- Artikel
- Lesezeit ca. 10 Minuten
Peter Gabriel – Passion: The Last Temptation Of Christ – Rezension
In vielerlei Hinsicht ist Passion ein Aufbruch: Es ist Peter Gabriels erstes echtes Filmmusikalbum, die erste Veröffentlichung seines Labels Real World, und nicht zuletzt ein herausragendes musikalisches Werk, das mithalf, Weltmusik populär zu machen. Martin Klinkhardt hat es sich für euch angehört.
Der August 1988 ist ein heißer Sommermonat. In den Hitparaden ist mit Ofra Hazas Im Nin’ Alu erstmals ein Song auf Platz 1, den man als „Weltmusik“ ansprechen kann. Im Persischen Golf geht der Golfkrieg zwischen Irak und Iran zuende, und Vertreter der christlichen Kirche beklagen den Verfall und bevorstehenden Untergang des westlichen Abendlandes. Sie warnen vor dem neuen Film des amerikanischen Regisseurs Martin Scorcese. Blasphemisch sei er und beleidige wortwörtlich Gott und die Welt. Die Letzte Versuchung Christi basiert auf einem Roman von Nikos Kazantzakis und versucht Jesus konsequent als Menschen darzustellen, der darum ringt, mit dem Göttlichen in ihm klarzukommen, als Menschen, der zwar frei von Sünde bleibt, aber doch wie jeder andere Mensch auch allen Formen der Versuchung unterworfen ist. Nicht alle Kritiker waren empört; viele fanden Gefallen an dem Film und andere attestierten ihm, er sei „eine bemühte Umsetzung des biblischen Stoffes, an dem die Musik von Peter Gabriel noch das Interessanteste ist.“ Ob der Roman nun hölzern, lebendig, blasphemisch oder philosophisch umgesetzt wurde, mag jedermann für sich entscheiden. Sicher ist jedoch, dass in der Tat selten ein Film so kongenial musikalisch unterlegt wurde.
Pünktlich zum Filmstart sollte dann auch der Soundtrack in die Läden kommen. Während besonders in Amerika wegen des Films die Wogen der Empörung hochschlugen, verschwand die Eintragung „Peter Gabriel – The Passion“ ohne größeren Kommentar von der Veröffentlichungsliste von Geffen Records. Knickte da eine Firma vor christlichen Eiferern ein? Der Grund war ein anderer: Gabriel hatte im Frühjahr 1988 den Soundtrack geschrieben; für die Aufzeichnung der Musik waren sechs Wochen vorgesehen. Universal wollte den Film, der schon im Vorfeld für so viel Wirbel sorgte, möglichst bald veröffentlichen, und beschnitt Gabriels Aufnahme- und Abmischzeit auf drei Wochen. Nachdem die Aufnahmen für die Tonspur des Films seinen Worten zufolge einem „bit of a rush“, einem hastig erledigten Job also, glichen, wollte Gabriel den Soundtrack besser austarieren. Seine Teilnahme an der Human Rights Now! Tour für Amnesty International trug allerdings auch nicht dazu bei, das Projekt voranzutreiben. Der Film kam also in die Kinos und vom Soundtrack: keine Spur.
Gabriel nahm sich Zeit. Immerhin war dies sein erster „echter“ Soundtrack – Birdybestand ja, wie Gabriel dort auf der Albumhülle auch unumwunden zugab, größtenteils aus recyceltem Material. Außerdem bot ihm dieser Film die Gelegenheit, sich noch intensiver als bisher mit der Musik zu beschäftigen, die ja auch schon seine Alben III und IV beeinflusst hatten: Es lag auf der Hand, einen Film, der im Nahen Osten der Zeitenwende spielte, auch mit Musik aus dieser Region zu unterlegen. Dabei ging es Gabriel nicht um detailgetreuen Historismus, sondern um „Musik, von der man sich ohne weiteres vorstellen kann, dass sie zu Jesu Zeiten in Judäa gemacht worden sein könnte“. Eine Synthese aus zeitgenössischer und für die Zeit im Film plausibler, in diesem Sinne also zeit-gemäßer Musik war das Ziel.
