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i/o – Die Kunst

Peter Gabriel stellt jedem neuen Track des kommenden Albums auch ein Kunstwerk zur Seite. Wir betrachten sie und die jeweiligen Künstler dahinter hier etwas genauer.

Peter Gabriel lässt auch zum Erscheinen von i/o jeden Track wieder von einem Kunstwerk begleiten. Ähnliches hatte er schon bei USgemacht und mit schwarz-weißen Fotoarbeiten auch bei Up. Wobei den Künstlern bei USjeweils ein Demo-Tape des Songs übergeben wurde, und das Kunstwerk dann explizit für diesen Track erstellt wurde.

Für i/o wurden die Kunstwerke weltweit zusammengesucht. „Wir haben uns die Arbeiten von Hunderten von Künstlern angesehen“, sagt Gabriel dazu.

Bildende Kunst – Gemälde, plastische Arbeiten (oder eben auch Fotografien) – scheinen ihm wichtig zu sein. Das Interdisziplinäre bewegt ihn ja schon lange und im Falle von Album-Artwork hat er in letzter Zeit auch immer wieder gerne auf Material aus dem Bereich der Wissenschaft zurückgegriffen (man denke an die mikroskopischen Aufnahmen von Blutkörperchen zum Scratch My Back Projekt).

Wir stellen hier nun alle Kunstwerke, die Künstler und die Hintergründe vor.

1 – David Spriggs: Red Gravity für Panopticom
2 – Tim Shaw: Lifting The Curse für The Court
3 – Annette Messager: Mes voeux (avec nos cheveux) für Playing For Time
4 – Olafur Eliasson: Colour Experiment No. 114 für i/o
5 – Cornelia Parker: Snap für Four Kinds Of Horses
6 – Ai Weiwei: Middle Finger In Pinkfür Road To Joy
7 – Henry Hudson: Somewhere over Merciar So Much
8 – Barthélémy Toguo: Chroniques Avec La Nature für Olive Tree
9 – Antony Micallef: A Small Painting Of What I Think Love Is für Love Can Heal
10 – David Moreno: Conexión De Catedral II für This Is Home
11 – Megan Rooney: And Still (Time) für And Still
12 – Nick Cave: Soundsuit für Live And Let Live
All the information flowing…


Veröffentlichung #1 vom 6.1.2023: Panopticom

Der Track

Der erste Veröffentlichung aus i/o ist Panopticom im „Bright Side Mix“. Es geht darin um die Möglichkeit, die auf der Welt (teils nicht einsehbar) vorhandene Informationsfülle zu allen möglichen Themen zugänglich zu machen. Gabriel visioniert dazu einen Globus, in den man hineinzoomen kann um Daten abzurufen – das Panopticom. Die so erzielte Informationsfreiheit steht dann der Informationskontrolle und -verweigerung entgegen.

Der Künstler

Das begleitende Kunstwerk wurde von David Spriggs geschaffen. 1978 in Manchester geboren, mit 14 nach Kanada übergesiedelt, machte er 2000 einen Abschluss in Malerei und Bildhauerei am Emily Carr Institute of Art & Design, Vancouver. Teile seiner Studienzeit verbrachte er am Bauhaus in Weimar und in Berlin. Er hat international ausgestellt und Preise erhalten. David Spriggs bezeichnet seine Arbeiten als Mischung aus Gemälde, Objekt und Installation, bei denen einzelne Plexiglasscheiben individuell airbrush-bemalt und dann hintereinandergeschichtet werden. Die Ergebnisse können auch schon mal groß sein wie ein ganzer Raum und haben eine dreidimensionale Wirkung.

Dabei geht es nicht nur um Illusion, sondern auch um das Aufwerfen der Frage, wie wir die scheinbaren Formen in unserem Kopf zusammensetzen, wie etwa die dreidimensionale Wirkung von planen Bildebenen. Spriggs untergräbt die Illusion geradezu, indem der Betrachter seitlich auf die Objekte schauen und die Schichten auch einzeln einsehen kann.

Gabriel sagt zudem: „Ein Teil seiner Arbeit besteht darin, sich vorzustellen, wie die Kunst in ein paar Jahren aussehen könnte, und dann zu versuchen, dementsprechend zu gestalten.“ Spriggs ergänzt: „Ich denke, dass die Zukunft der Bildhauerei einen starken Bezug zum Immateriellen und zur Transparenz haben wird, und viele meiner Werke handeln davon.“ Oft haben sie ein futuristisches, unwirkliches Erscheinungsbild. Trotzdem scheinen sie auch, wie Gabriel sagt, von der Natur beeinflusst zu sein. „Aber“, so Spriggs, „eigentlich geht es um tiefere Philosophie und zeitgenössische Themen.“

Und er findet, dass seine Kunst, die ja unbewegt, „still“ ist, ein gutes Gegenstatement zu all der Bewegung in der schnellen, multimedialen Welt darstellt.

Viele seiner lohnenswerten Arbeiten sind auf seiner Webseite zu finden: www.davidspriggs.art

Das Kunstwerk

David Spriggs: Red Gravity
Photo by Paul Kyle Gallery
mit Genehmigung durch David Spriggs

Panopticom wird begleitet vom Werk Red aus Spriggs‘ Reihe Gravity von 2019 – Acryl auf geschichtetem Plexiglas in einer LED-beleuchteten Plexiglasvitrine (84 x 61 x 20 cm).

Wie eigentlich immer bei ihm, ist die durch die Schichten entstandene Figur nicht gegenständlich, sondern abstrakt. Im Fall von Red ein sich linksherum drehender Strudel in Rot, der um ein offenes „Sturmauge“ kreist. Dieses Kreisen um eine Mitte kam ja schon in Gabriels Erklärung zum Song vor: Im völligen Gegenentwurf zu seinem „Panopticom“, nämlich dem Konzept für ein Gefängnis, das kreisförmig errichtet ist und so ein einziger Wärter viele Zellen überwachen kann. Gabriel möchte die Umkehr davon erreichen.

Die Verbindung

Gabriel selbst erklärt: „Es war das Thema der ‚Überwachung‘, das mich mit dem Werk von David Spriggs in Kontakt brachte, weil er eine Arbeit dazu gemacht hatte.“ Über die Reihe Gravity kann man sagen, dass da eine Kraft um ein Inneres kreist und eine Art Strudel hinein bildet. Das hat zu Gabriels Song-Absicht durchaus einen Bezug.

Aber auch die Assoziation „Auge“ passt: Das alles Beobachtende als Form einer Kraft. Das Rot wählte Spriggs, weil es in der Wahrnehmung oft „Warnung“ signalisiert.

Andere Arbeiten von ihm tragen übrigens passenderweise Titel wie Axis of Power, Contact, Data, Hierarchy, Idiologies oder Vision. Diese Titel übereinzubringen mit dem, was zu sehen ist und nie auf den ersten Blick bildhaft-erzählend wirkt, ist die Herausforderung an den Betrachter.

Schließlich

Für uns blieben noch ein paar Fragen offen – doch David Spriggs war so freundlich, sie dem Genesis Fanclub zu beantworten:

Wie verlief der Kontakt mit Peter Gabriel und seinem Team?
– Peter hat sich an mich gewandt, weil er meine Arbeit sehr mochte. Nach zwei langen Telefongesprächen über meine und seine Arbeit dachte ich, dass mein Werk Red Gravity konzeptionell am besten zu dem Song Panopticom passen würde und schlug es ihm vor. Er liebte es und wählte es für den Song aus. Red Gravity wird nun Teil von Peters Kunstsammlung werden.

Wie lange ist der erste Kontakt her?
– Das war vor nicht allzu langer Zeit.

Hast du vorher den Song gehört?
– Ja, ich habe Panopticom viele Male gehört, bevor ich Red Gravity vorgeschlagen habe. Glücklicherweise habe ich in Gesprächen mit Peter alles über den Song erfahren. Er ist komplex und intelligent. Ich freue mich wirklich, dass meine Arbeit dafür verwendet wird, denn es ist ein großartiger Song.

Wie wichtig ist es dir, mit deinen Werken eine politische und soziale Reflexion anzustoßen?
– Ich möchte, dass die Menschen über die größeren Dinge nachdenken. Kunstwerke, die sich nur um sich selbst drehen, sind ‚Kunst um der Kunst willen‘. Es ist viel interessanter, wenn ein Kunstwerk uns inspiriert und uns dazu bringt, über die Materialien, mit denen es geschaffen wurde, hinaus zu denken.

