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Peter Gabriel – Scratch My Back – Rezension

Peter Gabriel veröffentlicht ein Album mit Coverversionen. Scratch My Back entstand ohne seine Band, dafür mit einem kompletten Orchester. Gleich drei Rezensenten haben das Werk kritisch durchgehört.

Man kann nicht sagen, dass Peter Gabriel seine Fans nicht mit ausreichend Material versorgt: Growing Up Live (DVD), PLAY: The Videos (DVD), HIT (Best-Of Zusammenstellung auf CD und 2CD), Still Growing Up Live (2DVD), die Warm Up Tour Summer 2007, die Latin American Tour 2009 – es gab reichlich Aktivität im Gabriel-Lager seit 2003. Und nun? Gabriel kam auf die Idee, Songs anderer zu covern (oder besser: zu interpretieren) – wenn diese postwendend ihn covern. Doch Gabriel wäre nicht Gabriel, wenn ihm dies schon reichen würde. Als zusätzliche Hürde setzte er sich Grenzen – kein Schlagzeug, keine Gitarren – nur seine Stimme und ein Orchester.

Der Arbeitstitel für das Projekt ist schon länger bekannt – Scratch My Back, I’ll Scratch Yours. Dies ist ein englisches Sprichwort, das auf Deutsch so viel heißt wie „eine Hand wäscht die andere“. Zwölf Songs anderer Künstler und Bands covert Gabriel und die gecoverten revanchieren sich und covern einen Song von Gabriel. Die Shortlist sah wohl um die 100 Songs vor und es kann nun angenommen werden, dass die finalen zwölf Songs auch deshalb ausgewählt wurden, weil das „Gegen-Cover“ sicher ist. Randy Newman, Elbow und Tom Yorke (Radiohead) haben das in jüngerer Vergangenheit auch schon öffentlich bestätigt.

Scratch My Back erscheint als CD und 2CD, letztere enthält vier Bonustracks. Dazu soll es eine 2LP geben und eine iTunes-LP, die mit der 2CD inhaltlich identisch ist. Weitere Informationen zum Gesamtprojekt, auch zu den einzelnen Formaten, erfahrt ihr unter diesem Link.

Keine Band, „nur“ ein Orchester – dass diese Aufgabe nicht von Gabriel selbst bewältigt werden kann, versteht sich von selbst. Peter bekommt Hilfe von John Metcalfe, der die Orchesterarrangements erarbeitet hatte. Bob Ezrin, vielen Genesis-Fans auch für seine Arbeit für Pink Floyd bekannt, leistete darüber hinaus Beratungsdienste für das Projekt.

In drei Podcasts hatte Gabriel Ausschnitte aus den Songs vorab seinen Fans präsentiert und dazu einige Erläuterungen abgegeben. Dies führte zu einer regen Diskussion in den Fan-Foren, auch bei uns ist man sich alles, nur nicht einig. Gabriels Scratch My Back wird kontrovers diskutiert, es verursachte Hochspannung, Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit, Respekt. Wer nachlesen will, was unsere User zum Konzept und zur Musik schreiben, kann dies hier tun.

Wir haben uns entschlossen, in dieser Rezension drei Meinungen zu Wort kommen lassen. Der Hauptautor Christian Gerhardts (Erkennungskürzel CG) wird somit nicht alleine gelassen, sondern bekommt Co-Autoren mit alternativen Meinungen zu jedem Song zur Seite gestellt. Dies sind Martin Klinkhardt (MK) und Steffen Gerlach (SG). Alle drei schreiben über jeden Song absolut subjektiv und die Synthese überlassen wir weitest gehend euch!

HEROES

David Bowie ist längst eine Musiker-Legende. Einer seiner größten kommerziellen und auch künstlerischen Erfolge ist und bleibt der Song „Heroes“, der 1977 auf dem gleichnamigen Album erschien.

