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Peter Gabriel – New Blood Tourauftakt bei Radio France – Konzertbericht

Peter Gabriel begann seine New Blood Tour 2010 mit einer öffentlichen Generalprobe im Studio 104 von Radio France. Unter den ca. 600 Zuschauern war auch Clubmitglied Tom Morgenstern, der seine Impressionen schildert.

Das Funkhaus von Radio France steht direkt an der Seine, unweit des Eiffelturms. Es wirkt sehr modern, seine Grundform enstpricht einem griechischen Omega. Direkt hinter der großzügigen, voll verglasten Lobby schließt sich das Studio 104 an, ein Sendesaal modernen Zuschnitts, der etwa 600 Zuschauer auf zwei Etagen fasst. Der Oberrang ist sehr steil, so dass auch hier alle Zuschauer eine optimale Sicht auf die Bühne haben. Was Peter Gabriel dazu bewogen hat, hier seine New Blood-Tour zu starten, liegt vermutlich in seiner Vergangenheit: Auch 2002 begann er seine (Still) Growing Up-Welttournee mit einigen kleineren „Warm Up“-Spezialkonzerten und schon damals fand eines davon als Radiokonzert in besagtem Studio 104 vor geladenem Publikum statt.

Auch in diesem Jahr wurden die Tickets überwiegend verlost über Gabriels Webseite oder direkt von Radio France.

Gegen 19:50 Uhr betrat Peter Gabriel allein die Bühne, um einen kurzen Soloauftritt seiner norwegischen Gastsängerin anzusagen. Ane Brun spielte zwei Songs zur akustischen Gitarre, darunter eine recht eigenwillige Version von Alphavilles Big in Japan.

Pünktlich um 20:05 Uhr nahmen dann die Musiker des Orchestre Philharmonique de Radio France ihre Plätze ein. Als Randnotiz war es im Vorfeld schon bekannt, dass Gabriel hier nicht mit eigenem Orchester auftreten würde – obwohl er das eigentliche Auftaktkonzert in Paris nur zwei Tage später wie auch den Rest der Tour mit eigenen Musikern bestreiten sollte.

foto1Mikrofonprobleme verhinderten dann fast die Ansage eines Radio France-Präsentators, dann betraten der Dirigent und Peter Gabriel nacheinander die Bühne. Gabriel, dessen Position auf der Bühne ungefähr dort war, wo bei klassischen konzertanten Aufführungen die Sänger üblicherweise stehen, also in der Mitte der linken Bühnenhälfte, kündigte auf Französisch an, dass man zunächst das neue Album komplett an einem Stück durchspielen würde. So begann das Konzert mit Heroes – in gleichem, eigenwilligen Arrangement wie auf dem Album. Ab dem dritten Song wurde Gabriel dann zeitweise von seiner Tochter Melanie und Ane Brun unterstützt, die ihre Plätze auf der rechten Bühnenseite eingenommen hatten. Die Pausen zwischen den Stücken wurden offenbar absichtlich sehr kurz gehalten; es gab keine Ansage der einzelnen Songs. Das Orchester spielte sehr konzentriert und anfangs auch etwas steif. Vor allem die eher rhythmusbetonten Stücke schienen noch gelegentlich Schwierigkeiten zu bereiten. So geriet etwa Listening Wind etwas weniger eindrucksvoll, aber spätestens bei The Power Of The Heart war der Knoten geplatzt, und den über 50 Musikern war die Spielfreude erstmals anzumerken. So geriet der erste Teil des Konzerts zu einer deutlich kurzweiligeren Angelegenheit als das Album, man hatte als Zuschauer fast das Gefühl, die Stücke wären einige Takte kürzer gefasst gewesen. Nach 45 Minuten Scratch My Back und einem ermutigenden Schlussapplaus kündigte Gabriel zur großen Freude des Publikums eine Pause an, nach der es mit einigen älteren Stücken weitergehen sollte. Für viele wurde das Konzert erst jetzt so richtig spannend, zumal über die Setlist vorab nur spekuliert werden konnte.

Nach etwa 20 Minuten ging es dann mit verhaltenen Pianotönen weiter, die sich als San Jacinto entpuppten; eine naheliegende Wahl für ein Symphonieorchester und das Arrangement konnte – obwohl durchaus gelungen – auch nicht wirklich überraschen. Das nächste Stück geriet dann vollends zum Ratespiel – erst als der Gesang einsetzte, war erkennbar, dass es sich um Digging In The Dirt handelte – in einem aufregenden und unerwartet passendem Gewand mit vielen schrägen Harmonien.

Wallflower hatten viele auf der Rechnung und Gabriel sagte es sogar an. Unerwartete Schwierigkeiten hatte er dann, als er zwei Takte zu früh zum Mittelteil wechseln wollte. Er unterbrach sich, schüttelte kurz den Kopf und sang ein weiteres „Hold On“, nicht ohne hinzuzusetzen, dass dies in Wahrheit nur ein anderes Wort für „Fuck-up“ sei, was zu einigem Gelächter im Publikum führte. Der Konzertpianist, sicher ein Meister seines Fachs, konnte einem ein wenig leid tun, denn sein Part entsprach dem, was Gabriel ansonsten auf dem Piano spielt. Entsprechend unterfordert schien er bei den meisten Songs.