Es läge nun weniges näher als zu behaupten, Gabriel habe angesichts dieser Aufgabenstellung bewusst auf den Einsatz des üblichen Instrumentariums der Rock- und Popmusik verzichtet. Dem Verfasser scheint es angemessener, von einer Vervielfältigung der Ausdrucksmöglichkeiten und Klangfarben zu sprechen, die Peter Gabriel erreichte, als er Instrumente und Instrumentalisten aus der ganzen Welt in die Aufnahmen für Passion einbrachte. Dabei gelingt es ihm aber durchweg, Musik zu schreiben, die der Landschaft gleicht, in der der Film angesiedelt ist: Karg, spröde mitunter, doch niemals reizlos – und durchbrochen von reichen, vor Leben überströmenden Stücken wie die grünen Flussufer die Wüsten Israels durchziehen. Dieses Album möchte nicht so gern analysiert werden, es möchte mit offenen Ohren gehört werden – und vor allem auch gefühlt.
„Das Gefühl beginnt sehr zart, sehr liebevoll – bis die Klauen zupacken“, heißt es im Film, und gerade so führt The Feeling Begins den Hörer in die Klangwelt ein: Eine dunkle Bordun eröffnet das Album. Wie die frühe Morgendämmerung zieht das Duduk mit sehnenden Klängen den Schleier der Stille von der Musik. Kräftig setzen Perkussionsinstrumente ein und treiben das Thema nach einer kleinen Atempause auf einen rhythmischen Höhepunkt.
Die Musik bricht plötzlich ab und beginnt leise mit verstörenden, unruhigen hohlen Flötentönen, die allmählich von langen Bassnoten überlagert werden. Gethsemaneheißt das kurze zweite Stück, bei dem man sich gut vorstellen kann, wie Jesus in der Annahme des Kelches sich festigt und zur Ruhe kommt.
Ein schnarrendes Instrument wendet die bedrückende Atmosphäre der Musik und führe in Of These, Hope ein, ein fröhliches Stück, dessen Titel an das bekannte Wort aus dem Ersten Korintherbrief erinnert: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am größten jedoch unter ihnen ist die Liebe.“ (1.Kor.13,13). Ein leichter, nahezu hüpfender Rhythmus, über dem Shankar leichte Geigentöne neben Flötenklängen schweben lässt. Fließend geht die Musik über in Lazarus Raised. Die Vertonung von Lazarus‘ Auferstehung ist jedoch ausnehmend spröde, nur eine einfache Dudukmelodie erhebt sich aus dem unwirtlichen Klangfundament.
In der Melodie der Flöte kehrt dann ausdrucksvoll das Thema von Of These, Love zurück. Demgemäß ist das Stück auch als Reprise von Of These, Love betitelt. Hier ist das Thema allerdings bewegter durchgeführt.
Ein langsamer tiefer Loop pulsiert als Basis durch In Doubt. Stark verzerrte Samples und Gesänge sind kaum noch als solche zu erkennen. Atmosphärisch erinnert In Doubt an Ravinevon Genesis’ The Lamb Lies Down On Broadway-Album. Wie ein frischer Wind belebt der Einsatz der Percussion am nahtlosen Übergang zu A Different Drum das musikalische Bild. Über den Rhythmusinstrumenten, die von nicht weniger als drei Musikern bedient werden, gleiten schwerelos das wunderbare Geigenspiel von Shankar und Youssou N’Dours freier Gesang, zu dem wie eine Bergkette, die sich allmählich dem Himmel zustreckt, Peter Gabriels erdiger Gesang tritt. Beide singen keinen verständlichen Text, sondern jene halbartikulierte Scheinsprache, die allgemein als „Gabrielisch“ gilt. Kurzzeitig vereinen sie sich zu einem rhythmischen Kurzgesang, bevor N’Dours jubelnder Ruf A Different Drum langsam zum Ende führt.
Nach einem Moment der Stille beginnt dann das wohl bekannteste Stück des Albums: Zaarwar auch schon auf Gabriels erstem Greatest Hits-Album Shaking The Tree enthalten. Zunächst sehr verhaltene Rhythmen lassen das Stück fließen, wie frisches Wasser einen Wüstengarten durchströmt und Leben spendet. Bald treten die Instrumente mit Gabriels sparsam eingebrachtem Gesang ins Gespräch, bis sich ein neuer Rhythmus aus Gitarrentönen erhebt und die Tiefen hinter sich lässt. Am Ende sinkt Zaar zurück in die Tiefen des Anfangs, wie ein langer Kreis, der nun vollendet ist.
Troubledist die konventionellste Nummer auf diesem Album. Samples und kräftiges Schlagzeug, das auch auf regulären Rockalben seinen Platz hätte, eröffnen den Reigen, nimmt sich aber bald zurück und lassen dem mantragleichen Gesang von Peter Gabriel und David Sancious Raum.