Beschreibung: Ein klares Statement am Anfang des Albums: Hier wird nicht einfach das Original „auf klassisch“ übersetzt. Gabriel lässt sich auf die ursprüngliche Darbietung des Stückes gar nicht erst ein oder nur insofern, als er es „so“ eben gerade nicht macht.  Die Kürzung des Stückes um die ersten beiden Strophen ist da eine geschickte dramaturgische Raffung. Sie fällt auch nicht besonders auf. Den originalen Gitarrenwellen stellt er lang gehaltene Geigen entgegen. Diese „Helden“ sind am Anfang entschleunigt, reduziert auf die Gesangslinie. Und was für ein Gesang: Leise, spröde, gedehnt – Gabriels Stimme zittert sich an der Grenze entlang, jenseits derer sie bricht. Allmählich manifestieren sich auch in den Streichern die Klangwellen, wachsen im Crescendo zum großen „I can remember standing by the wall“ – und selbst hier zeigt Peter Gabriel nicht die große Stimmkraft, die auf der letzten Studioveröffentlichung etwa Signal To Noise demonstrierte. Ob das nun absichtlich zurückgenommen ist – oder ein Anzeichen, dass Gabriels Stimme ihren Zenit überschritten hat, kann man lange erörtern. Die Livekonzerte werden hier zweifellos Aufschluss geben.

CG: Es gehörte zu den Highlights der Teaser-Podcasts. Die zerbrechliche Stimme, die getragene Stimmung, das insgesamt dünne Arrangement – Gabriel schien eine depressive Stimmung zu inszenieren und wurde vor allem stimmlich so intim wie selten zuvor. Doch die Schwäche des Songs ist eben seine Stimme. Der Dramaturgie wird nicht gefolgt – oder er kann ihr nicht folgen. Beim Anstieg auf den Song-Gipfel bleibt Gabriels Stimme schon an der Talstation hängen. Dies ist entweder gewollt, dann ist es schlecht oder wahlweise falsch oder eben genau richtig inszeniert – oder er kann diese zwei Gänge nicht höher schalten. Dann wäre es bedauerlich. „Heroes“ schöpft sein Potenzial leider nicht aus.

MK: Das einzige Stück, von dem ich das Original kenne. Bowie singt es mit großer Geste: „I’m on my way, I’m making it big time: We can be heroes“, liegt Gabriel eher verträumt im Schatten eines Baumes auf der Sommerwiese und malt sich Zukunftswünsche aus, unterlegt mit etwas dissonanten Geigen (Beim ersten Hören dachte ich: Cool, er macht ein Livekonzert nach und hat das letzte Stimmen vor dem Auftritt noch auf dem Band gelassen.) Oder sind es ehemalige Wunschträume? Den dramatischen Höhepunkt des Songs färbt Gabriel ganz anders ein – das ist ein Schrei, der noch in der Erinnerung an den Schrecken im Halse steckenbleibt, den Schrecken der Mauer, des Schießbefehls. Für Gabriel ist die Berliner Mauer ja auch nichts Abstraktes: Nur ein paar Jahre, bevor Bowie „Heroes“ in Berlin aufnahm, gastierten auch Genesis mit der Lamb-Tour in der geteilten Stadt …

SG: 1:1-Coverversionen sind von Gabriel nicht zu erwarten. Und ohne Band und mit Orchester kommt man auch erst gar nicht in Verlegenheit dazu. Welche Möglichkeiten hat man dann bei einem „guitar driven“ Rocksong wie Bowies „Heroes“? Gabriel nutzt hier das Potenzial der Lyrics, die mehr Tragik und Verzweiflung hergeben, als das beim Original-Arrangement rüberkommt. Die zerbrechlich wirkenden Vocals, die man so von Gabriel noch nicht gehört hat, zusammmen mit sparsamen und mitunter monotonen Streichereinsätzen verleihen dem Stück einen entsprechenden Hauch von Hoffnungslosigkeit.

THE BOY IN THE BUBBLE

Das Original von The Boy In The Bubble stammt von Paul Simon und ist auf dessen Album Graceland erschienen.

Beschreibung: Wer das satirisch, zynische Original kennt, dem wippt vermutlich automatisch der Fuß. Wenn Gabriels Version beginnt, wippt nichts mehr. Peter entfernt sich weit vom Original. Die kleinste Überraschung, dass seine Version mit einem Klavier beginnt. Und dann: Er ändert Stimmung und Stimme, unterlegt seinen schluchzenden Gesang mit klagenden Tönen und zarten Klangteppichen, die sich erst ab der zarten Strophe langsam entfalten. Gabriel transformiert einen Radiohit in einen Abgesang eines verzweifelten Menschen …

