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Peter Gabriel – Big Blue Ball – Rezension

Anfang der 90er organisierte Peter Gabriel die RealWorld Recording Weeks. Mehrere Künstler aus aller Welt nahmen im Brainstormverfahren gemeinsam Musik auf. Ergebnis ist Big Blue Ball, das kein Gabriel-Album ist, sondern ein Collaboration-Projekt. Die Fertigstellung dauerte etwa 15 Jahre. Gabriel selbst ist auf vier Songs vertreten.

Big Blue Ball ist das Ergebnis einer mehrjährigen internationalen Projektarbeit, die Gabriel und der walisische Musiker Karl Wallinger (bekannt als Mitglied von World Party und The Waterboys) zusammen ins Leben riefen und verwirklichten. In den Jahren 1991, 1992 und 1995 luden Gabriel und Wallinger Musiker, Dichter und Songwriter aus allen Winkeln der Erde jeweils für eine Woche in die Real World Studios ein. Ziel des Projekts war, dass die Künstler aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammen arbeiten, musizieren, Songs schreiben und aufnehmen konnten, um so ein einzigartiges musikalisches Gesamtwerk zu erschaffen, das die verschiedenen musikalischen Einflüsse zusammenführt und neu kombiniert.

Peter Gabriel: „One week in the middle of summer this craziness exploded in our Real World Studios. We had this week of invited guests, people from all around the world, fed by music and a 24 hour café. It was a giant playpen, a bring your own studio party. There’d be a studio set up on the lawn, in the garage, in someone’s bedroom as well as the seven rooms we had available. We were curators of sorts of all this living mass. We had poets and songwriters there, people would come in and scribble things down, they’d hook up in the café. It was like a dating agency, then they’d disappear in the darkness and make noises – and we’d be there to record it.”

[In einer Woche mitten im Sommer explodierte der Wahnsinn in unseren Real Word Studios. Wir hatten diese Woche mit geladenen Gästen, Leute aus der ganzen Welt, gespeist von Musik und einem 24 Stunden Café. Es war ein gigantischer Laufstall, eine Bring-dein-eigenes-Studio-mit-Party. Studios wurden errichtet auf dem Rasen, in der Garage, in irgendeinem Schlafzimmer und natürlich in den sieben Räumen, die wir in den Real World Studios zur Verfügung hatten. Wir waren wie eine Art Hirte für diesen gesamten lebendigen Haufen. Wir hatten Dichter und Songwriter da, Leute kamen rein und kritzelten irgendwas nieder, sie schlossen sich im Café zusammen. Es war wie eine Partnervermittlungsagentur, dann verschwanden sie in der Dunkelheit und machten Musik – und wir waren dort um sie aufzunehmen.]

Big Blue Ball ReleasesIm Gegensatz zu anderen Alben wie Passion oder OVO, bei denen Gabriel ebenfalls mit einer Vielzahl von Musikern aus aller Herren Länder zusammenarbeitete, ist Gabriel diesmal nur ein Künstler unter vielen. Nur bei 5 der 11 Titel wirkt er als Musiker mit, bei 3 Songs auch als Sänger. Ansonsten übernahm er die Rolle des Produzenten – zusammen mit Stephen Hague (bekannt hauptsächlich als Produzent von Erasure, OMD und den Pet Shop Boys) Karl Wallinger.

Aus der Vielzahl von Songs, die bei den Aufnahme-Sessions entstanden waren, kristallisierten sich dann nach und nach die Songs heraus, die es auf das Album schaffen sollten. Nicht alle Musiker, die an den Sessions beteiligt waren, sind am Ende auch tatsächlich auf dem Album zu hören. Unter den mitwirkenden Musikern finden sich viele alte Bekannte aus Gabriels Umfeld wie Sinéad O’Connor, Deep Forest, Papa Wemba oder Hossam Ramzy. Von Gabriels „Stammmannschaft“ sind Ged Lynch, Manu Katché, Angie Pollock und Richard Evans vertreten.

Eigentlich hätte das Album schon 1995 fertig werden können. Im Laufe der Jahre war eine Veröffentlichung immer mal wieder im Gespräch. Aber schließlich haben wir es mit Peter Gabriel zu tun und bei dem ticken die Uhren ja bekanntlich etwas anders – oder zumindest langsamer. Die letzten Overdubs und finalen Aufnahmen erfolgten so auch erst in 2007. Doch bevor der blaue Ball sich endlich auf unseren Plattentellern drehen konnte, musste erst noch ein anderer großer blauer Ball ein weiteres Mal den noch viel größeren gelben Ball umkreisen. Jetzt endlich hat das Warten ein Ende und Big Blue Ball liegt uns vor.

