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Peter Gabriel – Playtime 1988 – Tourbericht

Die Playtime 1988 war die Tour zum vierten Album und fand in zwei Abschnitten 1982 und 1983 statt.

1983 / 1983: The Rhythm Has Control!


PETER GABRIEL AUF DEN AFFEN GEKOMMEN! So oder ähnlich müsste die Schlagzeile wohl lauten, wenn man diese Tourperiode oberflächlich zusammenfassen wollte. Während die neue Musik Peters geprägt war von stark betonten Rhythmen, ethnischen Elementen und den ungewöhnlichen Klängen aus der „Wunderwelt“ des Fairlight-Samplers, behandelten die Songs, vielleicht noch stärker als je zuvor, skurrile Charaktere und dadaistisch verfremdete Welten. Kein Wunder, dass Peter zu einer stärkeren Theatralik gezwungen war als noch bei der vorherigen Tournee.

Erstmals seit seinem Ausstieg bei Genesis bediente er sich dabei wieder einer Maske, in Form eines aufgeschminkten stilisierten Affen-Gesichts. Dieses Wesen, zum Teil Mensch, zum Teil Affe, zum Teil Außerirdischer (tatsächlich ließen die Macher vom italienischen Fernsehen Peter den E. T. spielen, als sie einen ungewöhnlichen Einstieg zum San Remo-Festival 1983 suchten) – diese Rolle also bestimmte Peters ganzen Bewegungskatalog auf der Bühne. Peter, der vor Antritt der Tour vier Tage lang bei der Choreographin Laura Dean in die Schule gegangen war, tanzte, sprang, hüpfte und bewegte sich zeitweise wie ein unsicher aufrecht gehender Vierfüßer. Viel übermütiges Spiel kam in die Bewegungen, am auffälligsten aber waren wohl die großen, zeitlupenhaften Gesten, die die Aussagen der Songs begleiteten – ein Mittelding zwischen einem Pantomimen und der Gebärdensprache der Gehörlosen.
Diese weit ausholenden Gesten, die die Blicke der Zuschauer auf Hände und Gesicht fokussierten, wurden eine Zeit lang das Markenzeichen von Gabriel und beinahe sprichwörtlich (,,eine Peter-Gabriel-Pose“).

Zweites eigentümliches Kennzeichen dieser Konzerte im Gegensatz zu „normalen“ Rockkonzerten war die den Shows innewohnende eigene Dramaturgie. Das war kein Konzert, es war eine Inszenierung voller Dramatik und Abenteuer, ein Spektakel im perfekten Zusammenspiel von atmosphärischer Musik, choreographierten Bewegungen und Lichtregie. Obwohl hier kein Konzeptalbum vorgeführt wurde, gab es irgendwie einen roten Faden, der sich durch das Konzert zog, und der lag nicht nur in der „Affenrolle“ Peter Gabriels.

Und wo war der „wahre Peter Gabriel“ unter der Kunstfigur? „ Ich denke, es ist jetzt mehr von mir sichtbar. Ich muß in dieser Richtung noch weiterarbeiten, aber ich würde mich gerne öffnen. Man braucht einen Schnorchel, dann bin ich sogar sehr sichtbar!“ Doch wie immer hier zunächst einmal die allgemeinen Fakten der Tour (zu den Einzelkonzerten im Sommer 1982 kommen wir später). Strenggenommen gab es zwei Tourneen: die 1982er USA/Kanada-Tour und die ausgedehnte „PLAYTIME“-Tour 1983, die Peter in Fortführung einer Tradition mal wieder mit der falschen Jahreszahl versah – PLAYTIME 1988!

Peters Mitstreiter waren bei beiden Tourneen die bekannte Tourband Peters – Tony Levin (Baß, Stick), Larry Fast (Synthesizer) und Jerry Marotta (Schlagzeug) sowie der nicht ganz unbekannte „neue Rekrut“ David Rhodes (Gitarre). Verstärkung gab es beim New York-Konzert 1982, als Shankar ein letztes Mal (bis 1993) bei Across The River mitwirkte. Ergänzt wurde die Band ebenfalls beim Konzert im Crystal Palace Fußballstadion durch Phil Collins (der den kranken Jerry Marotta unterstützte) und in der Zugabe von Allan Schwartzberg, Peters 1977er Tourdrummer, der bei Kiss Of Life tanzend das Tambourin schlug. Vorbands waren The Electric Guitars aus Bristol und später The Call. Die Setlist der 1982er USA/ Kanada-Tour bestand aus:

Rhythm Of The Heat
I Have The Touch
Not One Of Us
The Family And The Fishing Net
Shock The Monkey
Family Snapshot
lntruder
I Go Swimming
Lay Your Hands On Me
Solsbury Hill
I Don’t Remember
San Jacinto.