CG: Paul Simons Graceland-Album gehört zu den Klassikern der 80er Jahre. Dementsprechend ist The Boy In The Bubble ziemlich bekannt und es wurde bereits zuvor gecovert, zum Beispiel durch Patty Smith. Gabriel kann sich mit einem Orchester eigentlich nur weit vom Original entfernen und dies macht er auch. Aus dem einst flippigen Garceland-Opener wird eine getragene Ballade, die fast schon zu langsam ist. Es wirkt insgesamt gefällig, aber man wird das Gefühl nicht los, als habe er hier eine Chance liegen lassen. 40 Musiker in einem Orchester können interessante Klangbilder produzieren, bei The Boy In The Bubble begleiten sie aber nur einen Gabriel, der offenbar die ursprüngliche Geschichte mit den gleichen Worten völlig anders erzählen will als einst Paul Simon. Hier wäre mehr drin gewesen.

MK: Lieder, in deren Text die Worte „these are the days of …“ vorkommen, scheinen grundsätzlich desillusioniert zu sein. Das hingetupfte Klavier und warmes Cello lassen Gabriels Stimme zur Geltung kommen. Beinahe wie ein Wiegenlied singt er dieses Stück, dessen Arrangement mir insgesamt sehr gut gefällt.

SG: Gabriel tritt hier im Vergleich zum Original ordentlich auf die Bremse. Flotter Beat und Harmonien in Dur weichen hier ruhigen Piano-Arppegios in Moll plus Violine und Klarinette. Und die Ironie des Originals weicht einem zu pathetischen Mitleid.

MIRRORBALL

2002 haben Elbow noch More Than This von Peter Gabriel geremixt. 2008 veröffentlichten sie den Song Mirrorball auf ihrem Album The Seldom Seen Kid.

Beschreibung: In den ersten Sekunden klingen die Streicher wie Mr Roboto von Styx – irgendwie synthetisch und nach Science Fiction. In der Mitte der ersten Strophe treten tiefe Streicher hinzu und lassen vollen Klang aufscheinen. Doch erst heißt es: Kommando zurück, noch einmal zur zweiten Strophe langsam aufbauen. Im Hintergrund gleiten die Bläser heran, bevor die Geigen wie die Discokugel zu funkeln beginnen und den Klangraum verzaubern. Gesang wie Musik wollen abheben, wollen fliegen – doch wiederum wird das Arrangement nach einem Herzschlag Pause erneut und wieder anders als zuvor aufgebaut. Und jetzt dürfen sie alle schweben, gleiten jubelnd durch die Luft – bis zum abrupten Ende (aber das ist gut, ein Fadeout wäre diesem Stück so gar nicht bekommen).

CG: Mirrorball ist der erste Song des Albums, bei dem Arrangement und Stimme perfekt aufeinander passen. Der Song selbst ist meines Erachtens nicht die glücklichste Wahl, hier wären andere Elbow-Songs ggf. besser gewesen. Dennoch gelingt es Gabriel mit diesem Stück, das Konzept von Scratch My Back endlich zur Entfaltung kommen zu lassen. Auch seine Stimme klingt im Vergleich zu den ersten beiden Songs deutlich besser.

MK: Nach den ersten Sekunden dieses Stückes habe ich mich erstmal vergewissert, ob das nicht eventuell doch Mr Roboto von Styx ist … Merkwürdige Melodie, plötzlich wird es lauter, dann wieder leiser. In das aufregenden Orchesterarrangement gliedert sich Gabriels Stimme als gleichberechtigtes Element ein. Das ist ungewohnt, weil ja doch in der Pop/Rockmusik die Stimme gewöhnlich über den Instrumenten steht. Im Finale erinnert es ein wenig an Signal To Noise.

SG: Strings gibt’s auch schon im Original von Elbow. Bei Gabriel gibt’s jetzt noch mehr davon. Und Bläser. Und nicht nur 16tel-Noten, sondern auch 8tel, 8tel-Triolen, 16tel-Triolen und 32stel … übereinander! Will sagen: Mehr als ordentliche Leistung des Arrangeurs. Trotzdem gefällt mir das Original besser.

FLUME

Bon Iver ist ein Bandprojekt um den Sänger Justin Vernon. Das bisland einzige Album For Emma, Forever Ago erschien 2008 und enthielt das Stück Flume.