Peter Gabriel veröffentlichte zudem ein Video, in dem noch ein wenig mehr über die Hintergründe erzählt wird und auch David Spriggs selbst zu Wort kommt:


Veröffentlichung #2 vom 5.2.2023: The Court

Der Track

Das zweite i/o Stück heißt The Court und thematisiert Justiz und Rechtssysteme, wie sehr sie Irrtum und Missbrauch ausgesetzt sind und dabei doch notwendig für eine zivilisierte Gesellschaft bleiben. Über Ordnung und Chaos wird in recht offenen Assoziationen erzählt, ohne so etwas wie einer geschlossenen Geschichte darin. Es wird Verwirrung in verwirrenden Bildern beschrieben.

Der Künstler

Tim Shaw wurde 1964 in Belfast geboren und studierte Kunst an der Manchester Polytechnic und an der Falmouth School of Art. Nach einer kurzen Tätigkeit als Restaurator von Gebäuden und Kunstwerken, begann er sich ganz der Bildhauerei zu widmen.

Er gestaltet Skulpturen mit figürlich-naturalistischem Ansatz, der dann aber verfremdet weitergeführt wird. Meist sind es menschenartige Figuren in bizarrer, teils überwirklicher Inszenierung. Manche seiner Plastiken sind recht klein und passen zu mehreren auf eine Tischplatte, oft sind sie aber auch enorm groß. Einige haben mechanische Beweglichkeit bishin zu einem voll ausgeführten Animatronic (The Birth Of Breakdown Clown).

Die Themen, denen er sich widmet, sind politisch, anklagend, legen Finger in Wunden, beschäftigen sich mit Terrorismus oder dem Krieg im Irak. Gelobt wurde die Installation Casting A Dark Democracy von 2007, die eine berühmte Fotografie eines Gefangenen von Abu Ghraib aufgriff.

Tim Shaw ist in Großbritannien durchaus renommiert und erhielt auch öffentliche Aufträge (für Kunst auf innerstädtischen Plätzen etwa).

Die interessante Webseite von Tim Shaw: www.timshawsculptor.com

Das Kunstwerk

Für das Coverbild zu The Court wurde eine Arbeit ausgesucht (genau genommen: Steve Tanners Fotografie davon), die eine Geschichte hat, die auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen abgedreht anmutet.

Es handelt sich um eine direkte Reaktion auf das Künstlerduo Gilbert und George, das Anfang des Jahres 2021 von Plänen erfuhr, ihre Werke nicht auszustellen, und sich erzürnte: „Wir geben hiermit unsere Medaillen und Zertifikate zurück. … Wir verfluchen die Royal Academy und alle ihre Mitglieder.“

Tim Shaw fand: „Ob es sich nur um leichtsinnige Worte oder um gezielte toxische Energie handelt, es ist eine ernste Angelegenheit, jemanden zu verfluchen. Als einer der Verfluchten fühle ich mich verpflichtet, auf diese Tat mit einer robusten Antwort zu reagieren.“

Sein Kunstobjekt dazu war zunächst einmal eine etwa drei Meter große, menschenähnliche Gestalt aus einem Metallgerüst mit darangebundenen Ästen, Stoff und einem Bauch voller Holzkohle. Am Ende der Royal Academy Summer Exhibition fand im Januar 2022 eine rituelle Zeremonie statt, bei der die Skulptur auf einem Feld in Brand gesetzt und die Reste dann am Fluss in Luft, Wasser und Erde verstreut wurden, um die negativen Kräfte in positive zu transformieren.

Die Geschichte mit dem Fluch und dem schamanischen Ritual mag spinnert klingen, aber Tim Shaws Arbeit ist ja deutlicher in der realen Welt verwurzelt, als dieser Hintergrund zunächst denken lassen könnte. Gabriel sagt, in Shaws Arbeit geht es um Brutalität, die wir einander antun. Und er findet, dass Rituale faszinieren, denn sie sagen uns eine Menge über uns selbst.

Hier noch weitere Bilder der Skulptur
Und des Verbrennungsrituals

Die Verbindung

Gabriel kannte erstmal nur die Fotografie und erfuhr erst später von der Geschichte dahinter. Ihn faszinierte zunächst die Abbildung dieser fremdartigen Gestalt, die brannte – vielleicht verurteilt worden war.

Gemeinsam mit der Hintergrunderzählung ergibt das Kunstwerk für The Court aber durchaus Sinn. Es geht bei beiden um Unrecht und Sühne, Gerechtigkeit und Ausgleich. Auch wenn man die Verbindung zum Stück mehr fühlen als denken kann – die Lyrics des Stücks funktionieren ja in ganz ähnlicher Weise.

Tim Shaw sagt noch: „Ich weiß nicht, warum gerade dieses Bild für diesen Track gewählt wurde, aber wenn man darüber nachdenkt, könnte es sein, dass die Figur vielleicht angeklagt und verurteilt wird, und in diesem Fall wird sie als Bestrafung verbrannt.“

Auch zu Tim Shaw wurde am 3. März noch eine kurze Video-Dokumentation veröffentlicht:


Veröffentlichung #3 vom 7.3.2023: Playing For Time

Der Track

In Playing For Time geht es ums Leben, ums Sterben und um die Erinnerungen, die man unterwegs sammelt. Dass erst Erinnerungen uns zu dem machen, was wir sind. Dass das, was man liebt, in einem drin ist. Und es geht auch darum, dass dieses Sammeln durchaus mühsam ist. Dass wir alle dabei irgendwie „auf Zeit spielen“.

Die Künstlerin

Annette Messager ist Malerin, Fotografin, Installationskünstlerin und wurde 1943 in Frankreich geboren. Damit mal jemand älteres als Gabriel. Er kennt Messagers Arbeiten schon sein „40 oder 50 Jahren“ und hätte sie beinahe schon damals bei dem Kunstprojekt zum US-Album dabei gehabt.

Messager ist vor allem für ihre Installationen bekannt, die oft Fotografien, Drucke und Zeichnungen sowie gerne auch Methoden einbezieht, die traditionell der weiblichen Handarbeit zugeordnet werden. Dann wird Stricken etwa zu einer künstlerischen Form. Dabei haben ihre Arbeiten eine enorme Bandbreite, lassen nicht gleich vermuten, dass sie von derselben Künstlerin stammen. Sie selbst sagt ganz allgemein: „Meine Arbeiten beruhen auf Materialien, die jedem bekannt sind. Dass aus ihnen merkwürdige Dinge gezaubert werden, erzeugt ein Unwohlsein.“

Und in der Tat löste sie schon früh Verstörung beim Publikum aus, sogar Ablehnung, etwa durch Fotografien von Verletzungen durch Schönheitsoperationen, gestickte frauenverachtende Sprichwörter und zerfetzte Stofftiere, zu niedlichen Monstern umgestaltet.

Erst spät kam sie zu weltweiter Anerkennung, stellt inzwischen etwa bei der Documenta in Kassel oder der Biennale in Venedig aus und erhielt zahlreiche Preise. Heute ist sie die Grande Dame der französischen Szene und gilt als Pionierin weiblicher Kunst – mit viel Humor und femininer Gelassenheit.

Interessant für die heutige Zeit ist, dass sie offenbar keine eigene Homepage besitzt. Ersatzweise sei hier die Webseite Archives of Women Artists verlinkt mit einigen Impressionen ihrer Arbeiten.

Das Kunstwerk

Playing For Time wird begleitet von Messagers Arbeit mit dem Titel Mes voeux (avec nos cheveux) [deutsch: Meine Wünsche (mit unseren Haaren)]. An Schnüren von der Wand hängende Schwarzweißfotografien zeigen Teile menschlicher Körper: Hände, Augen, Ohren, Schambereiche von Frauen und Männern. In der Mitte vier Bilder in beige-braunen Tönen, weniger konkret. Tatsächlich beinhalten die Rahmen Haar. („Haare sind etwas Seltsames. […] Man kann sie abschneiden, man kann sie lockig machen, man kann die Farbe ändern – es ist immer derselbe Körper.“)

Das ganze mutet wie eine Collage an, wie Bruchstücke von Größerem, das jedoch nie sichtbar wird. Vielleicht sind es auch Votivgaben – symbolische Opfer an eine höhere Idee. In der Gesamtanordnung der Einzelfotos mag man übrigens eine Vagina sehen können.

Vom Werk existieren etliche Versionen (eine hängt im Centre Pompidou) wobei jedoch die Einzelbilder und die Anordnungen immer anders sind.

