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Peter Gabriel – New Blood in Berlin (24. und 25.03.2010) – Konzertbericht

Im Rahmen der New Blood Orchester-Tour gastierte Peter Gabriel auch zwei Abende in Berlin. Martin Klinkhardt und Christian Gerhardts haben beide Soundchecks und beide Shows gesehen und schildern ihre Eindrücke.

Zwei Mal volles Haus in der großen O2-World in Berlin – Peter Gabriels Bühnenrückkehr fand viel Beachtung. Nur zwei Konzerte gab er in Deutschland im Rahmen seiner New Blood Tour 2010 – und beide in Berlin unweit des Ostbahnhofs.

Man kann es nicht „Tour“ nennen. Nur fünf Konzerte bot Peter Gabriel 2010 seinen europäischen Fans an und bereist dafür nur drei Metropolen. Paris, London und eben Berlin kamen in den Genuss von Peter Gabriel Live-Shows, andere europäische Metropolen wie Madrid, Rom oder Wien gehen leer aus. Gabriels Ambitionen machten eine größere Tour logistisch fast unmöglich: Er wollte sein neues Album Scratch My Back sowie eigenes Material ohne seine Band, dafür aber mit einem 54-köpfigen Orchester präsentieren. No drums, no guitars, only orchestra – so stand es auf Plakaten und Anzeigen. Vor einigen Jahren hatte sich Phil Collins mit seinem „I won’t sing“ Big-Band-Konzept fast auf die (kommerzielle) Nase gelegt, doch dieses Mal waren die Nachfrage und das Interesse höher als seinerzeit bei Collins‘ Big Band Projekt.

Vor den Berlin-Konzerten fanden die beiden Konzerte in Paris statt – zum einen der Testlauf bei Radio France am 20.03. und zum anderen die erste öffentliche Show im altehrwürdigen Palais Omnisport im Stadtteil Bercy. Die dortige Performance und die Setlists waren im Zeitalter des Web 2.0 ratzfatz Diskussionsthema in allen gängigen Foren und so waren die überraschenden Momente in Berlin schon frühzeitig „angezählt“. Dennoch hofften viele Fans, durch die Soundchecks das Konzerterlebnis noch einmal zu bereichern und potenzielle Überraschungsmomente mitzuerleben, denn gerade bei Soundchecks passieren Dinge, die dann während der Live-Show nicht geboten werden.

Martin Klinkhardt erlebte beide Soundchecks, Christian Gerhardts schildert die Abläufe und Besonderheiten beider Shows.

Der 24.03.2010

Soundcheck: „Zum Glück ist das ja nur eine Probe und wir haben erst nächste Woche den richtigen Auftritt“ – mit diesen Worten hat Peter Gabriel schon einige Male in seiner langen Livekarriere verpatzte Einsätze, technische Ausfälle und verdrehte Textzeilen überspielt. Wenn man es so sieht, waren schon viele von uns auf einer Probe. Aber nur sehr selten bot sich die Gelegenheit, einmal beim Soundcheck dabei zu sein. Umso reizvoller fand ich es, als Peter Gabriel für die Konzerte seiner New Blood Tour besondere Tickets anbot, die einen attraktiven Platz mit der Teilnahme am Soundcheck kombinierten. Teilnahme natürlich nur insofern, als man dabei einmal ganz offiziell Mäuschen spielen durfte. Dass aus dem einmaligen Erlebnis in Berlin ein zweimaliges wurde, kam eher kurzfristig durch einen Freund zustande, dem an dieser Stelle noch einmal herzlich dafür gedankt sei.

Berlin zeigte sich von der frühlingshaft schönen Seite. Es war sonnig und, wenn man nicht gerade im Wind stand, auch schon angenehm warm, als sich am frühen Mittwochnachmittag eine kleine Schar von etwa vierzig Soundcheckticketinhabern am Presseeingang der O2-World in der Nähe des Ostbahnhofes einfand, darunter auch eine Reihe bekannter Gesichter aus dem Fanclub. Kurz nach zwei wurden wir ins Seitenfoyer gelassen, wo unsere Eintrittskarten und die Begleitschreiben geprüft wurden, bevor jeder ein mit zahlreichen Ohren dekoriertes blutrotes Soundcheck-T-Shirt bekam und ein Soundcheck-Pass: ein rotes Kreuz vor blaugrünen Blutplättchen. Die meisten genossen noch ein wenig die Frühlingssonne, bevor wir dann um drei Uhr en bloc zum Soundcheck geführt wurden.

