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Peter Gabriel – Growing Up Live – DVD Rezension
Peter Gabriels spektakuläre Growing Up Tour gibt es nun auf DVD zu kaufen. An zwei Abenden in Mailand wurde Growing Up Live aufgenommen. Ob die DVD das Live-Erlebnis eingefangen hat, erfahrt ihr hier.
Es war schon lange klar, aber trotzdem konnte es keiner abwarten. Die Veröffentlichung der Konzert-DVD von Peter Gabriels GROWING UP Tour gilt als eines der potentiellen Highlights in diesem Jahr. Im November ist es dann endlich soweit. Die vielleicht spektakulärste Hallenshow aller Zeiten ist auf DVD verewigt und für jedermann zu haben.
Kann die Veröffentlichung ihren Erwartungen überhaupt gerecht werden?
Growing Up ist ein visuelles Ereignis. Die Show wurde bis ins letzte Detail durchgeplant und ließ wenig Raum für Spontanes. Hin und wieder aber konnte Peter die „Wiederholungstäter“ dennoch überraschen. Natürlich ist auf einer Konzert-DVD, die auf 2 Konzerten in Mailand beruht, kein Platz für Anekdoten. Oder doch?
Die beiden Mailand-Shows wurden, wie schon 1993/1994, für die Film- und Audioaufnahmen ausgewählt, um diese Aufnahmen später für Veröffentlichungen zu verwenden. Nach dem Erscheinen der Nordamerika-Konzerte als offizielle Kauf-CDs bot es sich natürlich an, die Growing Up-Tour auf DVD zu veröffentlichen. Dazu kommt, dass die Ära des ordinären Live-Albums wohl vorbei ist. Nicht nur Peter Gabriels Secret World Livetummelte sich nach DVD-Veröffentlichung plötzlich wieder in den Top 100. DVDs nehmen eine immer größere Stellung auch in den Albumcharts ein.
Für Peter Gabriel ist das kein Grund, etwas Halbgares zu produzieren. Gerade aber wegen seines Perfektionismus ist es geradezu erstaunlich, dass die DVD nicht mal ein halbes Jahr nach der Tour in den Läden steht.
Das Äußerliche
Growing Up Live sieht verdammt gut aus. Ein schöner Digipak im Slipcase, alles im bekannten Design, das uns während der Tour begleitete und auch auf den CDs der Encore Series zu finden ist. Anders als bei vergleichenden DVD-Veröffentlichungen liegt diese DVD als Einzel-DVD vor. Auch das war schon lange geplant und führte zu der Befürchtung, Gabriel würde gleich mehrere Songs weglassen, wie das schon bei Secret World Live passierte, allerdings aus anderen Gründen.
Das Bild
Gefilmt wurde im 16:9 Format. Dies ist längst Standard geworden und die meisten von uns haben einen 16:9 Fernseher zu Hause oder spielen mit dem Gedanken, sich einen anzuschaffen. Anders als bei der Secret World Live DVD ist das Bild gestochen scharf – hier konnte man die DVD Ansprüche aber natürlich auch frühzeitig einplanen. Bei manchen Songs ist das Bild künstlerisch verfremdet, zu Unterbrechungen zwischen den Songs kommt es aber nicht. Alles wirkt sehr flüssig. Die Kameraeinstellungen variieren sehr stark und bieten einen gelungenen Mix aus Totalperspektiven, Nahaufnahmen und aus Perspektiven, wie das Publikum die Show gesehen hat.
Der Sound
Gabriel kleckert nicht, er klotzt. Die DVD ist – natürlich – ausgestattet mit dem mittlerweile überholten Dolby Digital 2.0 Stereo, dem Dolby Digital 5.1 Surround Sound sowie dem neueren, aber auch schon breit verwendeten dts Sound (Digital Theatre System). Der Sound hält, was er verspricht. Glasklar, einnehmend, raumfüllend, klasse!
Die Extras
Neben den Credits, denen ein Remix von Growing Up unterlegt ist, finden wir auf der DVD eine kurze Dokumentation zur Tour (etwa 9 Minuten) und eine Diashow mit den Bildern von Tony Levin, diesmal mit einem etwas anderen Elbow-Remix von More Than This. Die Bilder sind nicht einzeln abrufbar, sondern laufen als Videosequenz.