Die Verbindung

Gabriel sieht viele Arbeiten von Messager geprägt vom Zusammensetzen von Erinnerungen und Bildern. Mes voeux (avec nos cheveux) zeigt vielleicht Sehnsüchte, versammelt jedenfalls Facetten, aus denen sich etwas Ganzes ergeben kann, vielleicht bleibt es auch bei der Suche danach.

Auch in Playing For Time geht es um Facetten, Erinnerungen, die ein Leben lang gesucht werden. Sie stellen dar, was uns ausmacht – auch wenn das nicht immer sofort zu erkennen ist. Vielleicht nie zu verstehen ist. Doch egal ob oder ob nicht – am Ende trägt in jedem Fall die Zeit die Krone.

Schließlich

Interessant ist vielleicht noch, dass der Track bei Apple Music auf E „explicit“ gesetzt wurde. Das liegt aber nicht am Text des Songs, sondern wohl am Coverartwork, in dem explizite Nacktheit zu sehen ist.

Die Bebilderung im Uncut Artikel deutet übrigens darauf hin, dass ursprünglich für Playing for Time ein anderes Werk von Annette Messager vorgesehen war: Ein in Grautönen aquarelliertes Ziffernblatt aus der Reihe L’homme qui marche à l’envers du temps [deutsch: Der Mann, der rückwärts durch die Zeit läuft]. Diese Änderung war wahrscheinlich eine Entscheidung in letzter Minute.

Bedauerlich schließlich: Nachdem es zu den beiden ersten i/o-Künstlern noch vertiefende Videos gab, wurde das ab dem dritten Track nicht mehr fortgesetzt (ein Interview mit Annette Messager wurde noch angekündigt, erschien aber nie). Über die Gründe kann man nur spekulieren.


Veröffentlichung #4 vom 6.4.2023: i/o

Der Track

i/o ist ein Lied vom Zusammenhängen. Dass alles miteinander verbunden ist. Wir sind entstanden aus Atomen und Biochemie. Damit wir wachsen, wird Material in uns gesteckt – und kommt auch wieder raus. Und wenn wir irgendwann vergehen, bleiben die Atome bestehen und werden zu etwas anderem. Es gibt eine Art Lebenskraft, die das Universum nie verlässt. Gabriel findet, dass diese Erkenntnis Verständnis geben kann – für das Leben an sich, die Natur und die Mitmenschen.

Der Künstler

Olafur Eliasson, 1967 in Kopenhagen geboren, ist ein Däne isländischer Herkunft. In seiner Jugend war er professioneller Break-Dancer, bevor er begann, Kunst zu studieren. Er zog in den 90ern nach Berlin und gründete dort das Studio Olafur Eliasson, das heute spartenübergreifende Projekte durchführt, nicht nur im Bereich bildende Kunst, sondern auch in Architektur, Film, Programmierung und sogar Kochen.

Eliasson setzt technische Gerätschaften und natürliche Elemente wie Licht oder Wasser ein, um Skulpturen und großformatige Installationen zu schaffen. Zu seinen Hauptthemen gehören die menschliche Wahrnehmung und unsere Beziehung zur Umwelt. Für The Weather Project (2003) installierte er eine riesige „künstliche Sonne“ in der Tate Modern. Für Ice Watch (2014) ließ er in London, Paris und Kopenhagen große Blöcke aus Gletschereis schmelzen. Beide Projekte zielten darauf ab, das Bewusstsein für den Klimawandel zu schärfen.

Er selbst sagt: „Meine Arbeiten reflektieren eher darüber, ‚wie‘ und ‚warum‘ wir die Dinge sehen, als darüber, ‚was‘ wir sehen.“ Oft spannt er dabei einen Bogen zwischen Kunst und Wissenschaft.

Werke von ihm stehen oder standen in München, Frankfurt, Wien, New York oder Reykjavík. 2003 vertrat er Dänemark auf der Biennale von Venedig.

Von 2009 bis 2014 war er Professor an der Universität der Künste, Berlin.

Große Bekanntheit erlangte sein Projekt Little Sun. Kleine gelbe Lampen aus recyclebarem Kunststoff mit Akkus, die durch Photovoltaik gespeist werden, sollen den Menschen eine künstliche Leuchtquelle geben, in deren Regionen es noch immer keine Elektrizität gibt. Oder anderen Menschen eine saubere Lichtquelle. Was nach einem simplen Konzept klingt, hat mehr Hintergrund, als es zunächst scheint.

Das Kunstwerk

…heißt Colour Experiment No. 114, ist aus dem Jahr 2022, ein rundes Gemälde, Öl auf Leinwand, Durchmesser 80 cm. Zu sehen ist ein dunkler Kreis, in dem ein breiter Ring steht, der von innen nach außen die Regenborgenfarben wiedergibt – wobei das Violett, das ganz innen steht, kaum auszumachen ist und der gelbe Bereich die größte Breite hat.

Wie der Titel andeutet, hat Olafur Eliasson eine ganze Reihe von Werken dieser Art geschaffen. Sie sind von der Erscheinung her sehr unterschiedlich, zeigen nicht alle eine Regenbogenskale, sondern umfassen unterschiedlichste Farbschemen. Sie vereint aber alle der Kreis als Form.

2009 begann Olafur Eliasson mit diesen Gemälden, die teilweise von der Idee inspiriert sind, für jeden Nanometer des sichtbaren Lichtspektrums, dessen Frequenz von etwa 390 bis 700 Nanometern reicht, einen exakten Farbton zu mischen und anzuwenden. Eliasson hat etliche dieser Bilder geschaffen, wobei sie in Größe und Ausprägung sehr unterschiedlich sind. Die Farbpalette anderer Werke der Reihe ist bestimmten Quellen entnommen, zum Beispiel historischen Gemälden von J.M.W. Turner oder Caspar David Friedrich oder Fotografien von Eliasson.

Auf unsere Anfrage hin sagt er dazu: „Geometrisch gesehen ist ein Regenbogen eigentlich ein Kreis, der nur wegen der Horizontlinie als Bogen erscheint. Würde die Erde den Blick auf den Regenbogen nicht versperren, würde er als voller Ring erscheinen – ähnlich wie das Thema dieser Gemälde. Jedes der Gemälde zeigt ein kreisförmiges Farbband, das von Rot über Orange und Gelb bis hin zu Grün, Blau und Indigo reicht – die Farbtöne, aus denen das prismatische Spektrum besteht. Im Gegensatz zu dem schwarzen Hintergrund, der die Mehrzahl der kreisförmigen Leinwände dominiert, scheinen die kreisförmigen Regenbögen, wie das flüchtige Phänomen, das sie inspiriert hat, fast aus Licht zu bestehen.“

Die Verbindung

…ist diesmal nicht so augenscheinlich, wie bei den Kunstwerken bisher.

Gabriel findet, Eliasson sei „eine Mischung aus Künstler, Wissenschaftler und… Magier“, dessen Arbeiten anregen, nachzudenken, wie wir mit unserer Umgebung interagieren. Das dürfte sich auch und gerade auf die Beschäftigung mit der Aufspaltung von Licht beziehen. Eliassons Kunst, so Gabriel, stehe in vielerlei Hinsicht für das, worum es in dem Stück gehe: Dass da eine Realität ist, die das Universum nie verlässt. Sie ist immer da, aber ändert ihre Form.

Eliasson erklärt uns noch: „Sowohl meine Arbeit als auch der Track sind Abstraktionen von Ideen und Gefühlen, und sie stellen einen Ort dar, an dem man nach Dingen suchen kann, die im Begriff sind, sich zu artikulieren… In den letzten zwei Jahren habe ich mich zunehmend für Klänge interessiert. […] Ich kannte und schätzte Peter natürlich schon immer für sein Engagement für den Klang und seinen nicht-kommerziellen Ansatz beim Musikmachen. Für einen musikalischen Laien wie mich ist das eine sehr seltene Eigenschaft in der heutigen Musiklandschaft, und deshalb würde ich gerne ein Teil davon sein.“

Schließlich

Abgesehen von seinem Kunstbeitrag zum Album ist für die i/o Tour auch geplant (Stand: Anfang April 2023), dass Eliasson ein Lichtobjekt für die Bühnenshow beiträgt. Das vorgesehene Element, mit dem gerade noch rumexperimentiert wird, sei – so Gabriel – einfach, aber schön. Es werde auch wieder weißes Licht in die Regenbogenfarben aufspalten – diesmal jedoch nicht durch ein Prisma, sondern durch einen „langen Streifen eines Spiegels in einer elliptischen Schale“. Was das genau sein wird, ob es bei der Tour wirklich zum Einsatz kommt, bleibt abzuwarten.