9Unsere Begleiter wiesen uns etwa die siebte bis zehnte Reihe in der Mitte als Plätze an; das Orchester war bereits auf der Bühne. Ben Foster stand am Dirigentenpult, den aufgeklappten Laptop auf dem Arm und besprach mit den Musikern, was sie wann wo noch anders spielen sollten. Wir waren offensichtlich gerade rechtzeitig angekommen, um die Manöverkritik des Pariser Konzerts zu hören. Wie jeder, der in einem Orchester spielt oder in einem Chor singt, weiß, ist das eine längere Prozedur, die an und für sich nur mäßig spannend ist. So auch hier. Foster erinnerte die zweiten Geigen daran, im Takt Sowieso des Stückes Wiesowie die letzte Note ganz auszuspielen, wies dann die Posaunen an, andere Passagen etwas weicher zu spielen und sorgte dazwischen zusammen mit dem Tontechniker dafür, dass die Musiker die jeweils für die relevanten anderen Instrumente gut auf ihren Kopfhörern vernehmen konnten. Inzwischen war ein älterer Herr in dunklem Gewand am linken Bühnenrand erschienen; mit längeren Haaren hätte es von der Statur her Dale Newman sein können, aber die grauen Stoppeln und der Bart wiesen ihn deutlich als Peter Gabriel aus. Er winkte freundlich zu uns hinüber, wir erwiderten den Gruß, dann wandte er sich konzentriert der Probe zu, zumal Ben Foster inzwischen die Detailpunkte mit dem Orchester abgeschlossen hatte.

Gemeinsam wurden einige Passagen aus Mirrorball geprobt, und dazwischen besprach Gabriel am Rande offenbar noch einige Aspekte der visuellen Darbietung. Gabriel hielt eine Zeitlang etwas in der Hand, was ungefähr einer zum Helm umfunktionierten Diskokugel ähnelte – was damit beabsichtigt war, konnte man nicht hören und das Ding ist auch in den Konzerten und beim zweiten Berliner Soundcheck nicht mehr aufgetaucht.

Rechts vor dem Orchester waren inzwischen zwei junge Damen erschienen, die sich angeregt und gut gelaunt miteinander unterhielten; Melanie Gabriel und Ane Brun sangen, vom Orchester begleitet, Abschnitte aus Downside Up. Später gingen sie auch noch einmal die Teile von Signal To Noise durch, mit denen sie gewissermaßen Nusrat Fateh Ali Khan vertraten. Hier wurde ihr Gesang allerdings nicht über die Lautsprecher übertragen, sondern wohl nur auf die Im-Ohr-Monitore gelegt, so dass man Ane und Melanie sozusagen stumm aus vollem Halse singen sah. Bald darauf – die Probe dauerte schon eineinhalb Stunden – wurde eine Pause eingelegt. Hinterher wurde mit Mercy Street ein Stück geprobt, ja sogar komplett gespielt, das bislang noch nicht Bestandteil des Toursets gewesen war…

Konzert, 24.03.10: Die Ruhe vor dem Sturm und die Adrenalinschübe vor dem „ersten Mal“ bleiben immer wieder ein besonderer Moment. Unsere Plätze in der ersten Reihe, leicht links versetzt von Peters Position, waren extrem gut und der Small Talk mit anderen Fans vor der Show gestaltet sich bei Platzkarten doch etwas entspannter als bei stehplatzprägenden Stadionkonzerten. Dass nicht nur die Fans, sondern auch Peter älter wird, zeigt sich zuerst am pünklichen Beginn.