Mit Downside Up ging es weiter und wieder einmal war festzustellen, dass Melanie Gabriel leider keinerlei Potential für Sologesang aufweist. Signal To Noise geriet deutlich eindrucksvoller. Viele Dissonnanzen sorgten für eine bedrohliche Stimmung. Das Orchester lief zur Hochform auf. Während des finalen Crescendos verließ Peter Gabriel die Bühne und gönnte sich eine Pause, während Tochter Melanie Washing Of The Water allein bestreiten durfte, leider wiederum mit fragwürdiger Gesangsleistung, die in einem Rock-Kontext noch zu verschmerzen wäre, aber in klassischem Umfeld zwischen all den hochprofessionellen „ernsten“ Musikern doch recht peinlich und deplatziert erschien. Für Blood Of Eden kam Gabriel zurück, der Song geriet jedoch wenig eindrucksvoll, da das Orchester mehr oder weniger die von der Studiofassung gewohnten Synthesizerparts übernahm – die ursprünglich ohnehin ein Orchester imitierten.

Foto2Spektakulär dagegen The Rhythm Of The Heat – mit dieser Wahl hatte sicherlich niemand gerechnet, lebt dieser Song doch von seiner extremen Schlagzeugbetonung. So war man doch sehr überrascht, dass hier die Violas, Cellos und Kontrabässe den Rhythmus perfekt übernehmen konnten. Mit allem was verfügbar war, wurde auf die Saiten geklopft, und die Große Pauke sorgte für das eindrucksvolle Fundament. Besonderen Einsatz zeigte hier der erste Kontabass, dem die Levinschen Basslinien nicht immer leicht von der Hand zu gehen schienen. Als der Song sich seinem fulminanten Höhepunkt näherte, war deutlich zu spüren, wieviel Spaß die Musiker bei der für sie doch eher ungewohnten Performance hatten. Große Dynamik und Spielfreude zog sich auch durch das nachfolgende Darkness – ebenfalls eine eher unerwartete Wahl, die ähnlich gut funktionierte –  und Solsbury Hill geriet dann unter enthusiastischen Standing Ovations vollends zum lockeren Happening. Unglaublich, wie mühelos die Interpretation dieses Klassikers gelang. Auch Gabriel war das anzumerken, ausgelassen hüpfte er von einer Bühnenseite zu anderen. In den euphorisierten Schlussteil mischte das Orchester dann geschickt mehrmals Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“-Melodie unter. Auch das passte perfekt und sorgte für Überraschung.

Da das Orchester anschließend sitzen blieb, war allen klar, dass es noch Zugaben geben würde. Bei In Your Eyes übernahm Ane Brun den Youssou-Part, was in ihrer Interpretation durchaus gelang.

Auch im abschließenden Don’t Give Up konnte Brun mit ihrer außergewöhlichen, immer etwas zittrigen Stimme glänzen. Zum Finale des Konzerts wurde dann ein Instrumental aus OVO gespielt, wahrscheinlich The Nest That Sailed The Sky (durch das geänderte Arrangement schwer zu identifizieren). Gabriel war deshalb auch bereits in der Garderobe. Trotzdem folgte das Orchester den alten Gabriel-Traditionen, eine Show zu beenden: Nach und nach reduzierte sich das Arrangement, so dass zuerst die Bläser, dann die Flötisten, dann die anderen Instrumentengruppen ihre Notenpultbeleuchtungen ausschalteten, so dass es auf der Bühne immer dunkler wurde. Irgendwann knipsten schließlich auch die Violinen das Licht aus. Sekundenlang stand der Dirigent als einziger erleuchtet mit erhobenem Arm bei vollständiger Stille. Es dauerte eine ganze Weile, bis der verdiente Applaus einsetzte. Minutenlange Standing Ovations und ein sichtlich gelöster Peter Gabriel beendeten dann ein außergewöhnliches Radiokonzert, das zumindest für zwei Tage die spannende Frage offen ließ, inwieweit es mit den übrigen Konzerten der Tour vergleichbar sein würde.

Fazit: ein fantastischer Abend eines fantastischen Tages. Das Konzert war, wie von Gabriel gewohnt, höchst interessant und unterhaltsam, trotz der fehlenden Bühnenshow und der eher spärlichen Lichteffekte. Ich fand es besonders faszinierend, den Musikern bei ihrer engagierten Arbeit zuschauen zu dürfen und zu spüren, wie die große Anspannung zu Beginn allmählich einer lockereren, wenn auch stets konzentrierten Gelassenheit Platz machte. In der zweiten Hälfte war der Funke endgültig ins Publikum übergesprungen, so dass die Erleichterung darüber, dass die neuen Arrangements so gut funktionierten, bei allen Beteiligten spürbar wurde. Man hatte zum Schluss das Gefühl, hier Zeuge eines ganz besonderen Moments geworden zu sein.

Extrem gut war auch der Sound im Saal. Von einigen kleineren Problemen abgesehen, die bei Live-Konzerten nie ganz auszuschließen sind, bekam der Hörer eine perfekte Mischung mit einer umwerfenden Dynamik geboten.

Leider passte die Security auch während des Konzerts gut auf – mindestens ein Taper wurde erwischt, ein anderer versteckte sein Gerät vorsorglich gleich unter dem Sitz – von etwaigen illegalen Mitschnitten sollte man also qualitativ nicht zu viel erwarten. Es bleibt wohl nur die Hoffnung, dass die Radiosendungen dieses einmaligen Konzerts nicht allzu stark bearbeitet und gekürzt sein werden.

Setlist:

Heroes
The Boy In The Bubble
Mirrorball
Flume
Listening Wind
The Power Of The Heart
My Body Is A Cage
The Book Of Love
I Think It’s Going To Rain Today
Après Moi
Philadelphia
Street Spirit (Fade Out)

– 15 Minuten Pause

San Jacinto
Digging In The Dirt
Wallflower
Downside Up
Rhythm Of The Heat
Blood Of Eden
Signal To Noise
Washing Of The Water (Melanie solo)
Darkness
Solsbury Hill
In Your Eyes
Don’t Give Up
The Nest That Sailed The Sky

Autor & Fotos: Tom Morgenstern