Colour Experiment No. 114 ist am Ende eins der wenigen i/oKunstwerke, die bei der Tour 2023 nicht für die Screenprojektionen verwendet werden.

Angemerkt sei ansonsten noch, dass irgendwann zwischen dem Erscheinen des Tracks und der Erstellung des Tourbooks die grafische Aufbereitung geändert wurde und der Hintergrund zum Bild jetzt nicht mehr weiß sondern schwarz ist.


Veröffentlichung #5 vom 5.5.2023: Four Kinds Of Horses

Der Track

Four Kinds Of Horses kommt über seinen gesamten Verlauf mit gezügelter Spannung daher, die sich zunehmend verdichtet. Inhaltlich geht es um die unheilvolle Überschneidung, die in Organisationen und Religionen zwischen Friedfertigkeit und Gewalt entstehen kann. Titelgebend ist dabei das buddhistische Gleichnis von den vier Arten von Pferden, die für verschiedene Wege stehen, die einem Schüler für das spirituelle Lernen möglich sind. Im Song wird dann noch ein fünfter angedeutet – einer, der von sich meint, anders zu sein, jedoch auch nur alles bisherige wiederholt.

Die Künstlerin

Cornelia Parker wurde 1956 in Cheshire geboren (ihre Mutter war Deutsche), studierte am Gloucestershire College of Art and Design (1974/75) und an der Wolverhampton Polytechnic (1975/78). Sie lebt und arbeitet in London. Neben großen Ausstellungen in Boston, Turin, Stuttgart, Birmingham oder Lima befinden sich einzelne ihrer Arbeiten etwa im MOMA (New York), der Tate Gallery oder dem M. H. de Young Memorial Museum (San Francisco).

Parker beschäftigt sich mit zahlreichen Methoden, wie explodieren, quetschen, dehnen, um Materialien, die beladen sind mit subjektiv-persönlichen Empfindungen, neue Assoziationen abzuringen.

Ihr bekanntestes Werk ist sicher Cold Dark Matter: An Exploded View (1991). Parker ließ dafür ein Gartenhaus samt Einrichtung in die Luft sprengen, hängte die übrig gebliebenen Fragmente an Fäden von der Decke und beleuchtete sie mit einem einzelnen Licht dramatisch von innen. An den Wänden erzeugte das bizarren Schattenwurf. Zum Hintergrund sagte sie: „In der Geschichte der Bildhauerei ging es immer um Gewalt, sei es beim Schlagen mit Hammer und Meißel auf Stein oder beim Schmieden von Metall.“ Und: „In den achtziger und neunziger Jahren in London zu wohnen, bedeutete, mit der ständigen Bedrohung durch IRA-Bomben zu leben.“

Für ein ganz anderes Werk, Thirty Pieces of Silver (1988-89), ließ sie silberne Teeservices, Teller und Besteck von einer Dampfwalze platt pressen und hängte sie dann ebenfalls auf. „Ich habe mich schon immer zu beschädigten, unvollkommenen Dingen hingezogen gefühlt. Sie vermitteln ein Gefühl von Drama und Angst.“

Grundsätzlich arbeitet Parker zudem viel mit den Themen Licht und Schattenwurf.

Sie war ursprünglich (so wie Tim Shaw) schon für das Kunst-Projekt zum US Album im Gespräch. Auch bei ihr hatte es sich damals aber nicht gefügt.

Das Kunstwerk

Gabriel entschied sich für eine ganz andere Art ihrer Arbeiten um es der i/o Kollektion zuzufügen. Snap ist von 2020, als Druck 32,6 × 30,4 cm groß – und zeigt auf einem verschwommenen Untergrund in beige-grau recht unscharf die Konturen eines zerbrochenen Weinglases. Zu erkennen ist das Bodenstück, ein kleiner Teil des Stiels, sowie der eigentliche, halbrunde Glaskorpus, der am stärksten verwischt wirkt.

Es gab 2020 eine ganze Ausstellung von Cornelia Parker mit Drucken dieser Art. Die Aufnahmetechnik hinter ihnen ist inspiriert von den Arbeiten der Pioniere der Fotografie des 19. Jahrhunderts, namentlich von William Fox Talbot.

Parker platziert Gegenstände auf einer chemisch beschichteten Platte und bestrahlt sie mit ultraviolettem Licht, das in schrägem Winkel auf und durch die Objekte scheint. Auf der Platte aus Kupfer oder Stahl hinterlässt das auf der lichtempfindlichen Polymerschicht Veränderungen, die man derart behandeln kann, dass ein Tiefenrelief ähnlich einer Radierung entsteht. Davon wiederum kann man Abdrucke auf Papier bringen – das sogenannte Fotogravurverfahren oder die Polymertiefdruck-Radierung. Unser Bild für Four Kinds Of Horses ist der Druck von einer solchen Platte.

Um es also noch einmal deutlicher zu sagen: Im Falle von Snap lagen die scharf sichtbaren Fragmente des Weinglases direkt auf der Belichtungsplatte, während die sich weiter darüber erhebenden Teile nur ein unscharfes Abbild erzeugt haben. Im Grunde ist auf dem Druck also der Schattenwurf der Objekte zu sehen.

Die Verbindung

Bei Parkers Arbeiten, die sich um Zerstörung, Neufassung, Licht und Schatten drehen, ist es nicht verwunderlich, vom Song her assoziativ auf eine Verbindung zu ihr zu kommen.

Ganz schlicht meint Gabriel zudem: In das Bild „habe ich mich verliebt“ und die Impression „um das zerbrochene Glas herum schien zu dem Song zu passen“.

Das Bild zeigt schließlich Zerstörung in scheinbar recht harmloser, unbedeutender Weise – doch trotzdem steckt darin auch Brutalität. Vielleicht kann man in ihm auch Trauer um das Vergängliche erspüren.

Wie das Mai-Video zu Four Kinds Of Horses übrigens erahnen lässt: Gabriel scheint auch bei der kommenden Show mit dem Effekt von Licht und Schattenwurf zu spielen.


Veröffentlichung #6 vom 4.6.2023: Road To Joy

Der Track

Wenn man den Text von Road To Joy hört, denkt man erst mal, dass es um Sex geht. Gabriel erklärt aber, dass der Track in Wahrheit von einer im Koma liegenden Person handelt, die nach Zeiten der absoluten Reglosigkeit zurück ins Leben kommt. „Es geht um Nahtoderfahrungen und das Locked-in-Syndrom, bei dem Menschen nicht mehr kommunizieren oder sich bewegen können. Das ist ein unglaublich frustrierender Zustand.“

Die Künstler

Ai Weiwei wurde 1957 in Peking geboren. Er studierte Animation an der Pekinger Filmhochschule und verbrachte anschließend rund zehn Jahre in New York, wo er kurzzeitig die Parsons School of Design und die Art Students League besuchte. Ab 1993 lebte und arbeitete er wieder in Peking.

In seinem Werk beschäftigt sich Ai Weiwei mit vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen, erschafft unter anderem Bilder, Fotos, Installationen, Skulpturen, Bücher, Filme und Gebäude, nimmt zudem regelmäßig an Performances teil. Er kritisiert die Verstöße gegen Menschenrechte, die wirtschaftliche Ausbeutung und die Umweltverschmutzung in seinem Land, untersucht die Verbindungen zwischen der modernen Welt und der chinesischen Kultur und verwendet dazu auch traditionelle Objekte, Antiquitäten oder spirituelle Gegenstände. Oft stellt er Autoritäten in Frage.

Zu seinen bekanntesten Werken gehören Sunflower Seeds (2010), für das er 100 Millionen handbemalte Sonnenblumensamen aus Porzellan von chinesischen Kunsthandwerkern anfertigen ließ und sie über den Boden der Turbinenhalle der Tate Modern ausbreitete.

Im Jahr 2008 arbeitete er als Berater am „Vogelnest“-Stadion für die Olympischen Spiele in Peking mit; später bezeichnete er das Projekt als „vorgetäuschtes Lächeln des schlechten Geschmacks“.

Erste polizeiliche Verfolgung erlitt Ai Weiwei nach regierungskritischen Äußerungen ab 2009, verhaftet wurde er 2011 und 81 Tage lang festgehalten, ohne geregelte Anklage. Gegen seine Verhaftung protestierten Regierungen und Künstler der ganzen Welt. Bis 2015 hatte er zudem Reiseverbot, verließ das Land dann sobald er konnte. Er lebte bis 2019 in Berlin, danach in England und seit 2021 in Portugal.