Die Zugaben wurden bestritten aus einer Auswahl aus On The Air, Kiss Of Life, Biko, D. I. Y. (selten) und Here Comes The Flood (selten). Gelegentliche Set-Ergänzungen bestanden aus Wallflower und dem Nicht-Album- Track John Has A Headache. Auf einigen Konzerten ersetzte allerdings auch Across The River den üblichen Eröffnungssong Rhythm Of The Heat. Und in Normal, lllinois, schließlich durfte natürlich Lead A Normal Life nicht auf der Setliste fehlen!

Handgehaltene drahtlose Mikrofone waren für Peter schon lange nichts Neues mehr. Erstmalig benutzte er allerdings auf dieser Tour auch drahtlose Kopfmikrofone, die ihm die Hände freihielten und die ganze Bühne als Spielfeld eröffneten. Diese neue Technik war jedoch noch nicht ganz ausgereift – zuweilen kam es vor, dass Radiostationen, Taxifahrer oder Krankenwagen dieselben Frequenzen wie die Funkmikrofone benutzten und ganz unfreiwillig einen Beitrag zu den Gabriel-Shows lieferten ! Ohne diese Funkmikrofone hätte allein schon der Anfang der Konzerte nicht klappen können. Während des Intros zu Rhythm Of The Heat marschierte die Band, jeder eine riesige Trommel oder Pauke umgeschnallt, von hinten trommelnd durchs Publikum zur Bühne. Dieser kleine Spielmannszug war überwiegend schwarz gekleidet, mit weißen Kniebandagen: Die Band trug schwarze Westen mit wenigen weißen Streifen (der Zeichnung von Tieren nachempfunden), und David und Tony zeigten in Anlehnung an Peters Monkey-Maske nur eine Andeutung von schwarz-weißem Make Up rund um die Augen. Peter schließlich trug eine mit weißen Umschlägen versehene Jacke, deren leichte Glockenform Peter wie einen Chinesen aussehen ließ. Immer noch spielend, bildeten sie eine Reihe am Bühnenrand. Die einzige Bühnendekoration bestand aus einem turmhohen Podest mit einer Reckstange in Bühnenmitte. Nur die Konzertgänger in der ersten Reihe dürften allerdings bemerkt haben, dass der den Turm erklimmende Peter die Augen fest geschlossen hielt, um Höhenschwindel zu vermeiden. Oben angekommen, stieß er den Eingangsschrei von Rhythm Of The Heat aus: das Konzert hatte begonnen!

In I Have The Touch gab es zwischen Peter und David eine wahre Zeremonie aus angestrebtem und vollzogenem Händeschütteln, und das Ende von Not One Of Us dröhnte von Jerrys lautem, hektischem Trommelschlag. Ein erster Höhepunkt war Shack The Monkey: Peter, man verzeihe das Wortspiel, fegte wie vom wilden Affen gebissen über die Bühne, schwang an der Reckstange, sprang und hüpfte wie ein Gummiball. Auf den Ausruf ,,$hock!“ hin sah man Peter, David und Tony simultan einen hohen Luftsprung machen. Der absolute Höhepunkt war zweifelsohne Lay Your Hands On Me. Jerrys organischer Drumsound ersetzte den Drumcomputer. Am instrumentalen Ende schließlich streckte Peter die Arme nach vorne wie ein Schlafwandler. Bei einem sitzenden Publikum ging er einfach zur ersten Reihe, bestieg wacklig die Armlehnen (helfende Hände wurden ihm ja schließlich genug entgegengestreckt), und stieg Reihe für Reihe über die Sitze hinweg nach hinten (unnötig zu bemerken, dass die Sitzordnung natürlich inzwischen in Chaos umgeschlagen war), Hände schüttelnd und „ Kon-Takt“ suchend.

Bei einem stehenden Publikum ließ er sich, im Gegensatz zur vorigen Tour inzwischen rückwärts, auf die ausgestreckten Arme fallen und weitertragen. Manchmal versuchte er bei einem sitzenden Publikum (das inzwischen aufgesprungen war) sogar BEIDES! Bei diesem „Dive“ kamen ihm dann regelmäßig Schuhe, Kniebandagen, Mikrofon, Jacke oder andere Teile der Kleidung abhanden. Zum Glück für uns überlebte Peter ihn aber jedesmal unbeschadet! Und Biko schließlich endete erstmalig mit dem doppeldeutigen „ The rest is up to you !“ Zwischen beiden Tourneen lag im Januar der Überraschungsauftritt bei der Zugabe eines Steve Hackett-Konzerts. Here Comes The Flood, So/sbury Hilf (samt Mikrofonausfall), die Four Tops-Nummer Reach Out (/’II Be There) und/ Know What I Like wurden zum besten gegeben. 1 m Februar 1983 trat Peter in sechs verschiedenen italienischen lV-Sendungen und auf dem San Remo-Schlagerfestival auf. Peter und seine Pseudoband The Electric Guitars (normalerweise die Vorgruppe) mimten zum Playback mit den schon bekannten choreographierten Bewegungen und Gesten. Benutzt wurden außerdem ein Klettergerüst und ein gebogener Spiegel für Effekte.