1Gegen 19.45 betrat Gabriel erstmals die Bühne, kurz vorher sah die Halle noch relativ leer aus. Das änderte sich dann schlagartig. Gabriel erläutert, dass er das ganze Album spielen wird, doch zuvor wird Ane Brun ein paar Songs singen. Zu diesem Zeitpunkt bildet eine horizontal sich über die gesamte Bühnenbreite erstreckende LED-Leinwand gewissermaßen die Hintergrundkulisse. Und schon haben wir den ersten Fehler – von wegen No Guitars – Ane Brun spielt drei Songs auf der Akustik-Gitarre, aber Schwamm drüber. Einer der Songs war eine eigenwillige Version des Alphaville-Klassikers Big In Japan, die beim Publikum sehr gut ankam. Nach nur drei Songs folge eine kurze Pause, bevor Gabriel die Bühne erneut betrat und der LED-„Vorhang“ sich hob. Gabriel erklärte auf (abgelesenem) Deutsch das Konzept und den Ablauf der Show, als plötzlich das Orchester mit voller Inbrunst Sledgehammerintonierte. Gabriel stoppte das Treiben mit einem lapidaren „nein, das war früher, jetzt spielen wir Scratch My Back„, was einerseits zu Gelächter führte, andererseits einige Zwischenrufe provozierte, die ziemlich fehl am Platz waren. Während das Orchester die ersten Töne von „Heroes“ spielte, hörte man immer Zwischenrufe wieder nach Red Rain oder Steam. Gabriels Gesichtsausdruck sprach Bände.

Nun kann man nicht gerade sagen, dass die Gesangsleistung von „Heroes“ auf dem Album Begeisterungsstürme auslöste. Der Autor dieser Zeilen wähnte schon das Ende der Stimmgewalt des Peter Gabriel und machte sich Sorgen um die Live-Präsentation. Während der ersten beiden Strophen fiel das nicht weiter auf, umso größer war die Überraschung, als ich mit schon halb zugekniffenen Augen den Beginn der dritten Strophe erlebte. Es war ein früher Aha-Moment. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen stärker singenden Gabriel erlebt zu haben. Das war der Anfang einer wundervollen, zuweilen unglaublichen Reise.

Zu Beginn des Konzerts erleben wir noch eine dezente Zurückhaltung, auch rein visuell sind „Heroes“ und The Boy In The Bubble unspektakulär. Erst Mirrorball ändert dies und illustriert gekonnt das Liebeslied von Elbow. Bemerkenswert: Auch hier singt Gabriel anders und vor allem besser als auf dem Album. Die „Lift Off Love“-Passage singt er dermaßen kraftvoll und vor allem singt er sie so stark gegen das Orchester an, dass es einen Gänsehautmoment produziert.

Das relativ kurze Stück Flume bleibt kaum in Erinnerung, dafür gibt Listening Wind nicht nur musikalisch genug Gründe, genauer aufzupassen. Hier hat sich Gabriel wieder etwas besonderes einfallen lassen. Auf den drei Hintergrund-Screens (hochkant und statisch aufgestellt, ähnlich der Anordnung auf Genesis‘ Calling All Stations Tour), sind nach und nach drei Personen zu sehen, während zum Ende hin auf dem vorderen, horizontalen Screen umrissartige Abbildungen der Personen zu sehen sind, während dieser nach unten fährt. Dies produziert eine Art Röntgeneffekt. Eine relativ simple Idee, die hervorragend passt.

Genausogut passt die insgesamte reduzierte Performance des darauf folgenden The Power Of The Heart. Für viele ist dies die Krönung des Albums und es funktioniert auch live sehr gut. Etwas merkwürdig sind Peters ständige Griffe in die Westentasche und der steife Blick auf den Teleprompter. So gewann man zuweilen den Eindruck, er lebe den Song nicht, sondern versuche ihn maschinell zu konstruieren.

2Davon weit enfernt ist My Body Is A Cage, das ebenfalls zu den Fan-Favoriten des Albums zählt. Die kraftvollen Passagen verfehlen auch im Konzert ihre Wirkung nicht und es war zu erwarten, dass es in dem Song zu „Szenenapplaus“ kommen würde und so geschah es auch. Während man in vielen anderen Stücken die berühmte Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören können, reißt es hier die Leute sprichwörtlich mitten im Song von ihren Sitzen.