Ai Weiwei gehört zu den bekanntesten Vertretern der zeitgenössischen chinesischen Kunst und nahm für Deutschland an der 55. Biennale von Venedig im Jahr 2013 teil. Arbeiten von ihm sind oder waren zu sehen im Centre Pompidou, dem Los Angeles County Museum of Art, dem Guggenheim Museum oder der Tate.

Ai Weiwei dürfte der namhafteste Künstler im Reigen der i/o-Sammlung bislang sein.

Das Kunstwerk

Das Bild heißt Middle Finger In Pink (2023, Zweifarb-Siebdruck auf Papier, 60 x 60 cm) und ist eine von drei Farbvarianten. Sein Motiv geht zurück auf Ai Weiweis Fotoreihe Study Of Perspective die aus subjektiver Sicht seinen ausgestreckten Arm mit erhobenem Mittelfinger vor verschiedenen Hintergründen zeigt. Etwa dem Tor zur Verbotenen Stadt in Peking, dem Weißen Haus oder dem Reichstag in Berlin. Die Bilder werden wegen Ai Weiweis Bestrebungen nach Meinungsfreiheit meist politisch gedeutet. Die provokative Geste soll das vermeintlich über einem Stehende relativieren.

Aufgegriffen wird das gerade von einem Kunstprojekt der Gesellschaft Avant Arte: Auf der Webseite dazu kann der Besucher Ai Weiweis Finger digital vor eigene Locations setzen.

Von diesem Grundgedanken abgeleitet nun eine Grafik, die vielfach wiederholt den „Stinkefinger“ alleine oder mit einem Arm und angedeutetem Oberkörper dran zeigt. Die eher übersichtliche Zahl an Einzelelementen wird so wiederholt und teilweise auch gespiegelt angeordnet, dass eine verschlungene Rundgrafik entsteht. Man kann sie als verworren auffassen oder als eine Art Mandala.

Bei Gabriels Liveshows wird diese Illustration auch animiert auf den Screens gezeigt.

Auffällig ist noch, dass für die Verwendung als Songcover diesmal kein i/o Logo eingefügt worden ist. Hätte auch unschön in das Bildmotiv reingeragt.

Dieses Motiv gibt es in drei Ausführungen – wobei die in Rot und Schwarz als Kunstdrucke (60 x 60 cm) käuflich zu erwerben sind. Die Version in Pink scheint exklusiv zu sein.

Die Verbindung

Wenn sich Ai Weiweis Finger gegen das Autoritäre richtet, gegen das Übermächtige, dann ist es – so Gabriel in Bezug auf sein Stück – der Tod, dem der aus dem Koma erwachende den Stinkefinger zeigt. In dieser Hinsicht nutzt er das Motiv.

Ai Weiwei sagt im Video zum Song zu seiner Kooperation mit Gabriel allgemein, dass „Kunst und Musik dasselbe sind – man kann die menschlichen Ausdrucksformen nicht wirklich voneinander trennen als verschiedene Fahrzeuge oder Medien; es ist dasselbe.“

Eine bemerkenswertes, wenn auch wahrscheinlich nur zufälliges Zusammentreffen ist, dass Ai Weiwei und Olafur Eliasson – der Künstler zum April-Track – ein Projekt zusammen gestaltet haben namens Moon. Es bot Menschen auf der ganzen Welt die Möglichkeit, sich online über eine kollaborative Zeichenplattform zu verbinden. Internationale Grenzen wurden für kreativen Ausdruck und Interaktion überschritten.


Veröffentlichung #7 vom 3.7.2023: So Much

Der Track

Es geht in So Much über „so viele“ Dinge, die man im Leben erreichen möchte, für die aber auch nur „so viel“ Lebensmenge zu Verfügung steht. Es ist ein Lied über das Altern, über Entscheidungen und über die Grenzen der Möglichkeiten. In gewisser Weise geht es auch um Unendlichkeit und Limits.

Musikalisch ist das Stück unaufgeregt, mit Nachdenklichkeit versehen, recht gleichverlaufend und bekommt gelegentlich auch eine fast sakrale Wirkung.

Der Künstler

Mit dem Jahrgang 1982 wird Henry Hudson der zweitjüngste Künstler im i/o-Reigen sein. Geboren wurde er bemerkenswerterweise in Bath. Gabriel und er kannten sich aber nicht und begegneten sich erst vor kurzem. Aufgewachsen ist Hudson in Yorkshire und machte später Abschlüsse in Kunst und Design in London.

Er schafft Gemälde, Skulpturen, Radierungen und Performance-Arbeiten. Er befasst sich mit Vorstellungen von Britisch-sein, persifliert gesellschaftliche Stereotypen und die Vulgarität, die aus Reichtum, Ruhm und Konsumkultur entstehen können.

2015 hatte er eine erfolgreiche Ausstellung in London mit Gemälden, die eine moderne Adaption einer Bildreihe aus dem 18. Jahrhundert darstellten, in der die moralischen Verfehlungen eines englischen Jungreichen dargestellt werden. Seine Bilder sind dabei grell, detailreich, grotesk, durchaus surrealistisch.

Bekannt ist Hudson auch für seine Verwendung von Knetmasse auf den Bildern. Mit ihr gibt er ihnen eine gestaltliche Oberfläche, die über übliches Pastos durch dicken Farbauftrag hinausgeht. Dazu sagt er: „Es gibt Dinge, die man mit Knetmasse machen kann, die mit Farbe nicht gehen würden.“

Das Kunstwerk

Das Bild zum Juli-Track trägt den Titel Somewhere over Mercia (Pigment, Vaseline, Kalziumsalze, Kreide mit Trockenpigment in Polyvinylacetat auf Aluminiumplatte, 140 x 100 cm) und gehört zu Hudsons Serie Horizon Line, die nicht zum ersten Mal in der i/o-Sammlung recht anders ist, als die vorherigen Arbeiten des Künstlers. Die Bilder zeigen stets Flächen in jeweils anderen Farbschattierungen, die eine (meist) waagerecht liegende Linie durchläuft. Sie sind reduziert und nicht gegenständlich.

Der Beginn dieser Serie liegt in der Zeit des Covid-Lockdowns, als Hudson in einem Linienflieger saß und dabei quasi alleine in der großen Kabine war. Diese ungewöhnlichen Situation öffnete ihm eine besonders Wahrnehmung und während er aus dem Fenster heraus auf die Erde herabschaute, verschwanden für ihn draußen Identität und Individualität. Was blieb, waren der Sinn für Weite und die übergeordneten Dinge.

Die Serie versteht Hudson als Landschaftsbilder aus großer Entfernung. Die Titel der einzelnen Arbeiten beziehen sich immer auf einen bestimmten Landstrich der Welt. „Mercia“ ist hier eine altertümliche Bezeichnung einer Region in Mittelengland (der Name geht auf ein altes Königreich zurück), in der sowohl Hudson als auch Gabriel geboren wurden.

Auch Somewhere over Mercia hat eine Schicht Knetmasse, auf die hier blaue Farbpigmente aufgetragen wurden. Man kann die unebene Gestaltung bei höherauflösenden Ansichten der Grafik erkennen. Die „Horizontlinie“ ist dabei in die Knetmasse geschnitten und zeigt die darunterliegenden gelben und roten Schichten, die erst so wieder hervortreten.

Die Verbindung

Das Lied blickt aufs Leben und versucht das zu ordnen, was einem wirklich wichtig ist. Es versucht den großen, ganzen Zusammenhang auszumachen.

„Es ist sehr schwer, etwas zu beurteilen, wenn es so nah ist“, erklärt Hudson. „Man braucht eine Perspektive. Man braucht eine Horizontlinie.“ Und: „Die Beziehung zwischen dem Lied und meinen Horizonten ist ziemlich ergreifend. […] Es geht um Orte, die näher oder weiter weg scheinen können.“

Gabriel ergänzt, dass der Horizont den Beginn der Unendlichkeit anzeigt – und zugleich ein Limit.


Veröffentlichung #8 vom 1.8.2023: Olive Tree

Der Track

Von einer Reise in der Welt der Gedanken erzählt Olive Tree. In die Welt der Natur, der Pflanzen, des Wassers, des Lebens. Bald wird es möglich sein, so Gabriel, Hirnströme mit Hilfe eines Elektrodenhelms in Videobilder zu wandeln. Und vielleicht auch andere, nichtmenschliche Lebensformen zu verstehen, Verbindung mit ihnen zu finden.

Das Stück folgt einem, der hineinsteigt in eine andere Welt und sie in ihrer ganzen Vitalität erlebt.