Interessant sind diese „Auftritte“ einerseits für die unterlegte Version von Lay Your Hands On Me, dessen Strophen gesungen statt gesprochen wurden, andererseits für Shock The Monkey vom zweiten Tag des Schlagerfestivals: Das pikfeine Saalpublikum wurde gehörig geschockt, als Peter an einem riesigen Seil tarzanartig auf ihre Sitzreihen zuschwang und, unverdrossen weiter singend, auf Ihren Stuhllehnen spazierenging. Sein Pech war allerdings, dass er beim Zurückschwingen an den Bühnenrand knallte! Nun endlich die Setlist für die „PLAYTIME 1988″-Tour:

Across The River
I Have The Touch
oder lntruder
Not One Of Us / Du bist nicht wie wir
The Family And The Fishing Net

Shock The Monkey / Schock den Affen,
Family Snapshot / Schnappschuß (ein Familienfoto)
lntruder
Humdrum
(nicht immer),
Games Without Frontiers,
Lay Your Hands On Me,
Solsbury Hill,
I Don’t Remember
San Jacinto
On The Air
Biko
Kiss Of Life
(nicht immer)
Here Comes The Flood / Jetzt kommt die Flut.

Gelegentliche Veränderungen betrafen den Eröffnungstrack – Rhythm Of The Heat samt „Spielmannszug“ – und den Ersatz von Humdrum und / oder Games Without Frontiers durch eine Auswahl aus No Self Control, D. I. Y., Wallflower, I Go Swimming und Milgram’s 37. Ganz selten, in Hamburg beispielsweise, wurde in Deutschland auch I Have The Touch in Deutsch als Kon-Takt gebracht. Die wichtigsten Veränderungen gegenüber 1982 betrafen die Bühne und Peters Outfit. Die Bühne wurde nun dominiert durch eine Pyramide aus verschiedenfarbigen, von innen beleuchtbaren Sechsecken. Ganz am Rande der Bühne hatte man die alten farbigen Neonsäulen der 1980er Tour recycelt. Natürlich durfte auch ein Kletterrahmen mit Reckstangen für Peter nicht fehlen, von dem ausgiebiger Gebrauch gemacht wurde während Shock The Monkey. Im Gegensatz zur schwarz gekleideten Band war Peter bei den meisten dieser Shows ganz in weiß gekleidet, sogar seine Schuhe waren weiß. Er trug eine Kombination aus einer kurzen, weiten Windjacke und einer weiten Hose. Der Bund von Jacke oder Hose wirkte wie ein breiter Stoffgürtel. Seine weiße Kleidung, das weißblaue Make Up und seine Gesten zogen die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf ihn.

Diese Tour war die letzte, die Peter mit skurrilen Einleitungsgeschichten würzte. Hier ein Beispiel: Einige von uns saßen am Rande des Piers. Wir hatten diese kleinen Plastiktüten, verbunden mit Gummiringen an unseren Armen und Beinen, die kleine Einschnitte in die Haut produzierten. Und das Blut, das in den Plastikbeuteln aufgefangen wurde, wurde in die Wellengeworfen. Die kleinen roten Ringe, die auf der Wasseroberfläche entstanden, waren dann genau das Zielgebiet für unsere Fischer/ einen. Wenn genügend Blut da war, zogen wir herauf Fernseher, Autos, Stereoanlagen und andere begehrte Konsumgüter. Ein großer Finger tauchte auf aus dem Wasser. Und ein kleiner Ring wurde über ihn geworfen. Es sah in etwa so aus (Peter machte eine obszöne Geste mit seinem Zeigefinger und den
zum Ring gebogenen Zeigefinger und Daumen der anderen Hand). Das war ein kleines Ritual, um zu illustrieren: Die Familie und das Fischernetz!