Beschreibung: Flume beginnt im ähnlichen Stil wie etwa The Drop oder Here Comes The Flood – beim Refrain, mit Einsetzen der Streicher, fühlt man sich plötzlich an Sky Blue erinnert. Die wunderschöne Melodie wird hier mithilfe des passend dezenten Gesang Gabrieles wunderbar in Szene gesetzt – instrumentale Dichte gibt es nur im Refrain.

CG: Bevor das Album erschien und klar wurde, welche Songs gecovert würden, deckten sich viele – auch ich – mit den Originalen ein. Flume gehörte zu den besten Songs der zwölf Originale. Gabriels Version rückt die Stimme in den Vordergrund und spätestens jetzt ist klar, dass er genau das will. Das Orchester bleibt im Hintergrund und spielt sich nur dann weiter nach vorne, wenn es der Gesamtatmosphäre zuträglich ist und die Stimme nicht „unterwandert“. Klasse!

MK: „Ablaufkanal“, so die Übersetzung des Titels, kommt ganz gewiß seltener in Songtexten vor. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dieses Arrangement so schon auf UP gehört zu haben.

SG: Das eher minimalistisch mit akustischer Lagerfeuer-Gitarre begleitete Original wird nicht unötig aufgeblasen. Peter glänzt hier mit mehr leidenschaftlichem Gesang, beschränkt sich auf zurückhaltende Piano-Begleitung und setzt geschmackvoll flächige Hörner ein. Erinnert mich streckenweise an Roger Waters …

LISTENING WIND

Die Talking Heads hatten auf dem Album Remain In Light einen Track namens Listening Wind veröffentlicht.

Beschreibung: Aus disparaten Cello-Noten und Pizzicato-Bass entwickeln sich sowohl Rhythmus als auch die  Grundmelodie von Listening Wind.  Die führende Melodielinie liegt aber entschieden in Peter Gabriels Stimme. Im Hintergrund wachsen die Streicher zusammen, werden immer mehr, immer kräftiger – wie, was erst ein laues Lüftchen war, allmählich zu einem Sturm anwächst, aber am Ende doch (zum Glück?) wieder vergeht. Der Name des Stücks ruft einen Filmtitel in Erinnerung: Wind Talkers hießen die Navajo-Indianer, die im Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern als Funker eingesetzt wurden. Die Assoziation zum Krieg ist auch nicht verkehrt, doch ist der Krieg ein anderer und sind die Rollen vertauscht. Mojique ist gewissermaßen die militante Ausgabe des Ureinwohners aus San Jacinto.

CG: In diesem Falle gefiel mir das Original irgendwie überhaupt nicht. Die Talking Heads haben mir aber auch nie besonders gefallen. Aber Gabriel gelingt es, ein erstes großes Highlight zu setzen. Das liegt vor allem daran, dass endlich mal etwas passiert. Ich bin ein großer Fan von Schlagzeugsounds und Rhythmen, so dass der Zugang zu Scratch My Back eigentlich fast unmöglich ist – zumindest über eine ganze Albumlänge gesehen. Listening Wind gelingt hier aber das Kunststück, die Geschwindigkeit des Albums zu erhöhen. Gabriel schaltet drei Gänge nach oben und das ist grandios!

MK: Tolles Orchesterarrangement – auch weil es mal auf die große Streicherdecke verzichtet. Listening Wind ist stärker rhythmisiert als die vorigen Stücke, und im kleineren Arrangement kann man die Leistung aller Beteiligten würdigen. Klingt nahezu poppig.

SG: Groovy geht wohl auch mit Orchester. Immer mehr sequencer-ähnliche, von Streichinstrumenten gespielte Figuren schichten sich übereinander und bringen so eine hübsche Steigerung, die ihren Höhepunkt im von Peter zweistimmig gesungenen Refrain findet. Komisch: Selbiger erinnert mich an einen Ray Wilson-Song.