Der Künstler

Barthélémy Toguo, geboren 1967 in M’Balmayo in Kamerun, ist Maler und Installationskünstler. In den 90ern studierte er nacheinander in Abidjan (Elfenbeinküste), Grenoble und Düsseldorf.

Seine Themen sind Migration und Exil, Umweltgefährdung und Epidemien – jedoch keineswegs düster und anklagend, sondern einladend oder sogar humorvoll. Dabei arbeitet er mit einer Vielzahl von Medien wie Malerei, Fotografie, Druck, Bildhauerei, Film und Perfomance.

Toguo sagt: „Männer oder Frauen sind immer potenzielle Exilanten, getrieben von dem Drang zu reisen, was sie zu ‚vertriebenen Wesen‘ macht“.

In Transit (1996) gab Toguo eine Reihe von Performances auf Flughäfen und Bahnhöfen, bei denen er die Sicherheitskontrollen dadurch irritierte, dass er aus Holz geschnitzte Taschen trug.

Die Installation The Road to Exile (2008) thematisiert die Migrations- und Flüchtlingskrise, insbesondere das Flüchten junger Afrikaner mit Hoffnung auf ein besseres Leben. Zu sehen ist eine kleine Holzbarke, turmhoch mit dicken Bündeln beladen, bunten Stoffballen. Die Fahrt wird zu einer fragilen, gefährlichen Angelegenheit.

In seinem Geburtsland hat Toguo außerdem die Bandjoun Station hergerichtet – einen alten Bahnhof, der jetzt Künstlerresidenz und Begegnungsstätte ist, Bibliothek und Biofarm.

Schließlich hat er auch eine Reihe großformatiger Gemälde aus Tinte auf Leinwand geschaffen. Sie zeigen in kräftigem Blau Pflanzen und Ranken, dazwischen menschenähnliche Gestalten mit Tierformen. Die Bilder wirken urtypisch und archaisch, wie alte Petroglyphen auf Felsen, aber auch verspielt, symbolisch und surreal.

Barthélémy Toguo gilt als einer der herausragenden Künstler der afrikanischen Kunstszene. Er war 2015 Artist in Residence bei WOMAD, wurde 2021 zum UNESCO-Künstler für den Frieden ernannt, lebt und arbeitet sowohl in Frankreich als Kamerun.

Das Kunstwerk

Bei Chroniques Avec La Nature handelt es sich um eine großformatige Tintenzeichnung, aquarellig verlaufen, in mattem Grün und Blau (114 x 114 cm). Zu sehen ist eine auf dem Rücken liegende, menschliche Gestalt, deren Arme und Beine sich in Baumstrukturen, Stämme und Zweige verlängern. Darunter ein Fisch, dessen Flossen ungewöhnlich struppig wirken – wie Fell. Grätenstrukturen sind auch zu sehen. Es dürfte hier trotzdem nicht gemeint sein, dass der Fisch tot ist.

Ein Bildhintergrund ist nur durch viele Punkte angedeutet. Im oberen Teil sind sie mehrheitlich im selben Grünton wie die Hauptmotive, im unteren Drittel blau, was möglicherweise Wasser andeutet (in dem der Fisch dann schwimmen würde).

Die Verbindung

Das Bild hat Toguo explizit zum Song angefertigt, was beim i/o Projekt die Ausnahme darstellt. Er wollte aber etwas geben, das direkt auf die Musik eingeht.

Toguos Thema ist reisen, migrieren, Grenzen überschreiten, Grenzen verwischen. Und hier wie im Lied verwischen sich die Grenzen zwischen Mensch und Gewächs, Welt und Wasser.

In Olive Tree hören wir zudem bislang am deutlichsten afrikanische Musikmotivik auf i/o. Für die begleitende Grafik einen Afrikaner zu wählen, ergibt auch auf dieser Ebene Sinn.


Veröffentlichung #9 vom 31.8.2023: Love Can Heal

Der Track

Das Stück hat musikalisch eine meditativ-repetive Struktur und macht im Text die schlichte Aussage: Liebe kann heilen. Ein simpler Gedanke, der Gabriel aber wichtig ist und auch zentrale Themen von i/o aufgreift: Interagieren und Verbundenheit mit allem. Love Can Heal vermittelt Anteilnahme im verlorenen Zustand – und Ermutigung.

Der Künstler

Der Brite Antony Micallef wurde 1975 in Swindon, England geboren und studierte Kunst an der Universität von Plymouth. Im Wesentlichen macht er Ölgemälde, Kohlezeichnungen und Drucke, gelegentlich auch Skulpturen.

Lange Zeit beschäftigte er sich mit den Schattenseiten unserer Konsumgesellschaft, stellte dafür kulturelle Ikonen und Motive mit verschmierten, menschenähnlichen Formen nebeneinander; simple, fast comicartig anmutende Bilder mit Störfaktor.

Außerdem fertigt er schwarzweiße Radierungen mit expressiv-geheimnisvollem Erscheinungsbild an, die dem Dasein des Menschen und seinen Emotionen nachspüren.

Neuerdings macht er Selbstporträts als wilde, rohe Gemälde mit enorm dickem Farbauftragung. Radikale Darstellungen eines Empfindens.

Bekannt wurde auch sein Projekt Trump Fag Packets von 2016, bei dem er das Gesicht von Donald Trump auf Marlboro-Zigarettenschachteln malte. Gelegentlich steht es dabei dann über den Warnaufschriften, wie etwa „seriously harms you and others around you“.

Micallef gilt als moderner Expressionist und ist bekannt für seine „visuell aufgeladenen Figurenbilder“ und eine politische Bildsprache, die er selbst als „kritischen Pop“ bezeichnet. Seine Bilder haben in ihrer Wucht aber auch viel Verstörendes an sich. Weltweit hat er damit Anerkennung gefunden und bereits in der Royal Academy, der National Portait Gallery und der Tate Britain ausstellen können.

Seine Webseite gibt einen Eindruck seines vielfältigen Schaffens.

Das Kunstwerk

Das Bild zum Track ist recht klein, heißt auch A Small Painting Of What I Think Love Is (2010, Öl auf Karton, 21 x 41 cm) und zeigt zwei sich innig umschlungen haltende Menschengestalten in Schwarzweiß. Sie sind nur grob angedeutet, aber doch klar in der Erscheinung und stark im Ausdruck.

Es dürfte durchaus bemerkenswert sein, dass ein Künstler, dessen Arbeit vor allem für Wucht und Drastik steht, in der Lage ist, etwas so innigliches zu schaffen.

Micallef hat das Bild offenbar recht schnell gemalt, in einem glücklichen Schwung, bei dem es „von selbst zu entstehen schien“.

Das Motiv ist auch bei den Live-Performances während der i/o Tourverwendet worden, wozu gemeinsam mit den Aardman Studios Animationen geschaffen wurden, die jetzt auch als eigenständiges Video veröffentlicht worden sind (siehe unten).

Die Verbindung

Es dürfte nicht schwierig sein, eine Nähe zu erkennen zwischen den beiden sich innig umarmt haltenden Gestalten auf dem Bild und dem beruhigend umfangenden Song mit seiner Aussage.

Micallef hatte diese Arbeit für Love Can Heal ausgewählt, weil er fand, dass sich beide perfekt verbinden: „Ich habe mir ein paar der Songs angehört und es ist interessant, denn es ist wie Kleidung anziehen und sagen: ‚Oh, das passt mir‘ oder ‚das passt mir nicht‘. Bei Love Can Heal konnte ich meine Bilder aufsteigen sehen, als ich es hörte, also beginnt man, sich einzulassen, und damit fängt es an.“

Das Video

Love Can Heal ist der erste Song von i/o, zu dem originär ein Videoclip angefertigt wurde (der sich also nicht in den Einreichungen zu einem Wettbewerb gefunden hat).

Als zentrales Motiv wurde das Gemälde von Micallef genommen und von den Aardman-Studios belebt (mit denen Gabriel ja schon öfters zusammengearbeitet hat). Micallef war in den ganzen Prozess eingebunden.

Auf eine leere Fläche tropft Farbe. Schwarze und weiße Schichten bewegen und verschieben sich in pulsierender Animation. Die beiden sich umschlungen haltenden Gestalten bilden sich daraus. Später weitet sich das Schwarz aus, als ob in eine tieferliegende Schicht eingetaucht wird. Dort erscheint das Paar in näherer Ansicht, wirkt dreidimensionaler. Die Kontrollelemente der digitalen 3D-Models zeigen sich, die Gitterstrukturen. Es werden die Mühen sichtbar, dass sich die beiden Gestalten umschlungen halten können.

Zur Bridge mit dem visionierenden Text erscheint die Darstellung eines schlagenden Herzens.