The Book of Lovewar gewissermaßen der Auslöser des Konzepts hinter Scratch My Back. Die Live-Darbietung des an sich romatischen Songs war unter Umständen der Comedy-Moment des Abends. Auf den vier Screens illustrieren herumlaufende Strichmännchen das Geschehen des Songs. Immer wieder laufen Strichmännchen mit Gabriels Konterfei über die Screens, einmal geben sich auch Ged Lynch, David Rhodes und Tony Levin die Ehre. Und ganz am Ende nimmt Gabriel sich selbst aufs Korn, als er den Schleier seiner Strichmännchenbraut entfernt, dahinter sich selbst entdeckt und schreiend wegrennt …

Danach klingt der Scratch My Back-Teil gewissermaßen aus, denn mit I Think It’s Going To Rain Today, Philadelphia und Street Spirits folgen überwiegend getragenere Stücke. Einzig das aufdringliche Après Moi sorgt noch einmal für etwas Dynamik, zumal auch hier Gabriel wieder die Grenzen seiner Stimme testet. Der Abschluss schließlich, Street Spirits, ist ähnlich schwach wie auf dem Album, auch wenn das ganze mit Bühnenshow und Publikum eine andere Wirkung hat als auf dem heimischen Sofa. Bemerkenswert ist, dass Gabriel alle zwölf Songs des Albums in der Albumreihenfolge und ohne jegliche Ansage darbot.

3Es folgt eine viertelstündige Pause, in der unter anderem Biko (Paul Simon) und auch Lou Reeds Version von Solsbury Hill gespielt werden – das konnte man allerdings nur hören, wenn man sich in unmittelbarer Nähe der Lautsprecher aufgehalten hat.

Mit Spannung erwartet das Publikum in der nahezu ausverkauften O2-World nun den zweiten Teil, in dem Gabriel-Klassiker gespielt werden. Das Licht geht aus, die vordere, horizontale Leinwand zeigt Adleraugen und in dem linken Auge sieht man Gabriel hinter dieser Leinwand stehen und San Jacinto intonieren. San Jacinto scheint wie gemacht für ein klassisches Arrangement und es ist der perfekte Opener für den zweiten Teil. Im Laufe des Songs hebt sich die Leinwand wieder und Gabriel kommt nach vorn, dort singt er schließlich auch die eindringliche „hold the line“-Passage, ehe es am Ende de gewohnten Schlussmoment gibt, in dem Gabriel das Publikum mit einem Spiegel blendet.

Es folgt mit Digging In The Dirt eines von vielen Stücken, die man nicht direkt erkennt. Erst Gabriels Einsatz verrät das Stück und hier zeigt sich erstmals, was man aus solch einem Song mit einem Orchester machen kann. Es gibt unruhige Passagen, die vor allem durch die Tuba geprägt werden, und es gibt Passagen (z.B. den Refrain), die eher getragen präsentiert werden. Während des Refrains werden auf den Screens Maden gezeigt, die sich bewegen. Das erinnert etwas an das Kult-Video des Songs vor 18 (!) Jahren.

4Melanies Gesang ist über die Jahre etwas besser geworden und Downside-Up singt sie auch nicht schlecht. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass sie es mit angezogener Handbremse singt. Downside-Up besticht durch zwei Elemente. Zum einen die Illustration auf den Screens, bei denen zunächst Motive (Häuser) verkehrt herum ins Bild schweben und sich schließlich um eine Art zentralen Punkt kreisförmig ansammeln. Zum anderen gibt es im „Ovo“-Finale ein interessantes Orchester-Arrangement, das im Publikum für gute Stimmung sorgt.