Ein meditatives Zwiegespräch zwischen Shankars Geige und Peter Gabriels Gesang ist das prächtige Open, das aus einer Improvisation der beiden Musiker erwachsen ist. Ein dunkles Bordun bildet den Hintergrund, vor dem Stimme und Geige umso heller und strahlender wirken.
Radikal wechselt die Atmosphäre zum nächsten Stück hin. Der helle Klang der Fingerbecken, die den Rhythmus vorlegen, ist ein eher ungewohntes Geräusch. Begleitet von Shankars Doppelgeige erklingt bei Before Night Fallsauf der Neyflöte eine filigrane abendliche Melodie, die ursprünglich aus Armenien stammt.
Ein sehr langsamer Walzertakt mit tastenden Basstönen eröffnet das wohl zugänglichste Stück des Albums: With This Love greift Melodien aus der klassischen Kirchenmusik auf. Oboe und Englischhorn spielen Themen, von denen man kaum sagen kann, ob ein Peter Gabriel sie komponiert hat oder ein Johann Sebastian Bach. Das Hauptmotiv verzaubert durch seine eindringliche Schlichtheit und eine, wie es dem Verfasser scheint, fast schon schmerzhaften Schönheit. Zur Coda hin übernimmt der Synthesizer das Thema und führt es gemeinsam mit der Oboe zu einem gelassen strahlenden Schluss.
Sandstormbringt den Hörer direkt wieder zurück in die Wüste. Aus dem sanderfüllten Heulen des Sturms dringt nur allmählich ein Tanzgesang und entschwindet dort wieder schneller als er vernehmbar wurde.
Stigmata, die Vertonung der Wundmale Christi, ähnelt Open. Beide Stücke haben ihre Wurzeln in einer gemeinsamen Improvisation. Hier hat Peter Gabriel mit dem Kementsché-Spieler Mahmoud Tabrizi Zadeh ein verletzlicheres Stück geschaffen, dessen unbestreitbarer Charme jedoch spröder ist als der von Open.
Das thematisch zentrale Stück des Albums – und gleichzeitig mit gut siebeneinhalb Minuten das längste – ist das Titelstück Passion. Vor einem – wie so oft auf diesem Album – durchgezogenen dunklen Grundton erklingt leise trauernd Shankars Doppelgeige. Aufgegriffen wird ihr Thema von einer grandiosen Gesangsleistung des viel zu früh verstorbenen Nusrat Fateh Ali Khan. Umsäumt wird sie von vielen kleinen Klangelementen, durchbrochen von der herrlich klaren Stimme eines Chorknaben. Insgesamt sind die Klänge jedoch eher gedämpft – vielleicht wie der scharfe Schmerz, repräsentiert durch die Stimme des Qawwalisängers, die Wahrnehmung der Umgebung betäubt, und das Bewusstsein seiner Aufgabe, der Erlöser zu werden, in der Stimme des Chorknaben Jesus antreibt, seinen Leidensweg zu gehen. Befreiend und lindernd wirkt das schon fast überirdisch schöne With This Love, das in der Reprise von einem strahlenden Chor gesungen wird.
Still wie eine trauernde Welt durchraunt dann die Wall Of Breath den Zuhörer. Neyflöte, Doppelgeige und Arghul erfüllen alles und bleiben dabei doch nicht fassbar. Wall Of Breath ist in der Tat eines der wenigen Stücke ohne jedes Rhythmusinstrument.
Diese wabern dann bei The Promise Of Shadows umso wilder durcheinander und umspielen Synthieklänge, die so geschickt verzerrt wurden, dass sie natürlich klingen. Eine Art Posaunenfanfare beendet das ‚Versprechen der Schatten’.
Am verstörendsten an Disturbedist für den Gabrielfan zunächst nicht die Musik, die wie große Teile des Albums sehr ruhig ist, sondern der Umstand, dass Gabriel dieselbe Einleitung für Low Light von der Millennium-Show-CD OVO recycelt hat. Disturbedgeht jedoch in eine andere Richtung, bald kommt schnelle Percussion hinzu und gibt dem Ganzen einen eiligen, beinahe gehetzten Klang. Verstärkt wird das durch die leicht abgehackten Fairlightklänge, die entschwinden, während die Rhythmuselemente in der Mitte des Stückes stärker werden. Mit einem surrenden Klang geht Disturbednahtlos über in das vorletzte Stück auf dem Album, dessen Beginn eine Art Jubelgesang markiert. Dazu treten dann Schlagzeug und weitere Percussion. Melodieträger ist das Keyboard, das hier – gerade hier! – klingt wie Kirchenglocken, die jubelnd läuten angesichts der Botschaft: Es Ist Vollbracht. Ein grandioser Effekt – die Vertonung der Osterbotschaft in wenigen Klängen.Damit ist die Vertonung der Geschichte Jesu eigentlich abgeschlossen: Vom ersten Aufkommen des Gefühls (The Feeling Begins) bis zur Vollendung in It Is Accomplished.