Zurück geht es danach zu den Gestalten. Aus der tieferen, schwarzen Ebene wird wieder ausgestiegen, bis es mit der leeren Anfangsfläche endet.

Das Video strahlt Ruhe und Bedächtigkeit aus – arbeitet mit wenigen bildlichen Motiven. Es ist dabei aber nur scheinbar einfach.

Im Übrigen erinnert es an den Clip zu Zaar, der ebenfalls mit in Bewegung geratender Malerei spielt.


Veröffentlichung #10 vom 29.9.2023: This Is Home

Der Track

In This Is Home wird keine große Geschichte erzählt, die sich entwickelt. Es wird mehr tiefes Glück ausgebreitet und innere Zufriedenheit, die an einem geliebten Ort mit einem geliebten Menschen erlebt wird. Auch wenn Beschwernisse nicht ausgeblendet werden: Das Stück ist in Text als auch Musik geprägt von Gelassenheit.

Der Künstler

David Moreno wurde 1978 in Barcelona geboren und studierte Architektur. Nach Ende seine Ausbildung widmete er sich bald künstlerischer Arbeit und stellt seit 2006 weltweit in Galerien und Museen aus, etwa in Paris, Brüssel, Istanbul oder London. Er lebt und arbeitet in Rotterdam und Barcelona.

Verwirrenderweise findet man im Netz auch die Webseite eines malenden Künstlers gleichen Namens aus New York – das ist aber wer anders.

Unser Moreno arbeitet mit Holz, Kunststoff, Stahl – und Klaviersaiten. Daraus schafft er insbesondere Objekte, die wie Skizzen eines Architekten aussehen, in denen Gebäude oder Häusergruppen flüchtig hingezeichnet wurden, nun aber als metallene Skulpturen aus den Wänden hervortreten und sich in den Raum hinein erweitern. Es sind Gitterstrukturen, die an schraffierte Zeichenflächen erinnern, und nur das nötigste umreißen. Merkwürdig schwerelos wirkt das, merkwürdig flüchtig. Und hat zugleich etwas seltsam Anheimelndes – etwas Vertrautes.

Manche dieser Gebäude haben auch weite Bogenschwünge, die von einem Ende weg und woanders wieder zu ihm hinführen. Sie können vieles bedeuten – tosender Anprall, Kontaktsuch, Selbstinitiierung.

Gelegentlich baut Moreno auch nur Teile von Gebäuden – besonders Eingänge und Treppen, die nirgendwo hinführen. Zusammenhänge muss man auch hier selbst ergänzen.

Für eine Ausstellung in den Arabischen Emiraten entwickelte Moreno ein Objekt namens Connecting Doors (2017): Ein raumgroßer, torartiger Durchgang in Morenos Gitterausführung, der auf einer Seite das Aussehen eines mittelalterlichen Portals hat, auf der anderen Seite orientalische Formen. Dieser Durchgang schafft buchstäblich eine Verbindung zwischen zwei Kulturen.

Morenos Kunst ist zum einen von dekorativer Schönheit, irritiert aber auch, wirft Fragen auf, erklärt nicht alles zu Ende.

Das Kunstwerk

Interessanterweise war ursprünglich This Is Home eine andere Skulptur von Moreno beigefügt worden, die er eigens angefertigt hatte. Im i/oTourbook ist sie auch abgebildet. Sie heißt La Vie En Rose und zeigt ein Haus mit bogenförmigen Verbindungen vom Eingang zum Dach. Gabriel fand aber, als er nochmal durch das Werk von Moreno schaute, dass das jetzige Objekt mit zwei Türen und einer Treppe zwischen ihnen viel besser zu einem Stück passe, in dem es um Beziehungen geht.

Die jetzige Skulptur trägt den Titel Conexión De Catedral II (Deutsch: Kathedralenverbindung II) und wurde gefertigt aus Stahldraht mit Silberschweißung in Gold-Lackierung (90 x 20 x 90 cm). Sie zeigt zwei Tore mit Leibungen im Stil mittelalterlicher Kirchenportale. Von ihnen führt jeweils eine Treppe hinab zu einem Absatz, biegt dort ab, bis sich beide am tiefsten Punkt in einem weiteren Absatz treffen. Das Ganze ist ausgeführt in Morenos typischem Stil seiner Gitterstrukturen.

Von dieser Grundkonzeption gibt es mehrere Variationen (daher auch die Zwei im Werktitel). Eine von ihnen weist statt Portale im Kirchenstil orientalische Durchgänge auf. Ein Motiv, das Moreno öfter benutzt.

Die Verbindung

Auch wenn das Stück This Is Home heißt, ist hier kein komplettes Haus zu sehen (anders als im ursprünglichen Objekt) – es ist nur ein wichtiger Teil umrissen: Eingänge.

Bezüge zu einem Lied um Beziehungen können sich trotzdem erzählen.

Die Portale befinden sich auf verschiedenen Ebenen, eins steht höher als das andere. Vielleicht gehören sie trotzdem zum selben Gebäude. Vielleicht ist ein Unterschied zwischen ihnen nur scheinbar vorhanden. Die verbindenden Treppen laufen über mehrere Absätze, sind vielleicht beschwerlich – aber eine Verbindung schaffen sie.

Man kann die Skulptur aber auch einfach nur hübsch finden.

Dieses Kunstwerk ist übrigens eins von dreien, die bei den Visualisierungen der i/o Tour nicht benutzt wurden. Für This Is Home galt das zumindest im ersten Tourabschnitt durch Europa. In Amerika wurde das Motiv (ebenso wie das ursprünglich ausgesuchte Haus) in die Projektionen doch noch eingebunden.

Hinweisen kann das darauf, dass ein Kunstwerk, das This Is Home beigestellt wird, erst spät gefunden wurde.


Veröffentlichung #11 vom 28.10.2023: And Still

Der Track

And Still ist ein Lied für Gabriels verstorbene Mutter. Vermittelt alleine sein mit den Gedanken, den Erinnerungen an vergangene Berührungen, an das Wohnhaus der Kindheit. Und da ist die Feststellung, die Mutter in sich zu tragen und mitzunehmen, wohin man auch gehen wird. Wehmut und Verlust drücken sich aus – dabei aber auch immer tiefe Liebe und Dankbarkeit.

Musikalisch bleibt das Stück gleichförmig, hat aber eine unterschwellige Spannung. Es teilt sich in mehrere Abschnitte, die im Ganzen auch eine kleine Entwicklung beschreiben.

Die Künstlerin

Die vorletzte in der Runde für die i/oSammlung heißt Megan Rooney. Mit dem Geburtsjahr 1985 ist sie außerdem die jüngste.

Zur Welt kam sie in Südafrika, wuchs später in Rio de Janeiro auf, ist aber eigentlich Kanadierin. Sie studierte Kunst in Toronto sowie später in London und arbeitet (wie viele der i/o-Künstler*innen) in verschiedenen Disziplinen: Neben Malerei auch in den Bereichen Bildhauerei, Installation, Performance – und Poesie.

Megan Rooneys Arbeiten sind international zu sehen, etwa in Toronto, London, Paris, Warschau und Düsseldorf. Auf der 57. Venedig Biennale performte sie 2017 im Rahmenprogramm des Schweizer Pavillons. Für den Salzburger Kunstverein gestaltete sie 2020 die Wände des großen Saals sowie der Ringgalerie. Sie lebt und arbeitet in London.

Ihre Bilder haben vornehmlich das recht große Format 200 x 152 cm. Das entspricht der Armspanne der meisten Frauen. Darauf malt sie hauptsächlich abstrakte Farblandschaften, in die man aber Gegenständliches hineinlesen oder herauserkennen kann. Tatsächlich stecken für sie Geschichten und Erlebnisse darin – politische, aber auch ganz alltägliche – die sie beim Malen in raschen, kraftvollen Entladungen umsetzt.

Roonys Interesse geht stark auf Farben und was sie beim Betrachten auslösen. Sie sagt dazu: „Ich denke, meine Farbsensibilität kommt von einer nordamerikanischen Erziehung. Ich meine, ich wurde ursprünglich in Südafrika geboren und zog dann mit meiner Familie nach Südamerika, nach Rio de Janeiro, und bin danach in den Vororten von Toronto aufgewachsen (…). Und diese Art von Pastell, Beige- und Brauntöne und helle, sanfte Farben waren da überall, und das hat beeinflusst, wie ich begann, über Farben zu denken.“

Besonders für ihre Arbeit ist schließlich auch, dass sie die Schichten aufgetragener Farbe mehrfach abschleift und neu aufträgt, wie ein Blick unter die Oberfläche und zurück in die Zeit. Weil nichts für immer bleibt oder ist.