Der nächste Song ist, zumindest zu diesem Zeitpunkt im Set, eine kleine Überraschung. Signal To Noise bekam in diesem Konzertkonzept die Chance, endlich einmal ausgespielt zu werden. Gabriel entschied sich, den Song für UP durch Orchesterarrangements zu veredeln und so war es nur logisch, dass der Song einen Platz im Set der New Blood Konzerte bekommt. Und endlich kann man von einer richtigen Live-Version sprechen. Ohne Samples und Playback-Einspielungen ist Signal To Noise endgültig in den Reigen der absoluten Klassiker der Genesis-Familie aufgestiegen. Selbst auf Nusrat Fateh Ali Khans Stimme wurde verzichtet, Ane Brun übernahm den Part und interpretierte diesen auf ihre Weise ganz gut. Auf den Screens wurden immer wieder verzerrte Bilder des Bühnengeschehens gezeigt, die mit steigender Dramaturgie immer verzerrter wurden. Zu recht ernteten die Protagonisten stehende Ovationen für diese Performance. Einmalig …

5Entsprechend wurde Blood Of Eden zu einer Art Blaupause. Es war unspektakulär und am Ende eine Art Verschnaufpause vor dem nächsten Klassiker, The Rhythm Of The Heat. Hier war im Vorfeld die Skepsis am größten – wie kann es Gabriel und Metcalfe gelingen, diese so schlagzeuglastige Nummer im orchestralen Gewand funktionstüchtig zu machen?

Drei Elemente waren hier der Schlüssel. Als erstes erzeugte das Orchester eine Reihe interessanter Geräusche, die gewohnte Schlagzeugelemente des Originals ersetzten – darunter auch der wuchtige Knall der Pauke. Zum anderen singt Gabriel das Stück deutlich besser als noch 2007 und er bekam am 24. auch den Intro-Schrei hin (nachdem „es 2007 [in Hamburg] noch so klang, als sei ihm ein Keyboard auf den Fuß gefallen“ – O-Ton Martin Klinkhardt). Und zuletzt spielt das Orchester ein furioses Finale, als Gabriel gar nicht mehr auf der Bühne war. Spätestens hier riss es die Leute von den Sitzen.

Danach folgte mit Darkness ein Song, den man eher nicht in diesem Konzept vermutet hätte. Doch Darkness funktioniert überraschend gut. Schließlich erklärt Gabriel, dass der kommende Song allen bekannt sein dürfte und es folgt eine flotte Version von Solsbury Hill, bei der das Publikum endgültig die Zurückhaltung aufgab und ausgelassen mitfeierte. Am Ende des Songs baute das Orchester noch einen Teil der „Ode an die Freude“ ein, was ebenfalls durch Beifall honoriert wurde. Während des Songs spielte Gabriel mit einer Kugelkamera, die von der Decke heruntergelassen wurde. So filmte er sich, die Orchestermusiker und nicht zuletzt auch das Publikum, was dann auf den Screens zu sehen war. Am Ende stellte Gabriel noch einmal die wichtigsten Musiker und Akteure vor, auch John Metcalfe „musste“ nun auf die Bühne und erhielt einen entsprechenden Applaus. Unter großen Beifall verließ Gabriel schließlich die Bühne.

Nach kurzer Pause kam er dann zurück, die Screens zeigten die Knetmassenformen, die von der PLAY-DVD bekannt sind und das Orchester begann wieder zu spielen, dieses mal dirigierte nicht Ben Foster, sondern John Metcalfe selber. Den meisten war sicher bekannt, dass nun In Your Eyes folgte, allerdings erkannte man das Stück erst, nachdem Gabriels Gesang einsetzte. In der eher kurzweiligen Version übernimmt Ane Brun gewissermaßen den Gastsänger-Part, den früher Youssou N’Dour, später eine ganze Reihe von Musikern übernommen hatten (die jeweils im Vorprogramm spielten). Das Publikum stand bei diesem Song und machte bei der altehrwürdigen Welle des Songs zum Refrain entsprechend mit. Man kann kaum glauben, dass dieser Song bereits 24 Jahre (!) auf dem Buckel hat.

7Das gilt auch für die 2. Zugabe, Don’t Give Up. Schon die ersten Klänge sorgen für gute Laune im Publikum, doch als Ane Brun ihren Teil im Refrain übernimmt, verschlägt es vielen zunächst die Sprache, schließlich gibt es mitten im Song lautstarken Beifall für ihren Part. Man mag unter dem direkten Eindruck des Konzerts zu Übertreibungen neigen, aber diese Performance gehörte sicher zu den besten, seit Kate Bush den Song selbst gesungen hatte. Ob Ane Brun mit ihrer Darbietung Kate Bush vielleicht sogar den Rang ablief, möge jeder selbst entscheiden.