Die Tour-Dokumentation ist eine andere als auf der Secret World Live DVD. Es gibt aktuelle Interviewaufnahmen von Peter, in denen er von den Vorbereitungen und den Erfahrungen bei den Showeinlagen der Growing Up-Tour berichtet.
Der Set des Hauptfilms
Gekürzter Set? Weit gefehlt. Außer No Way Out und Come Talk To Me, die beide einmal während der zwei Abende in Mailand gespielt wurden, beließ es Gabriel beim Originalset der Growing Up-Tour. Was wir bekommen ist also ein ganzes Konzert mit dem Set, der auch bei den meisten deutschen Konzerten normal war – mit Ausnahme der deutschen Darbietung von Jetzt Kommt Die Flut, das natürlich in Mailand Here Comes The Flood war. Die Ansagen sind dankenswerterweise alle auf Englisch, nur sporadisch streut er etwas italienisch ein. Allerdings sind nicht alle Ansagen vorhanden. Die Begrüßung vor Red Rain fehlt genauso wie die politische Ansage vor Signal To Noise. Stellenweise sind die Ansagen nachbearbeitet. Dazu später mehr.
Das Konzert
Wer dabei gewesen ist und die Show mehr als ein Mal gesehen hat, der weiß, was es alles zu sehen gibt und was man beim ersten Mal übersehen hat oder was einem erst beim dritten Mal aufgefallen ist. Auch die DVD kann diesen Umstand nicht zunichte machen. Schließlich ist die Growing Up-Tour Reizüberflutung pur und am besten dazu geeignet, einfach aufzuspringen und zu genießen.
Die DVD aber bietet einen anderen Ansatz, indem sie Teil der Show wird und nicht einfach nur dokumentiert. Natürlich gibt es unzählige verschiedene Kameraperspektiven – doch das ist bei weitem nicht genug. Bei Sledgehammer beispielsweise wird das Bild farblich und mit überzogenem Kontrast verfälscht, bei The Barry Williams Show sind die Effekte so deutlich, dass ein „Do Not Adjust Your Set“ eingeblendet wird. Der Fernsehschirm wird nicht nur zur Kamera von Peter, sondern wir sehen regelmäßig ein Testbild, starke Verzerrungen oder den neunfachen Peter. Alles in allem wirkt das wie eine Reise ins Innere der DVD oder ins Innere der Produktion der Show – hier wurden die Grenzen der Tourdokumentation klar überschritten. Das ist natürlich gewollt, aber vermutlich auch nicht jedermanns Sache. Immer wieder gibt es Sequenzen, in denen das Bild geteilt wird und man sieht eine Bühnentotale und die Orange Men, wie sie fleißig den nächsten Song vorbereiten. Mal wird von oben gefilmt, mal vom Publikum aus, mal von unten und von der Seite. Nur selten kommt die Kamera zum Einsatz, mit der Peter am Keyboard während der Show auf die Leinwände projeziert wurde. Immer wieder wird das Bild verlangsamt, bevor man zur nächsten Einstellung übergeht.
Bei Digging In The Dirtgibt es – quasi im Rhythmus – Sprünge im Bild, etwa ruckartiges heranzoomen oder übergangsloses Verstellen der Perspektive. Teilweise sind diese Effekte äußerst interessant und wirken in den 134 Minuten Konzert belebend. Bei Downside-Up werden Peter und Melanie sehr oft falsch herum gefilmt, so dass man den Eindruck hat, sie liefen ganz normal und hingen nicht an der Sky-Stage. Hier wäre es wohl besser gewesen, mehr Totalaufnahmen von den hängenden Akteuren zu zeigen. Da tut es auch gut, wenn es mal mit weniger Effekten zugeht, wie bei dem intensive Sky Blue – mit den Blind Boys Of Alabama, die wohl die wenigsten deutschen Fans live gesehen haben. Jetzt sind sie auf DVD verewigt.
Peter ist ja bekannt dafür, seine Ansagen in der jeweiligen Landessprache zu machen. Vom Secret World Live Video kennen wir das, auch dort spricht er italienisch. Somit konnte man erwarten, dass dies auch auf Growing Up Live der Fall ist. Dem ist aber nicht so. Alle Ansagen sind in Englisch, manche fehlen und nur wenig italienische Worte kommen aus den Boxen.