Ein letztes Stück folgt allerdings noch: Der Titel Bread And Wine scheint ein wenig aus der Abfolge der Geschichte zu fallen, die das Album erzählt, denn Brot und Wein gehören ja zum Letzten Abendmahl, wären also albumchronologisch noch vor Gethsemaneeinzusortieren. Das Stück ganz ans Ende zu stellen eröffnet allerdings die Perspektive aus der Handlung heraus, denn noch heute feiern Christen regelmäßig mit Brot und Wein die Eucharistie im Gedenken an das Letzte Abendmahl. Warme Bassklänge, Doppelvioline und darüber die Tin Whistle von Richard Evans beschließen liebevoll ein ganz besonderes Album.
Und während man zu den letzten Flötenklänge im Beiheft blättert, fällt auf, was für ein homogenes Album Peter Gabriel mit Musikern, Instrumenten und Klängen aus aller Herren Länder geschaffen hat. Die Spanne reicht von der armenischen Melodie, die The Feeling Begins prägt, über ein kurdisches Liebeslied (in Lazarus Raised), ägyptische Rhythmen, mit denen Geister gebannt werden sollen (Zaar), bis über den Atlantik hin zu brasilianischer Percussion (Passion). Homogen ist die Musik, aber nie gleichfömig oder langweilig. Es lohnt sich, dieses Album sehr aufmerksam zu hören – und dennoch taugt die Musik auch zum Entspannen. Ein besonderer Reiz ergibt sich auch aus dem Spannungsfeld zwischen dem religiösen Sujet des Albums und Gabriels eher kirchenferner Einstellung. Ihm sind dabei bewegende Klangbilder gelungen, und große Teile der Musik berühren den Rezensenten so sehr, dass er versucht ist, das Album als inspiriert im eigentlichen Sinne zu bezeichnen. Wie immer der geneigte Leser zu dieser Frage steht, so wird er doch zustimmen, dass Gabriels Premiere als Komponist von Filmmusik hervorragend gelungen ist: Passionenthält nicht nur Musik, die gebunden ist als „Musik für den Film Die Letzte Versuchung Christi“, sondern bildet obendrein ein eigenständiges, sehr hörenswertes Kunstwerk.
Die künstlerische Gestaltung der Albumhülle ist fast so kantig wie manches Stück auf dem Album. Die Vorderseite zeigt ein Gemälde, das der Künstler, Julian Grater, „Studie für ein Selbstbildnis“ nannte; im thematischen Zusammenhang dieses Albums kann man es aber auch gut als stark abstrahierte Darstellung Jesu mit der Dornenkrone auffassen. Die Materialien des Bildes (unter anderem Holzkohle, Bienenwachs und Stroh) sowie die erdigen Braun- und Beigetöne erwecken das Bild der kargen Landschaft am Rande der israelischen Wüsten. Die Rückseite dagegen zeigt eine stark vergrößerte Aufnahme von Resorzinkristallen. Die gratigen Strukturen erinnern ein wenig an die Hügelketten Palästinas, während das leuchtende Dunkelrot an Blut gemahnt.
Der Rezensent besitzt zu seinem Bedauern nicht die Vinylversion von Passion, so dass er über dessen Ausstattung nichts sagen kann. Das Beiheft der originalen CD-Version enthält einen kurzen Essay von Peter Gabriel darüber, was es auf diesem Album zu hören gibt. Danach sind alle Stücke aufgeführt, wobei jeweils angegeben wird, wer dort welches Instrument spielt. Daran schließen sich die Danksagungen an und einige Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Film. Die letzten Seiten umfassen eine Anmerkung, die die Idee der RealWorld Records auf Englisch, Französisch, Spanisch, Japanisch und Chinesisch erläutert. Denn Passion ist ein besonderes Album für RealWorld. Es trägt die Katalognr. RWCD1 und ist in der Tat die allererste Veröffentlichung dieses von Peter Gabriel gegründeten Labels. Ein gutes Omen, könnte man sagen, führt es doch eindrucksvoll vor Augen und Ohren, dass RealWorld Records für Weltmusik eine Passion hat.
Autor: Martin Klinkhardt