THE POWER OF THE HEART

Lou Reed ist nicht grad als Verfechter des typischen Love-Song bekannt, doch mit The Power Of The Heart gelang ihm genau das auf einem sehr hohen Niveau. Grotesk: Der Song ist derzeit digital nicht käuflich zu erwerben …

Beschreibung: Wieder ist es das Klavier, das als erstes einsetzt. Die spannende Frage bei The Power Of The Heart ist, ob ein solcher Song über die ganze Länge von fast sechs Minuten die Spannung erhalten kann. Gabrieles Lösungsvorschlag zu diesem Problem: dunkle Klaviernoten, gepaart mit einem Gesang, der eher gesprochen (zuweilen fast geflüstert) wird. Das ganze wird dann etwas sauberer gesungen und musikalisch akzentuiert, wenn es lyrisch und die Kraft des Herzens geht. Das Ganze wird mehrfach wiederholt und spätestens mit der vierten Strophe fällt auf, wie sehr hier die Stimme der entscheidende Faktor ist. Schließlich erhebt Gabriel auch noch einmal sehr viel deutlicher seine Stimme. Eine neutrale Beschreibung fällt schwer, wenn schon beim Schreiben dieser Zeilen sämtliche Nackenhaare strammstehen.

CG: Es brauchte einen Durchgang um mir sicher zu sein: The Power Of The Heart ist der Gipfel dieses Albums – besser würde es nicht werden. Zum einen ist der Song grandios, einer aus der Kategorie „egal, was Peter damit macht, es kann nicht schlecht werden“. Zum anderen erleben wir hier einen Peter Gabriel in Reinform und in Unperfektion. Dass dies kein Widerspruch sein muss, beweist dieser Song. Eiskalt läuft es einem den Rücken runter, besonders in den Strophen drei und vier. Und das Orchester? Macht das, was es hier tun muss: die Stimme zur Entfaltung kommen lassen. Und die Stimme? Das ist zuweilen Sprechgesang, aber genau das macht dieses Stück einzigartig. Weltklasse!

MK: Ein bisschen Washing Of The Water durchzieht den Anfang von The Power Of The Heart. Aber das verklingt bald, denn hier gibt es ein eigenständiges, sehr poetisches Stück Musik zu hören. Es sollte mich nicht wundern, wenn wir diese Version häufiger auf Hochzeiten hören sollen – da bekommt man ja selbst als eingefleischter Junggeselle Lust, sich jemand zu suchen, dem/der man einen solchen Heiratsantrag machen kann …

SG: Das noch junge Werk in sprödem, Lou Reed-typischem Stil verwandelt Gabriel in einen sehr hübschen, romantischen Lovesong und haut in die gleiche Kerbe wie das bereits bekannte The Book Of Love. Das Arrangement von Piano und Stringsection dürften keinem weh tun …

MY BODY IS A CAGE

Vor einigen Jahren wurde Peter Gabriel auf die Band Arcade Fire aufmerksam. Auf deren Album Neon Bible ist das Stück My Body Is A Cage enthalten.

Beschreibung: Warme Klavierakkorde geben den Rhythmus an. Dunkle Bläser treten hinzu und bereiten die Strophe vor. So weit, so ruhig und gleichmäßig. Aber das Arrangement dieses Stückes ist wie ein guter Gruselfilm: Alles wirkt ganz normal, aber am Rande der Wahrnehmung huscht etwas Verstörendes durch das akustische Bild: eine fiepende Geige, ein überraschend gesetzter Klavierakkord aus sehr hohen und sehr tiefen Noten, einem Bass/Cello-Vibrato… irgendwo lauert hier das Monster. Als es dann um die Ecke biegt, wirkt es (siehe Darkness) wie zwar ein lauter und kräftiger Streichermarsch, aber doch nicht wirklich bedrohlich. Doch die Akkorde verzerren sich, entpuppen sich unter lockenden Flötentönen als etwas anderes; während Gabriels Stimme ins Grufttiefe hinuntersteigt, tanzen die Rhythmen zunehmend wilder um den Hörer, brechen plötzlich (mit Ausnahme einer Klarinette) ab – um zum Finale anzusetzen, das standesgemäß groß klingt. Und gleich singt Gabriel wieder völlig ungerührt weiter – scheinbar, denn der Gesang schlägt ins Bittende um; im Hintergrund singt eine Frauenstimme himmlische Chöre, und der Rhythmus des Stücks hört mit einer letzten Bitte auf zu schlagen.

CG: Eine Abwechslung für das Album ist My Body Is A Cage. Hier werden starre Strukturen ignoriert und Abwechslung inszeniert. Abgesehen davon, dass Gabriel auch hier stark singt, ist das kräftige Orchester perfekt eingesetzt. Ein weiteres Highlight!