Das Kunstwerk

Die Geschichte zum Gemälde, das den Song begleitet, ist ein wenig besonders. Man kann es im Internet finden unter dem Titel Dividing The Light (Rumblings).

Tatsächlich hat Gabriel Megan Rooney als erste für das i/o Kunstprojekt angesprochen. Gemeinsam suchten sie zunächst dieses Bild aus, Rooney wollte aber extra etwas mit Bezug zum Musikstück schaffen und begann, ein neues Werk zu malen. Sie brauchte aber irgendwann dafür zu lange und kam nicht mehr weiter (Gabriel zeigt dafür Verständnis) und gemeinsam entschieden sie, doch das bereits gewählte Bild zu verwenden.

Im i/o-Tourbook ist etwas missverständlich dargestellt, als wäre es das Bild, das auf die Musik hin gemalt worden sei. Das stimmt aber wohl nicht.

Der Titel wurde wie es scheint dann auch nochmal geändert und jetzt heißt es And Still (Time) (2022, Acrylfarbe, Pastell- und Ölkreide auf Leinwand, 200 x 152 cm). Es ist in Rooneys üblichem Format gemalt und zeigt eine abstrakte Komposition in vornehmlich Blau- und Gelbtönen.

Die Verbindung

Was man in der Farblandschaft sehen möchte, bleibt dem Betrachter überlassen. Vielfältige Assoziationen sind möglich, wenn man sich einlässt. Ist da Wasser? Ein Teich auf dem Land wie bei den Gabriels? Oder doch mehr Himmel, dunkle Wolken und Licht? Ein schwarzer Abgrund, der langsam wieder zuläuft?

Das Lied geht in eine Rückbesinnung, geht in Erinnerungen bis in die Wahrnehmungen der Anfänge eines Lebens. Die Tatsache, dass Rooney Teile ihrer Bilder immer wieder abschleift, geht an die Anfänge des Bildes zurück. Das auf diese Weise offenbar kein definiertes Ende hat. Aber immer eine Vergangenheit.

Interessant ist, dass für die Bühnenprojektionen bei der i/o-Tour nur sehr kleine Bereiche des Gemäldes groß auf die Screens hochgezogen wurden.


Veröffentlichung #12 vom 27.11.2023: Live And Let Live

Der Track

In Live And Let Live geht es ums Vergeben. Gabriel sagt, Frieden entsteht nur, wenn man die Menschlichkeit des anderen respektiert. Wenn man fortgesetzt an Rache und Heimzahlung denkt, wird man zu denen gehören, die verletzt wurden und verletzt bleiben – und Vergebung ist ein effektiver Weg, sich davon zu befreien.

Finstere Empfindungen wie Hass und Zorn löst das Stück auf, Vorverurteilung beantwortet es mit Umarmung.

Der Künstler

Mit Nick Cave ist nicht der Musiker gleichen Namens gemeint. Unser Cave wurde 1958 in den USA geboren (in Fulton, Missouri) und war ursprünglich Tänzer. Dann studierte er Bildende Kunst und arbeitete zunehmend in diesem Bereich – hielt aber auch Kontakt zu Bewegungstheater und Performance.

Caves Arbeiten sind überwiegend Mixed-Media-Skulpturen und großformatige Installationen, für die er gefundene Objekte und bunte Stoffe verwendet. Oft enthalten sie Teile schwarzer Puppen oder Schaufensterfiguren und erwecken einen altarähnlichen Anschein. Inhaltlich setzen sie sich mit rassistischen Spannungen auseinandersetzt, insbesondere mit Waffengewalt und deren Auswirkungen auf farbige Menschen.

Eines dieser Werke ist TM 13, eine Skulptur, die auf den Tod von Trayvon Martin (daher der Titel) im Jahr 2012 reagiert. Martin wurde von einem Nachbarschaftswachmann aus fragwürdigen Gründen erschossen, der dafür freigesprochen wurde. Caves Skulptur besteht aus Kapuzenpullover, Jeanshose, Turnschuhen und einer schwarze Schaufensterpuppe. Sie sind auffällig in ein Netz gehüllt, das „eine Art Soundsuit für den Geist von Trayvon Martin darstellt […] um gegen sein unverdientes Ableben zu protestieren“.

Werke von Nick Cave wurden vorwiegend in den USA ausgestellt, unter anderem im Guggenheim Museum, New York.

Cave unterrichtet zudem an der School of the Art Institute of Chicago.

Das Kunstwerk

Es ist – ja, was? Ein Narrenkostüm? Eine Ein-Mann-Band? Ein explodierter Spielzeugladen? – Egal: Lebe und lass leben!

Es heißt Soundsuit und ist Teil einer inzwischen enormen Reihe dieser Kunstobjekte, die Nick Cave hergestellt hat („mindestens 500“). Sie haben keine individuellen Namen, werden von Cave nicht vorab entworfen, sondern entstehen, während der Arbeit daran.

Cave ist im Wesentlichen für diese Soundsuits bekannt, die so heißen („Klanganzug“), weil sie bei Bewegung Geräusche machen. Es gibt sie in etlichen Grundformen, die recht unterschiedlich sind, die Ausführungen dieser Grundformen ähneln sich, sind aber jede ein Unikat. Sie können als Kunstobjekt in Ausstellungen stehen, sollen tatsächlich aber auch getragen und performativ genutzt werden.

Ihren Ursprung hatten die Soundsuits in den frühen 90ern, in der Zeit der Unruhen nach dem Mord an Rodney King durch Polizisten. Farbige wurden (und werden) in den USA gerne generalverdächtigt – Cave wollte dem etwas entgegensetzen, das jeden Rückschluss auf den Träger verhüllt, gleichzeitig eine entwaffnende Art Panzer schafft.

Unser Soundsuit ist von 2008 und besteht aus dick gestrickten Wollstoffen in lebendigen Mustern, die bewusst grob miteinander vernäht sind und fast den gesamten Körper des Trägers bedecken. Aus der oberen Hälfte ragen viele Stäbe heraus an deren Enden Rasseln, Brummkreisel, Klapperteller und anders buntes Spielzeug befestigt ist. Schon der Anblick lässt ahnen, dass man sich in diesem Anzug nicht geräuschlos bewegen kann.

Die von Gabriel genutzte Fotografie kann man übrigens als Kunstdruck erwerben. Und es wurde mindestens noch eine zweite Aufnahme der Session veröffentlicht. Darauf ist der Suit-Träger mit hoch aufgerichtetem Körper eher nach hinten geneigt.

Die Verbindung

Die Soundsuits verbergen Rasse, Geschlecht, Herkunft des Trägers und nehmen so alle Möglichkeiten der Vorverurteilung. Es zählt nur, sich offen zu begegnen. Es ist derselbe Respekt, der auch inspirierend für Live And Let Live war.

Zusätzlich verbreiten die Soundsuits eine vitale, optimistische Stimmung – die auch Gabriels Song unbestreitbar hat.

Dieses Kunstwerk war übrigens eins der wenigen, die bei der Gestaltung der Screenprojektionen der i/o-Tour nicht verwendet wurden.


All the information flowing…

Zum Abschluss ein paar Daten zu den Kunstwerken für i/o

Sie sind entstanden zwischen 2008 und 2023.
Beteiligt sind 3 Künstlerinnen und 9 Künstler.
Diese waren 2023 zwischen 38 und 80 Jahre alt (Geboren 1943 bis 1985).
7 kommen aus Europa (davon 4 aus Großbritannien)
3 aus Nordamerika (einer aus den USA)
einer aus Afrika
einer aus Asien

Alle Kunstwerke wurden in die Screenprojektionen der i/o-Tour 2023 einbezogen, nur nicht die für i/o und Live And Let Live. Das für This Is Home wurde erst beim Nordamerika-Leg verwendet.

Ebenfalls drei Kunstwerke erhielten im Zuge der Album-Veröffentlichung kleine Änderungen in ihrer Präsentation: Für The Court wurde ein anderes Foto der Ritualzeremonie gewählt. Auf ihm ist die Verbrennung leicht fortgeschrittener. Das Gemälde zu i/o erhielt einen schwarzen, statt weißen Hintergrund. Und schließlich wurde das Motiv für Four Kinds Of Horses um 90 Grad nach links gedreht – außerdem erscheint es in der Grundfärbung weniger beige, mehr grau. Alle diese Änderungen waren so auch schon im Tourbook zu sehen.


Autor: Thomas Schrage