Ein ungewöhnlicher Abschluss folgte danach – Gabriel kündigte eine instrumentale Nummer an, mit der er das Publikum nach Hause schicken möchte – The Nest That Sailed The Sky vom OVO-Album. Es ist schon eine kleine Sensation, dass er dieses Stück als letztes Stück des Sets gewählt hat. Das Stück nimmt sämtiche Dynamik wieder heraus und versetzt das Publikum gewissermaßen in Hypnose. Gabriel ist gar nicht mehr auf der Bühne, doch am Ende taucht er rechts wieder auf – am Flügel. Er spielt ein paar Noten, die passender nicht sein könnten, dann ist das Konzert zu Ende und Peter Gabriel verabschiedet sich mit einem „vielen Dank, alle“.

Der 25.03.2010

Soundcheck:Der Soundcheck am zweiten Tag lief ähnlich ab; da dies das reguläre war und am Vortag quasi ’nur‘ das Zusatzkonzert stattgefunden hatte, hatten sich erheblich mehr Fans den Luxus eines Soundchecktickets für diesen Tag geleistet. Etwa 150 Besucher wurden wieder mit T-Shirt und Pass versehen und dann in drei Blöcken in die Halle geführt, um die Probe nicht durch zu große Unruhe zu stören. Weil dies also das zweite Konzert in der Halle war, wurde kein Soundcheck im eigentlichen Sinne mehr durchgeführt; man widmete sich wieder vor allem den Details in den Songs. Das Orchester probte zunächst noch einmal „Heroes“, dann ging es an My Body Is A Cage, bei dem der Arrangeur John Metcalfe eine Passage leicht verändern wollte; dies wurde geprobt, für gut befunden und unter allgemeinem Bleistiftgekritzel in den Notenblättern festgehalten. Bevor Peter Gabriel eintraf bzw. sich in die Probe einklinkte, wurde noch die furiose Schlusspartie von The Rhythm Of The Heat durchgespielt – es ist doch bewundernswert, wie ein Dirigent bei einem solch durcheinander tobenden Stück den Überblick behält!

10Danach wurde Peter mit einem schnellen Applaus aus dem Publikum begrüßt, und er besprach mit Ben Foster kurz das nächste Stück, das er proben wollte. Mercy Street klang gut, aber stellenweise noch nicht ganz präzise, und als Gabriel gegen Ende des Stückes einen hohen Falsett-Ton über die Musik hinweg singen wollte, brach ihm die Stimme so arg weg, dass er das Gesicht verzog und sogleich zu seinem Teebecher griff. Dieses Stück würden wir also am Abend nicht hören … oder doch? Eine handfeste Überraschung war der Song, dem sich Gabriel und das Orchester nun zuwandten. Er klang nicht nur schon bühnenfertig ausgereift und wurde von den entsprechenden Animationen begleitet, sondern es war dies ja auch das erste Mal überhaupt, dass The Drop live zu hören war. Im Publikum war man sich hoffnungsfroh einig, dass The Drop möglicherweise abends seine Weltpremiere feiern würde.

Digging In The Dirt wurde danach geprobt, hier griffen Melanie und Ane mit dem Wechsel- und Hintergrundgesang ins Probegeschehen ein. Während die beiden Frauen Downside Up ansangen, verließ Peter die Bühne. Nach diesem Stück wurden die Streicher in die Pause entlassen, während die Holz- und Blechbläser gingen unter der Anleitung von Ben Foster und John Metcalfe eine ganze Reihe Details aus Flume durch. Zwischendrin erschien Gabriel noch einmal kurz mit einem Fotografen auf der Bühne. Auch Listening Wind wurde geprobt, dies aber auch schon wieder mit den Streichern zusammen. Der Soundcheck endete gegen halb sechs mit einer technischen Probe von „Heroes“; wie auch später beim Konzert blieb der Vorhang unten und Gabriel sang zunächst durch ihn hindurch. Bevor wir wieder hinausgeführt wurden, beendete Ben Foster die Probe mit der verheißungsvollen Erinnerung an das Orchester, dass „am Abend die Setliste anders sein“ werde. Dass sie so anders sein würde, dass also sowohl Mercy Street als auch The Drop gespielt würden, war eine freudige Überraschung, die dem Konzertabend selbst vorbehalten war. Die Soundchecks selbst waren nicht sensationell spannend, aber allein schon: dabei gewesen zu sein, das einmal erlebt zu haben, war eine aufregende Erfahrung.

