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Peter Gabriel – OVO – The Millennium Show – Rezension
Noch bevor 2002 UP erschien, verzettelte sich Peter Gabriel in zahlreichen anderen Projekte. Eines der Resultate war das „halbe“ Soloalbum OVO, welches 2000 erschien und gleichzeitig der Soundtrack der Show im Millennium Dome ist.
Peter Gabriel verzettelt sich. Immer wieder. Schon auf Us (1992) musste man zwei Jahre länger warten als geplant und alle wussten, dass es nach Secret World Live eine Weile dauern würde, bis er wieder etwas von sich hören lässt. Und so wurden alle hellhörig, als REM vor zwei Jahren mit Up auf den Markt kamen und Peter Gabriel erklärte, dass sein Album den gleichen Titel haben wird.
Viele vermuteten eine baldige Veröffentlichung des vielleicht interessantesten Albums seiner post-Genesis-Karriere. Aber Peter Gabriel verzettelte sich und die Erscheinungsdatum-Verschieberei ging munter weiter. Doch dann kam vor einigen Wochen wie aus dem Nichts die Ankündigung eines neuen Gabriel-Albums. Doch dies ist nicht Up, dies ist OVO. Und Peter Gabriel verzettelte sich ein weiteres Mal. Er ist eben ein Künstler und die vielseitigste Figur im Genesis-Umfeld. Da darf man doch mal etwas zerstreut wirken. Dem geneigten Fan hingegen ging das Hin und Her mit seinem Album irgendwann allerdings richtig auf die Nerven.
Bis zu 200 Songs, so Gabriel, habe er noch „in der Schublade“ – Grund genug, etwas auszumisten und nebenbei mal eben die Musik zur Show im Londoner Kommerz-Flop, dem Millennium Dome, beizusteuern. Doch Gabriel wäre nicht Gabriel, wenn er sich nicht weit mehr eingeklinkt hätte, als nur etwas zu singen. Er schrieb die ganze Musik fast im Alleingang, aber auch künstlerisch, visuell und am Entstehen der Story war er beteiligt. Peter Gabriel –
OVO steht auf dem Cover – doch dies ist nicht So und nicht Us – es ist kein Peter Gabriel-Popalbum. Aber es ist der direkte Nachfolger von US, dem letzten Popalbum Gabriels. Und das ist schon acht Jahre her. Grund genug, sich erst einmal darüber zu freuen, dass er es geschafft hat, ein ganze Stunde neue Musik auf eine CD zu bringen – nachdem wir in den letzten Jahren immer nur ein bis zwei neue Songs pro Jahr zu hören bekamen – und dann meist auf sündhaft teuren Samplern.
OVO ist so eine Art Musical. Nein – halt!
OVO ist eigentlich gar kein Musical. Es ist mehr eine audiovisuelle Show, die eine Geschichte erzählen soll. Diese Geschichte beschreibt den Konflikt dreier Generationen, die die unterschiedlichsten Entwicklungen durchgemacht haben. Im Kern geht es um den Gegensatz und die Vereinigung von Technik und Natur, was musikalisch besser funktioniert, als man annehmen könnte. Dazu später mehr.
OVO gibt es in zwei verschiedenen Versonen – zum einen eine Millenium Dome-Version, bei der es sich um eine Doppel-CD mit 40-seitigem Booklet handelt, in der die Story Of OVO in einer Art Comic erzählt wird. Auf der eigentlichen Musik-CD fehlt dann der Openener The Story Of OVO, dafür hat die Millenium Dome-Version einen Bonustrack (The Tree That Went Up). Auf der zweiten CD befindet sich dann der fehlende Track The Story Of OVO sowie ein Quicktime-Video zu The Nest That Sailed The Sky. Dieses Video ist allerdings auch im Multimedianhang der normalen Version enthalten. Beim Artwork unterscheiden sich die beiden Versionen sehr voneinander. Die offizielle Album-Version hat ein Gabriel-typisches Cover und vieles ist von der Eve-CD-ROM bekannt. So ist z. B. das Covermotiv von OVO das Backcovermotiv von Eve. Die Millenium Dome-Version enthält Fotos aus der Millennium Dome-Show, Anmerkungen von beteiligten Designern, Produzenten etc. – und keine Texte – im Gegensatz zur Standard-Version. Zu jedem Song gibt es hier außerdem ausführliche Infos, die allerdings auch in der RW-Version enthalten sind.
