantastischen Augenblicke bestimmt noch sehr lange in Erinnerung. Gabriel hat natürlich gewaltig vorgelegt, was Innovation und neue Konzert-Konzepte betrifft. Die Erwartungshaltungen werden enorm groß sein, wenn es wieder heißt: Peter Gabriel kommt auf Tour (und wir zweifeln doch nicht daran, oder?). Wird er die Erwartungen erfüllen? Selbst ein back to the roots, sprich: Konzerte in kleinerem Rahmen und ohne viel Show würde ihm kein Fan übelnehmen, dafür sind seine Live-Auftritte einfach zu faszinierend und werden es hoffentlich noch lange bleiben.
Bernd Zindler