Weitere Impressionen – ein ungewöhnlich schnelles, lautes, dynamisches Across The River, ein erster „Kontakt“ zwischen Peter und der ersten Reihe des Publikums während I Have The Touch, ein rasend schnell gespieltes lntruder, Peters hektischer Wechselschritt während No Seif Control – wie ein Läufer, der den Start nicht abwarten kann -, die perlenartigen Discolichter während I Go Swimming und Biko sowie die „flammenden“ Sechsecke während On The Air. Ein Höhepunkt war auch San Jacinto, das mit Nebel und wenig Licht von unten begann und mit einem kräftigen senkrechten Lichtstrahl von unten endete, der von Peters ausgestreckter Hand (oder genauer, dem versteckten Taschenspiegel darin) direkt ins Publikum und zuletzt auf seinen gebeugten Kopf umgelenkt wurde. Soviel zu den eigentlichen beiden Touren 1982 und 1983. Nachzutragen blieben bloß noch die zwei herausragenden Einzelereignisse im Sommer 1982, weit vor Beginn der Tour. Das erste Weltmusikfestival der Geschichte, das dreitägige WOMAD-Festival, war von Peter Gabriel itinitiiert worden.

Während es künstlerisch einen wahrgewordenen Traum für Peter darstellte, scheiterte es finanziell katastrophal. Falscher Idealismus, Sponsorenabsprünge, mangelnde Publizität und ein Eisenbahnerstreik ließen es an zahlendem Publikum fehlen, so dass man am Ende 189.000 Pfund Schulden einfuhr. Für das Konzert am Abend hatte Peter nur vier Tage Proben gehabt. Es galt, das kurz vor Fertigstellung stehende neue Album (alle Songs außer Wallflower) dem ausgehungertem Publikum vorzustellen. An Bekanntem erwarteten die 4000 Gäste im Showering Pavillion gerade einmal I Go Swimming, Shosholoza und Biko, ein letztes Mal John Ellis am Bass und ein letztes Mal die schwarzen Overalls der vorigen Tour. Doch Peter Hammill als Gastsänger und die westafrikanische Perkussionsgruppe Ekome sorgten dafür, dass selbst die bekannten Stücke gar nicht mehr so vertraut klangen. Peter Gabriel selber war zwar mit seiner Performance an jenem Freitag nicht zufrieden (,,pretty shitty“), aber die Menge raste. Eine einzige zaghafte Bewegung während / Go Swimming, und alle brüllten nach mehr. Höhepunkt jedoch war The Rhythm Of The Heat: Der treibende Rhythmus der Ekome-Mitglieder sah Peter auf den Knien, den Körper vibrierend und kreisend, sich vollkommen dem Rhythmus überlassend.

Die Bewegungen im Zusammenspiel mit den donnernden Trommeln erinnerten an totale Trance, den Liebesakt, Voodoo – pure Magie! Um wenigstens noch ein paar Leute anzulocken, stimmte Peter einem zusätzlichen Konzert am Sonntag zu. Die extra für diesen Zweck spontan zusammengestellte Band bestand neben Peter aus dem indischen Violinisten Shankar, Peter Hammill (ex-Van Der Graaf Generator), Stewart Copeland (exPolice), David Rhodes und Larry Fast. Das stark von Improvisationen bestimmte Set lief nach Peters Meinung wesentlich besser als das erste Konzert. Neben dem Peter Hammill-Song A Ritual Mask bekamen die Konzertbesucher die Improvisationsstücke Dog 1 Dog 2 Dog 3 und Indian Melody zu hören sowie zweimal Across The River. Von den exklusiv auf dieses Ereignis beschränkten Songs ist Dog 1 Dog 2 Dog 3 wohl am interessantesten, eine ungewöhnliche Kombination aus klageliedähnlichen Strophen a la „Looking for mercy“ mit einem Uptempo-Refrain der I Go Swimming-Richtung. Das zweite herausragende Konzertereignis im Sommer 1982 ergab sich direkt aus dem ersten. Genesis boten Peter zur Deckung der Schulden eine helfende Hand in Form des Genesis-,,Reunion“-Konzerts (siehe Genesis on tour-Artikel in it #1 4). Peter, obwohl äußerst dankbar, sah auch die Ironie. Jahrelang bemüht, sich mit seinem eigenen Stil von seiner Genesis-Vergangenheit loszueisen, startete er durch dieses Konzert die Genesis-Assoziationen wieder von neuem: ,, Oh, ich werde da voll mitmachen und mich amüsieren. Scheiß‘ auf die Glaubwürdigkeit!“

Der bewegendste Moment am Abend war wohl die kleine Szene, als für Turn lt On Again Phil von hinten nach vorne eilte, um ans Sängermikrofon zu gelangen, während Peter Phils Schlagzeug besetzen sollte. Als beide sich auf dem Weg zu den neuen Positionen in der Mitte trafen, gab es eine herzliche Umarmung – und das Publikum nahm es als Symbol der Versöhnung . . .

Autorin: Karin Woywod
zuerst erschienen im it-Magazin #22, März 1997