OVO gerät zu einer Spielwiese für Gabriels multimediale Erfahrungen und multikulturelle musikalische Einflüsse. OVO ist nicht einfach nur Musik. Beim Hören kann man förmlich spüren, dass er versuchte, die ganze Vielfalt dieser Welt in kurzen 60 Minuten einzufangen und rauszulassen. Dass dies nicht immer so gut funktionieren kann, wird er selbst am besten wissen. Aber das Album produziert einige der bemerkenswertesten Momente der nicht grade höhepunktarmen Karriere des Künstlers.
Die beteiligten Musiker sind alle keine Laien im Geschäft. Aus Genesis-Sicht sticht besonders der Name Richie Havens ins Auge. Havens sang bereits auf zwei Songs des Hackett-Albums Please Don’t Touch – das war 1977…
Die CD beginnt mit etwas völlig untypischen für Gabriel, einem Rap. Neneh Cherry persönlich, die auch schon mit Youssou N’Dour (7 Seconds) zusammengearbeitet hatte, lieh neben anderen The Story Of OVO ihre Stimme. Auch Gabriel kommt zum Einsatz – allerdings bei dem „normal gesungenen“ Refrain. Der Titelsong klingt fremd und ist alles andere als ein typischer Gabriel-Song. Charakteristisch für das ganze Album ist er auch nicht – aber das ist vermutlich keiner der 12 Tracks. Der Opener soll, musikalisch verpackt, dem Zuhörer vermittlen, um was es bei OVO geht. Gabriel machte in diversen Interviews keinen Hehl daraus, dass er bewusst einen Rap wählte, um die junge Generation anzusprechen.
In Low Light liegt ein Hauch von Mike Oldfield. Getragene Klavierklänge setzen nach einem sphärischen Beginn ein, ehe ziemlich weit am Schluss die bezaubernde Stimme von larla Lionáird den Song auf und davonträgt. Lionáird ist Sänger des erfolgreichsten Real World-Outputs Afro Celt Sound System, die jüngst in England ein Top 40-Album sowie eine Top 10-Single hatten. Anders als auf der normalen Version bildet Low Light auf der Millenium Dome-Version den Opener von OVO – ein völlig unterschiedlicher Einstieg in dieses Werk. Bei Low Light beginnt die Magie, die Gabriels Musik ausmacht.
Die Stimme von Richie Havens erklingt in The Time Of The Turning – und etwas wird man tatsächlich an Hacketts How Can I? erinnert. Havens‘ Stimme ist sehr markant und Peter Gabriel sagt über ihn, dass seine Stimme klänge, als „hätte er selber sehr lange darin gelebt“. Den Refrain singt aber nicht Richie Havens, sondern Elizabeth Frazer. Und hier stoßen wir auf das erste Problem. Die wirklich schöne Melodie und das geschickte Arrangement heben diesen Track zu einem Highlight der CD heraus – aber wer hier neben Richie Havens singt, geht zumindest aus keinem der beiden Booklets hervor. Der Stimme nach kann es sich aber eigentlich nur um Elizabeth Frazer handeln, die auch später noch einmal zum Einsatz kommt. Aber der Name ist bei diesem Song nicht so entscheidend. [EDIT: Erst sehr spät wird bekannt, dass hier Alison Goldfrapp singt, die aber im Zusammenhang mit dem Millenium Dome nicht mehr erwähnt werden wollte.] The Time of the Turning ist absolute Spitzenklasse – Kunst im Pop made by Peter Gabriel – wie so oft. Etwas, auch thematisch, wird man – nicht zuletzt durch die Aufteilung der Stimmen in Strophe/Refrain – an den Gabriel-Klassiker Don’t Give Up erinnert. Inhaltlich wird aber nicht ganz klar, wer die optimistische Seite verkörpert und wer die andere. Irgendwie decken beide Seiten das ganze Spektrum ab. The Time Of The Turning handelt vom Aufbruch in die Zukunft und von dem Mut, den man dafür aufbringen muss.