MK: Ein Stück für den morgendlichen Berufsverkehr … Es geht los, hält an, dann geht’s wieder weiter, und bis dann mal ein Stückchen „freie Strecke“ kommt, fragt man sich, wo das Orchester geblieben ist. Das allerdings klingt gut, wenn es erst mal einsetzt.

SG: Schon im Orginal von Arcade Fire ordentlich dramatisch, kostet hier Gabriel dankenswerterweise das komplette Klangspektrum eines Orchesters aus – das wohl einzige Mal auf Scratch My Back. Die Dynamik des Stücks ist atemberaubend, wenn der Klangkörper mehr und mehr anschwillt und dich nach einem Moment unerwarteter Stille komplett überflutet. Das Highlight des Albums!

04THE BOOK OF LOVE

Die Band The Magnetic Fields um deren kreativen Kopf Stephin Merritt veröffentlichte 1999 ein Album namens 69 Lovesongs und unter diesen stolzen 69 Songs befand sich The Book of Love.

Beschreibung: Viel muss man nicht mehr schreiben, der Song ist weitest gehend gleich gestaltet worden – im Vergleich mit der Version des Shall We Dance-Soundtracks. Gabrieles Stimme wirkt weniger flüssig, dafür singt Melanie mit. Das Arrangement ist insgesamt dichter und der Song etwas länger. Die Inszenierung konzentriert sich auf ein nahezu perfektes Zusammenspiel von Streichern und Gesang.

CG: Das Problem dieses Songs ist, dass es quasi im Scratch My Back-Konzept schon seit Jahren vorliegt. Gabriel veröffentlichte das Stück auf dem Shall We Dance-Soundtrack. Die neue Version offenbart einige Extras im Arrangement, mit Melanie Gabriel eine zusäzliche Stimme und eine neue Gesangslinie von Peter. Er singt es nicht mehr so „glatt“ wie zuvor, sondern seine Stimme wirkt schwächer, brüchiger. Wieder stelle ich mir die Frage – kann er es nicht (mehr) besser singen?

MK: … ist eine schöne Liebeserklärung. Und, wenn ich richtig gehört habe, ein Duett. Es wäre das romantischste Stück auf diesem Album, gleich nach The Power Of The Heart, wenn sich der Text der einen oder anderen ironischen Brechung enthalten könnte. Die letzte Strophe macht das aber wieder richtig wett. Wem The Power Of The Heart zu romantisch ist, der greife zu The Book Of Love.

SG: Ob Peters Version einfach nur gefällt, weil man sie schon ein paar Jahre kennt? Oder passt die „schmalzige“ Umsetzung einfach besser zu diesem Song als die eher gefühlslose Darbietung des Originals? Egal … hier passt alles!

I THINK IT’S GOING TO RAIN TODAY

Randy Newman gilt nicht grad als Ulknudel des Business, sondern als lupenreiner Zyniker. I Think It’s Going To Rain Today erschien 1968 (!) auf seinem selbstbetitelten Album.

Beschreibung: Wenn dieses kurze Stück anstelle von The Drop auf UP erschienen wäre, hätten sich vielleicht einige darüber gewundert, dass Peter Gabriel ein Cover auf einem regulären Studioalbum veröffentlich – die meisten wären aber vor allem erstaunt gewesen zu entdecken, dass es sich bei I Think It’s Going To Rain Today überhaupt um ein Cover handelt. (Die stille Fassung von) Here Comes The Flood, The Drop und dieses Stück klingen sehr verwandt; das macht natürlich die gleichermaßen sparsame Instrumentierung: Nur ein Klavier begleitet mit sparsamen, weichen Akkorden Peters warm raunende Stimme. Eigentümlich ist Gabriels Intonation des letzten „today“ –  bricht ihm die Stimme zum Lachen? zum Schluchzen? Geht er für dieses eine Wort in die Sprechstimme über, um das Stück zum Halten zu bringen?

CG: In gewisser Weise ist diese Interpretation genauso nah an The Power Of The Heart, wie sie weiter weg nicht sein könnte. Beide Songs passen perfekt zu Peter, und bei diesem Track nutzt Peter einmal mehr sein Talent für eine Inszenierung, die nach mehrmaligem Hören seine ganze Qualität entfaltet. Klasse!

MK: Das erste Lied auf dem Album, das in puncto Freundschaft die enttäuschte Seite zeigt. Still und introvertiert und allein hört man hier nur Gabriel und ein Klavier. Und im Herzen herrscht Regenwetter.