Vermutlich weniger als von Gabriels Lippen. Oft sieht man ihn nicht während der Ansagen und mehr als einmal hat man den Eindruck, dass etwas nachsynchronisiert wurde. Bei der Ansage von Downside-Up fällt das besonders auf. Es kann natürlich sein, dass Peter aufgrund der weltweiten Veröffentlichung englische Ansagen verwenden wollte. Egal, wie es ist, die Ansagen sind alle auf Englisch und somit leicht verständlich. Eine Nachbearbeitung ist allerdings nicht zu übersehen. Bei Sledgehammer fehlt der letzte Part, wenn Peter u.a. mit Rachel Z tanzt. Er wurde einfach herausgeschnitten. Es ist zumindest unwahrscheinlich, dass es so gespielt wurde. Bei Growing Up wurde das Intro stark verkürzt, in dem Peter sich erst in den Ball quält. Wie wir wissen, wurde Growing Up beim zweiten Konzert zwei Mal gespielt, vermutlich waren die ersten beiden Versionen nicht gut genug. Mittlerweile ist bekannt, dass Peter kräftig „Verbesserungen“ vorgenommen hat. Er erklärte sogar, man habe einen Militärhangar gemietet, um für die Nachbesserungen einen authentischen Livesound zu erzeugen.
Immer wieder werden Szenen aus dem Backstage-Bereich (in diesem Fall wohl eher ein „Downstage-Bereich“) eingestreut, und man sieht die Orange Men, wie sie beispielsweise den Ball abpumpen oder die Gitarren putzen. Hierbei wird oft von einem geteilten Bildschirm Gebrauch gemacht, d.h. man sieht oben das Geschehen auf der Bühne und unten das Geschehen unter der Bühne.
Bei der Abmischung des Sounds fällt auf, dass die Stimme deutlich lauter ist, als sie in den Konzerten selber war und die Drums etwas weicher klingen. Die Stimme ist ausnahmslos über den Center-Lautsprecher abgemischt (bei den Surround-Tonspuren natürlich!), was somit zumindest hier eine Nachregulierung am Receiver oder DVD-Player erlaubt. Peter Gabriel experimentiert auch mit den Surroundeffekten bei der Abmischung. Während bei vergleichbaren Produkten die Musik nur aus den drei Frontlautsprechern kommt, ist dies bei Peter nicht immer so. Sledgehammer wird von einem kräftigen Bass aus dem hinteren Lautsprecherpaar getragen, The Barry Williams Show lässt seine Stimme kreisen. Somit wird auf DVD oftmals der Zuschauer zum Mittelpunkt, während es bei der Show die Bühne war.
Das Publikum in Mailand ist – wie nicht anders zu erwarten war – ein ganz besonderes für Peter Gabriel. Schon die Anfänge der gesungenen Bandvorstellung nach Animal Nation beruht auf einer Gruppe Italienern, die in Berlin dabei waren. Mailand feiert Peter Gabriel wie kaum eine andere Stadt. Beim Intro von Sledgehammer wird schon die Melodie skandiert, Peter regelmäßig mit „Peter, Peter“-Rufen gefeiert. Auch wenn man sich für die Aufnahme vielleicht mal ein deutsches Konzert gewünscht hätte – Mailand war sicherlich das richtige Publikum!
Ein kleines Bonbon bietet der Abspann. Dort wird festgehalten, wie Gabriel durch die Innenstadt von Mailand mit seinem Zorbball rollte. Erstaunte Blicke der Passanten inklusive.
Das Fazit
Peter gibt Mogeln offen zu, der Zuschauer ist gefesselt an sein Sofa, der Sound ist brillant, die Effekte gehen weit über das hinaus, was man von einer Live-DVD erwartet. Hat Peter Gabriel den Bogen überspannt? Letztendlich liegt es an jedem selbst, ob dies ein schwerwiegendes Kriterium ist oder nicht. Fakt ist: Growing Up Live ist keine lieblos zusammengestellte Konzert-DVD, sondern eine Art Rundumerlebnis, das sowohl viele Erinnerungen auffrischt, als einem auch eine andere Perspektive auf die Show ermöglicht. Die Bilder sind atemberaubend, das Publikum außer sich vor Begeisterung, der Sound ein wahrer Genuss, die Effekte exzellent in Szene gesetzt. Am Ende ist eines glasklar. Growing Up Livebedeutet vor allem eines: SHOWTIME!
Autor: Christian Gerhardts
09.02.2019: Growing Up Live gibt es nun auch digital als Live-Album bei Amazon und iTunes. Siehe auch: News-Meldung vom 9.2.2019.