Der nächste Titel ist ein Instrumental, komplett ausgelegt als eine Art „Real World-Festival“. Es darf scheinbar locker drauf los musiziert werden und etliche Real World-Musiker kommen zum Einsatz. The Man Who Loved The Earth / The Hand That Sold Soldiers klingt wie eine Weiterentwicklung der einen oder anderen Idee des Passion-Albums. Dominiert wird das Stück, das im Prinzip (auch namentlich) aus zwei Teilen besteht, von den Drums.
Direkt danach erleben wir ein kurzes Reprise von The Time Of The Turning, das in einem Stück mit The Weavers Reel in einer Art Symbiose vereinigt wurde. Das Reprise ist etwas schneller und unausgeglichener, The Weavers Reel ist Up-tempo-Folklore und klingt wie ein Beitrag zu einer fernöstlichen ausgelassenen Volksfeststimmung – oder aber auch nach irischen Einflüssen. Es darf jedenfalls getanzt werden. Den Gesang übernimmt wieder Elizabeth Frazer.
Und nun erreichen wir den ersten Gabriel-„Solotrack“ der CD. Father, Son ist ein typisch getragenes Gabriel-Stück, etwa in der Tradition der 1990er Neuaufnahme von Here Comes The Flood oder des gecoverten That’ll Do aus dem Babe: Pig In The City-Soundtrack. Solche Stücke sind auf Gabriels Stimme zugeschnitten – kein Wunder also, dass er hier selbst singt. Gabriel erklärte in einem Interview, dass er diesen Song eigentlich für Up vorgesehen hatte, er aber thematisch sehr gut in das OVO-Konzept passte. Es geht um den Generationenkonflikt. Inspiriert wurde Gabriel durch seine eigene Famile – seine Töchter und seine Eltern.
Mitten in diese musikalische Harmonie kracht nun dieses Erdbeben mit Namen The Tower That Ate People – auch komplett von Gabriel gesungen. Mit David Rhodes, Tony Levin und Manu Katche spielt hier auch das Gerüst seiner letzten Liveband von 1993/94. Der Song selbst wirkt zerstörerisch, wühlt in dreckigen Sounds und obendrein ist Gabriels Stimme in der ersten Hälfte stark verzerrt: industrial nennt man sowas heute – alternativ vielleicht – oder gothic. Peter Gabriel zeigt mit diesem Song einmal mehr, was er für eine Klasse besitzt. The Tower That Ate People ist Gabriels Antwort auf David Bowie, Depeche Mode oder U2, die die 90er Jahre dominierten – obwohl Peter schon zuvor mit schräg und dreckig klingenden Sounds experimentierte. Es klingt sehr interessant, wie er seine Stimme auf dieses Klangmonster zugeschnitten hat. Ein weiteres, absolutes Highlight der CD.
Mit Revenge kommt ein weiteres „Drumfestival“ daher – sehr kurz gehalten, aber es verfehlt nicht seine Wirkung.
Ebensowenig wie White Ashes, eine Klangcollage aus wilden Sounds und schrägem Gesang. Das Stück mag nicht jedermanns Sache sein und ist mit Sicherheit auch kein Highlight der CD, bildet aber zusammen mit The Tower That Ate People und Revenge eine gelungene Trilogie, die in OVO die Technikwelt verkörpern soll.
Wer mit den letzten drei Titeln musikalisch überhaupt nichts anfangen konnte, wird bei Downside-Up mehr als nur entschädigt. Elizabeth Frazer steigt in diesen Song ein und wird beim Refrain und der darauffolgenden Strophe von Paul Buchanan, dem Sänger der Gruppe The Blue Nile, eindrucksvoll unterstützt. Buchanans Stimme klingt imponierend nach Peter Gabriel, was die Frage aufwirft, warum Peter hier nicht selbst gesungen hat. Dem Song schadet es aber nicht. Es geht immer noch um den Konflikt Natur/Technik, aber langsam legen sich die Ängste. Man findet im Text ein Gabriel-typisches Wortspiel: „all the strangers look like family, all the family look so strange“. Etwas ähnliches hatte er schon bei I Grieve (City Of Angels-Soundtrack) geschrieben: „Did I dream this belief? Or did I believe this dream?“ Vom Titel her könnte der Song auch einmal für Up vorgesehen gewesen sein. Dafür gibt es aber keine definitiven Aussagen. Etwa in der Mitte des Songs setzt eine üppige Intrumentierung ein, die den Song voranpeitscht. Die „OVO, OVO“-Gesänge verhelfen dem Song zusätzlich zu einer gelungenen Dynamik, ehe zum Ende über dem neuen Rhythmus wieder der Refrain vom Beginn gesungen wird. Downside-Up ist vielleicht das Highlight der CD.