SG: Sehr interessant! Ist das Original von Newman mit Piano und Streichern schon „stripped down“ genug, geht Gabriel hier noch weiter und verzichtet auf die Steicher. Und siehe da: Als reine Piano-Nummer ginge das auch als Gabriel-Original durch. Sehr schön!

APRÈS MOI

Regina Spektor veröffentlichte 2006 das viel beachtete Album Begin To Hope, auf dem Après Moi enthalten ist.

Beschreibung: Wer mit Klassik nichts am Hut hat, für den dürfte der lautstarke Beginn der reinste Alptraum sein. Es ist der einzige Song des Albums, der einen derart überfährt. Danach folgt eine unruhige Abfolge klassisch geprägter und gesangstechnisch geprägter Elemente. Der Song baut sich schließlich auf und zerfällt am Ende in seine Einzelteile. Das passt – wie sonst könnte ein Stück enden, das mit „after me the flood“ aufhört?

CG: Es ist manchmal verrückt. Man hört einen Song, kann damit so gut wie nichts anfangen und man weiß dennoch sofort, dass man dieses Stück öfter hören muss. Après Moi verursachte einen solchen Moment. Es dauerte eine ganze Reihe von Durchläufen, ehe ich die Intensität des Songs zu schätzen gelernt habe. Am Ende steht fest: Dies ist einer der Höhepunkte!

MK: Jubelnde Bläser wie aus einer Bach-Messe und locker aufspielende Streicher leiten das Stück ein, weichen aber verstummend weit in den Hintergrund zurück, als der Gesang beginnt. Im Arrangement erinnert es wirklich an barocke Rezitative, etwa das Crucifixus der H-Moll-Messe. Gabrielische Rufe in der Mitte holen das Orchester schön zurück.

SG: Welch mächtiges Intro! Das wird die einzige hier bedachte Dame namens Regina Spektor freuen. Der eigentliche Song verliert zwar leider das eigentlich interessante 6/8-Feeling und wirkt um einiges träger als das Original, aber das Arrangement des Orchesters ist sehr dynamisch und vielschichtig ausgefallen. Ordentlich!

PHILADELPHIA

Zum gleichnamigen Film steuerte Peter seinerzeit Lovetown bei – der vermutlich beste Track des Soundtracks aber war der Neil Young-Song Philadelphia.

Beschreibung: Streicher und gedämpfte Blechbläser wechseln einander in diesem Stück ab. Die Einleitung und die instrumentalen Passagen bestreiten zunächst vor allem die Streicher, während das Blech mit akustischem Trauerflor die Strophen untermalt. Gabriel singt bewegter als andernorts auf dem Album, aber auch hier mit einem gewissen Lebewohl-Gestus in der Stimme. Ganz besonders hervorzuheben ist einerseits das gesamte Arrangement – der Wechsel zwischen Bläsern und Streichern bekommt dem Stück sehr gut – und andererseits besonders die Trompete (oder ist es ein Waldhorn?), die in der Höhe neben Peters Stimme erstrahlt und die Musik wirkungsvoll in ein Spannungsfeld von orchestraler Filmmusik, Musicalklängen und einem barocken Requiem bringt.

CG: Der Gesang des Originals ist harter Tobak, das fällt sofort auf, wenn Peters Gesang einsetzt. Seine Version ist extrem nah am original, was ständig Vergleiche mit Neil Young provoziert. Mit viel gutem Willen geht es am Ende unentschieden aus …

MK: Klingt wie eines der ruhigeren Stücke aus einem Musical. Eines der eingängigsten Stücke auf dem Album.

SG: Neil Youngs Original ist eine wunderschöne Nummer … und sie bleibt es auch nach Gabriels Bearbeitung! Er verzichtet auf das Piano des Originals und lässt sich von herzerwärmenden Streicher- und Bläser-Arrangements begleiten. Die nicht perfekten Falsett-Vocals von Gabriel stören nicht im Geringsten. Vorausgesetzt man hat auch keine Probleme mit Youngs mäßigen Gesangsqualitäten.

STREET SPIRIT (FADE OUT)

Radiohead waren in den 90ern eine innovative Band und Kritiker werfen ihnen vor, dass sie nach OK Computer mehr und mehr an Relevanz verloren. Street Spirit (Fade Out) erschien aber noch vor OK Computer auf The Bends.