Konzert, 25.03.10: An dieser Stelle macht es wenig Sinn, die einzelnen Songs wieder „durchzukauen“. Es gibt aber eine Reihe von Besonderheiten und vielleicht auch Kuriositäten, die beachtenswert sind. Obwohl nicht viel mehr Zuschauer da waren als am Tag zuvor, füllte sich die O2-World viel schneller. Ane Bruns Set war identisch, ihr Applaus leicht besser als am Vortag. Wie schon am 24. waren auch am 25. viele Fans im Publikum, die sich via youtube die Clips der Paris-Show zu Gemüte geführt hatten. Genau diese Leute konnte Peter am 25. überraschen. Es gab kein Sledgehammer-Intro, sondern einen „stillen Beginn“ der Show, den Gabriel wie geprobt hinter der Leinwand stehend einleitete. Dabei konnte man ihn kaum entdecken, den auf der Leinwand gab es die roten „Heroes“-Animationen, die auch schon am Vortag auf der Leinwand zu sehen waren. Zur dritten Strophe stand Gabriel dann wieder für alle sichtbar vorne.

Beim ein oder anderen Song verlor Gabriel etwas den Überblick, was die Texte angeht, allerdings schaute er deutlich weniger (oder deutlich dezenter) auf die Teleprompter als am Vortag. Genauso kräftig wie am Vortag war seine Stimme, die er immer wieder mit Tee und einer anderen Flüssigkeit aus kleinen Fläschchen ölte. Wie am ersten Tag wurde der erste Teil ohne weitere Ansagen durchgespielt und am Ende kündigte Gabriel eine 15-minütige Pause an.

8Im Set des zweiten Teils gab es dann die sich abzeichnenden Überraschungen. Zunächst aber gab es eine dezente Änderung, die den meisten sicher gefallen hat – bei Signal To Noise sang Gabriel erstmals (und sehr kräftig) die „receive and transmit“-Passage. Dies hatte er in Paris und am Vortag komplett weggelassen, was auch etlichen Fans in den Foren negativ auffiel. Außerdem sang nicht mehr Gabriel den Intro-Schrei von The Rhythm Of The Heat, sondern Ane Brun.

Blood Of Eden wurde aus dem Set gestrichen, dafür wurde dann letztendlich doch Mercy Street gespielt, ohne dass Gabriel die Stimme wegbrach. Die Version war perfekt und der Song offenbar wie gemacht für das Orchesterkonzept. Es kam schließlich auch zu einer Weltpremiere – fast acht Jahre nach Veröffentlichung von UP wurde schließlich der Song The Drop erstmals live gespielt. Interessant war die Publikumsreaktion – vereinzelte Klatscher, als Gabriel den Song ankündigte und großer Jubel, nachdem er fertig war.

Der Rest der Show verlief im Prinzip wie am Vortag und auch dieses Mal setzte sich Gabriel am Ende von The Nest That Sailed The Sky wieder fast unbemerkt vom Publikum ans Klavier.

Fan-Treffen an beiden Abenden

Im it-Forum wurde für beide Abende eine Art it-After-Show-Party organisiert. An beiden Tagen trafen sich einige Fans im nahe gelegenen East-Side-Hotel, um beim Bier das erlebte Konzert Revue passieren zu lassen und zu diskutieren. Am zweiten Abend gesellten sich auch viele ausländische Fans dazu, darunter Fans aus der Schweiz und Italien, hier sei besonders Mario Giammetti erwähnt, der den befreundeten italienischen Fanclub DUSK seit den 90er Jahren leitet. Ingesamt zeigten sich alle beeindruckt von der Qualität von Gabriels Gesang und das Gesamturteil der Shows war deutch überwiegend positiv.