Es folgt mit The Nest That Sailed The Sky ein Song, der vielleicht als einziger etwas undifferenziert in der Luft hängt. Das Instrumental könnte als Verschnaufpause gedacht sein, aber irgendwie passt es nicht zwischen Downside-Up und das packenden Finale Make Tomorrow. The Nest That Sailed The Sky wird aber Bestandteil der Show im Dome sein, weshalb es auch auf der CD vertreten ist.
Nach diesem Song enthält die Millenium Dome-Fassung noch einen Bonustrack namens The Tree That Went Up. Es ist ebenfalls ein Instrumental, aber um ein vielfaches besser instrumentiert und arrangiert als sein Vorgänger. Die Drums dominieren wieder das Geschehen, ehe es beim Finale, Make Tomorrow, wieder etwas ruhiger zugeht.
Make Tomorrow ist eine schöne Ballade, in der thematisch Natur und Technik mit einander versöhnt werden. Bei dem Song kommen alle Sänger zum Einsatz, die an der CD mitwirkten, mit Ausnahme von larla Lionáird. Und man bekommt beim Einsatz von Richie Havens genauso eine Gänsehaut wie bei Peter Gabriels Part. Die Botschaft des Songs ist mit dem Titel quasi selbsterklärend. Das zehnminütige Stück mündet in einen reichhaltig arrangierten Instrumentalteil und lässt den Zuhörer dann gekonnt mit seinen Impressionen alleine.
Was bleibt nun hängen? Die vielen schönen Stimmen und Melodien, die ausgeglichenen Arrangements, die instrumentalen Drumfestivals – oder das Fragezeichen am Anfang von The Tower That Ate People … oder vielleicht das Ausrufezeichen am Ende des Songs. Eins steht fest: Mit OVO konnte sich der Künstler Peter Gabriel nach langer Zeit mal wieder so richtig austoben – wie vor mehr als zehn Jahren auf dem Passion-Soundtrack. Ihm ist ein glasklares Konzeptalbum gelungen mit allen Stärken und Schwächen, die diese Alben schon zu The Lamb …-Zeiten hatten. Peter Gabriels musikalisches Bild ist immer noch ein anderes als das seiner Pop-Kollegen, und das macht auch dieses Album aus. Er verzichtet sogar auf seine einzigartige Stimme – ganz im Dienst der Kunst. Es ist vielleicht kein Meilenstein wie US oder So, aber es ist immer noch meilenweit von dem entfernt, was musikalisch sonst so passiert. Vergessen wir auch nicht, dass OVO im Prinzip gar kein echtes Gabriel-Album ist. Und für ein konzeptional angelegtes Projekt ist es erstaunlich gelöst. Man bedenke auch, dass Gabriel unter Zeitdruck arbeiten musste – denn die Jahrtausendwende konnte selbst er nicht verschieben … etwa wie er es seit langem mit Up macht.
Bei Kritikern kam das Album nicht ganz so gut an. Vielleicht waren auch viele einfach überfordert, wenn man sonst CDs aus dem Mainstream oder Hard-Rockbereich rezensiert. Peter Gabriel selber brachte es auf den Punkt: „Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass mich nicht alle Menschen auf dieser Welt lieben können“.
Außerdem kann oder muss man dieses Album als Appetithappen für sein eigentliches neues Album, Up, ansehen, dass nach eigener Aussage Gabriels vielleicht noch in diesem Jahr erscheinen soll. Peter Gabriel wird es uns nicht übel nehmen, dass wir das erst glauben, wenn die CD in den Läden steht. Bis dahin aber erfreuen wir uns an vielen neuen guten Songs und staunen über die musikalische Vielseitigkeit des einstigen Genesis-Sängers.
Autor: Christian Gerhardts, Juli 2000