CG: Es ist schade, dass die mit Abstand schwächste Nummer das Ende einer interessanten Platte zeichnet. Tiefgang, Überraschungsmomente, grandiosen Gesang – all das sucht man hier vergeblich. Vielleicht liegt es auch an der Wahl des Tracks – es ist nicht gerade die beste Radiohead-Nummer, aus meiner Sicht noch nicht mal eine mittelmäßige. Schade.

MK: Wer hier ein kurzes Fadeout erwartet, sieht sich einem Fünf-Minuten-Stück gegenüber. Klavier, Streicher und Gabriel kämpfen darum, wer sich am leisesten bemerkbar macht. Gabriel gewinnt. Ein Stück wie ein einziges Diminuendo. Also doch Fade Out.

SG: … als ob Radioheads Original nicht schon depressiv genug wäre. Peter setzt noch einen drauf, indem er Tempo rausnimmt und versucht, noch düsterer und weinerlicher rüberzukommen. Spärliches Piano und Tupfer der Streicher-Abteilung tun ein übriges. Vielleicht geht das auch gar nicht anders bei einer solchen Radiohead-Nummer, aber Gänsehaut-Momente wollen sich hier nicht einstellen.


Es gibt eine Parallele zu UP: Peter Gabriel ist wieder ein Album gelungen, das man zum einen nicht mal eben hören kann und an dem sich zum anderen die Geister scheiden werden. Scratch My Back gehört ohne Zweifel in die Kategorie „Sickerplatte“, ganz egal, ob man am Ende ein positives oder negatives Urteil fällt.

Es gibt einige Songs auf dem Album, die einem „normalen“ Fan der Rockmusik einiges abverlangen. Wer sich nicht einlässt auf dieses Album, wird enttäuscht sein. Wer Schlagzeuge, Bässe und Gitarren erwartet, wird ebenso enttäuscht. Es ist eine Herausforderung, ein ganzes Album mit Orchesterarrangements „durchzustehen“. Das ist vermutlich nichts für den iPod in der Straßenbahn oder die Fahrt zum Fitness-Studio im Auto. Es ist ein Sofa-Album, ein Kopfhörer-Album – abschalten, berieseln lassen, es einfach zulassen, dass diese Musik auf einen einwirkt.

Schnell sind die Schwachpunkte ausgemacht: Gabriels Stimme überzeugt nicht immer. Egal ob so gewollt oder nicht mehr gekommt, es bleibt ein merkwürdiges Gefühl an vielen Stellen. Auf der anderen Seite gibt es geniale Momente, die sich prächtig machen in Gabriels Schaffens-Katalog. Es gibt ein klares Konzept, das er von A bis Z durchzieht. Man darf gespannt sein auf die Live-Darbietung.

Welche Songs unserer Meinung nach in entsprechende Kategorien einsortierbar sind, erfahrt ihr nun hier. Dies ist äußerst subjektiv und nach zig Durchläufen übernehmen wir auch keine Verantwortung, dass so mancher Song die Kategorie wieder wechseln kann …

Sehr gut: My Body Is A Cage, The Power Of The Heart, Listening Wind, Après Moi
Gelungen: Heroes, Flume, I Think It’s Going To Rain Today, The Book Of Love
Mäßig: The Boy In The Bubble, Mirrorball, Philadelphia
Durchgefallen: Street Spirit (Fade Out)

Schließlich drängt sich eine Frage auf: Wieso veröffentlicht Gabriel ein Album voller Songs anderer Künstler und ohne seine Band, wenn er unzählige fertige und fast fertige eigene Songs auf Halde hat? Die Antwort ist simpel: Er nimmt sich die künstlerische Freiheit, das für ihn interessanteste Projekt zu verfolgen. Ein echtes, eigenes neues Album mit neuen Songs hätte ganz andere Folgen, als dieses Projekt – und dazu war Peter wohl noch nicht wieder bereit. Somit verkürzt Scratch My Back die Wartezeit auf I/O (oder wie sein neues Album dann wirklich heißen wird), so wie damals OVO die Wartezeit auf UP verkürzte.

Autor: Christian Gerhardts
Co-Autoren: Martin Klinkhardt, Steffen Gerlach

Fotos: EMI / Nadav Kander

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