Fazit

Es ist nicht leicht, dieses Konzertkonzept in Gabriels Karriere einzuordnen. Viele Fans sind gar nicht erst gekommen, weil ihnen entweder der Weg nach Paris, London oder Berlin zu weit war – oder weil ihnen Konzept und Album nicht gefielen. Die meisten Zuschauer waren schließlich begeistert vom neuen Ansatz. Sicher ist es grenzwertig, eine derart lange Show mit einem Orchester einem Rockpublikum „zuzumuten“ und natürlich haben viele Passagen ihre Längen. Was bedeutet hier „Längen“? Natürlich bedeutet das, dass Gabriels Stimme und das Orchester eben viele ruhige Passagen durchlaufen. Das war vorher schon klar.

Interessant war, dass Gabriel und sein New Blood Orchestra das gesamte Scratch My Back Album durchspielten, ohne dass es auch nur ein „thank you“ oder eine Ansage gab. Auch die Reihenfolge der Titel des Albums wurde nicht verändert. Aus dieser Sicht ist es interessant zu lesen, dass viele Fans nun plötzlich einen anderen Zugang zum Album gefunden haben, nachdem sie diese Show gesehen haben.

6Bei früheren Gabriel-Shows war es immer so, dass er die Qualität seines Gesangs live nicht reproduzieren konnte – im Vergleich zu den Album-Versionen. Bei Scratch My Back ist das genau umgekehrt. Gabriels Gesang, speziell bei Songs wie „Heroes“, Mirrorball, Après Moi, Signal To Noise oder San Jacinto ist deutlich besser als auf den Alben. Aus dem Umfeld der Crew war zu hören, dass Gabriel das Singen auf diesem Niveau sehr schwer fällt bzw. dass es sehr anstrengend ist und im Rahmen von nur sechs Shows funktioniert. Vermutlich wäre das im Rahmen einer 20-Konzerte-Tour unmöglich.

Die Songauswahl ist durchaus gelungen, wobei man hier natürlich nur den zweiten Teil der Show bewerten kann. Für das Berliner Publikum war die Tourpremiere von Mercy Street und die Welt-Livepremiere von The Drop eine feine Sache, warum allerdings Wallflower nach den Shows bei Radio France und im Palais Omnisports in Paris gestrichen wurde, bleibt Gabriels Geheimnis.

Die Stimmung im Publikum war ebenfalls anders als bei früheren Konzerten. Jeder Zwischenruf wurde eher als störend empfunden. Am ersten Abend wurde das Intro von Heroes quasi „zerrufen“ mit Wünschen wie „Big Time“ oder „Red Rain“. Am zweiten Abend kam es zu einem Zwischenruf, als Gabriel erklärte, dass zunächst Scratch My Back und dann älteres Material gespielt würden. Das „Supper’s Ready“ des zwischenrufenden Fans quittierte Gabriel dieses Mal lächelnd mit einem „no, not this one“. In der Regel konnte man während der Songs eine Stecknadel fallen hören. Teilweise kam es zu Szenenapplaus, etwa während My Body Is A Cage oder Don’t Give Up.

Am Ende ist es auch die (vermutliche) Einmaligkeit dieses Showkonzepts, die den Reiz der Konzerte ausmachte. Als Rockfan hat man nun eine Vorstellung, wieviel Krach ein Orchester machen kann, auch wenn kein Rockschlagzeug und E-Gitarren dabei sind. Gabriel hat sich mit diesen Shows weit aus dem Fenster gelehnt und sein Risiko wurde belohnt. Jeder Zuschauer, der sich darüber im Klaren war, was auf ihn zukommt und sich auf das Konzept der Show eingelassen hat, ging mit zufriedenem Gesicht nach Hause. Es versteht sich von selbst, dass alle anderen mit der Show entweder Probleme hatten oder am Ende doch positiv überrascht wurden. Peter Gabriel lässt sich in keine Schublade stecken. Und er nimmt bewusst in Kauf, dass nicht alle ihm folgen, wenn er neue Ideen auslebt. Das hat er wieder einmal eindrucksvoll bewiesen.

Autor: Christian Gerhardts

Beiträge zu den Soundchecks: Martin Klinkhardt

Fotos: Peter Schütz (Show), Christian Gerhardts (Soundcheck)


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