01 Whole Thing (Original Mix) 05:26
Peter Gabriel: lead vocals, keyboards
Karl Wallinger, Paul Allen: guitars
Francis Bebey: flutes
Alexis Faku: nord bass
Tim Finn, Andy White: backing vocals
Chuck Norman: programming
Tchad Blake: toms
Der erste Song des Albums überzeugt mit einer eingängigen Melodie und hat unverkennbare Singlequalitäten. Peters Gesang schwebt über dem Arrangement aus Gitarren, Drums und Bass und dominiert den Song. Nach dem ersten Refrain drängen Gitarren und Schlagzeug stärker in den Vordergrund. Nach dem zweiten Refrain wird es in einem kurzen Intermezzo mit verzerrten Gitarren sogar richtig rockig. Besonders gut gefällt mir an dem Lied der meist mehrstimmige Gesang Gabriels. Dass der Song bereits Anfang der 90er aufgenommen wurde, merkt man Whole Thing nicht an. Die Gitarrenrocknummer klingt frisch und modern und hätte wenn überhaupt wohl eher auf Up als auf US gepasst.

02 Habibe 07:12
Natacha Atlas: vocals
Hossam Ramzy, Neil Sparkes: drums & percussion
The Hossam Ramzy Ramzy Egyptian Ensemle (Wael Abu Bakr, Adel Eskander, Momtaz Talaat): strings
Tim Whelan: saz
Stephen Hague: keyboards
Chuck Norman: programming
Big Blue Ball - US VersionHat der Opener Whole Thing noch nicht erahnen lassen, dass es sich bei Big Blue Ball in erster Linie um ein von World Music geprägtes Album handelt, so entführt uns Hossam Ramzy mit Habibe in die Welt von Tausendundeiner Nacht. Der mit 7 Minuten längste Track des Albums (ursprünglich war er sogar über 20 Minuten lang) startet mit Natachas eindringlichem Gesang, begleitet vom Saz, der türkischen Laute. Zusammen mit den Streichern ergibt sich ein dichter Klangteppich, der nach einer guten Minute von einem kraftvollen orientalischem Rhythmus aufgerissen wird. Der Groove lädt zum Tanzen ein oder zumindest zum Mitwippen. Für westeuropäische Ohren ist der Song sicherlich gewöhnungsbedürftig. Aber wer unvoreingenommen hinhört, wird schnell feststellen, dass es sich eigentlich um eine recht eingängige Nummer handelt. Ein wenig fühlt man sich an Stings Desert Rose oder gar Tarkans Simarik erinnert, nur dass Habibe bei weitem nicht so radiotauglich ist.

03 Shadow: 04:27
Papa Wemba: vocals
Reddi Amisi: backing vocals
Juan Cañizares: guitar
The Papa Wemba Band: percussion
Laurent Coatalen: bongos
Tchad Blake: frame drums
Nein, das sind nicht die Gypsy Kings. Das ist Papa Wemba mit Band begleitet von Juan Cañizares an der Flamenco Gitarre. Die Stimmen von Papa Wemba und Reddi Amisi ergänzen sich wunderbar. Hier vereinen sich afrikanische Einflüsse und Latinoklänge zu einer herrlichen stimmungsvollen Synthese. Wer bei Habibe noch still sitzen bleiben konnte, der wird spätestens durch Shadow vom Sofa gerissen und zum Tanzen animiert. Der Song verbreitet einfach gute Laune und macht Spaß.

04 altus silva 06:07
Joseph Arthur, Iarla Ó Lionáird: vocals
Noel Ekwabi: bass
The Papa Wemba Band: conga
Eric Mouquet, Michael Sanchez: piano, keyboards
Vernon Reid: guitar synth
James McNally: whistle, low whistle
Ronan Browne: uilleann pipes
Chuck Norman: programming
Tchad blake: keyboards, harmonium and flute like body bells
Dass keltische Klänge in Kombination mit afrikanischen Rhythmen ganz famos klingen können, wissen wir spätestens seit Afrocelt Sound System. Der Song altus silva bildet da keine Ausnahme, sondern wird durch das französische Techno Duo Deep Forest sogar noch richtig radiotauglich. Über das Piano Riff legt sich Joseph Arthurs samtweiche Stimme, die im Refrain dem gälischen Gesang des Afrocelt Sound System Sängers Iarla Ó Lionáird Platz macht, bis die beiden Stimmen zum Schluss zusammen erklingen. Hier treffen zwei wirklich fantastische Stimmen aufeinander. Abgerundet wird das Arrangement durch irische Flöten und einen wabernden Bass. Ein schöner Song zum Träumen.

05 Exit Through You 05:52
Joseph Arthur: vocals, guitar
Karl Wallinger: guitar, backing vocals
Peter Gabriel: vocals, bass, keyboards
Justin Adams: backing vocals
Chuck Norman: programming
Tchad Blake: shaker, tambourine, bass
Wäre da nicht die leicht verzerrte Stimme von Joseph Arthur in den Strophen, dann wäre Exit Through You eigentlich ein typischer Gabriel Song. Da sind diese charakeristischen Keyboardsounds und Programming Effekte, die auf Us und teilweise auch auf Up immer wieder durchklingen. Der Refrain erinnert entfernt an More Than This, insgesamt aber weniger gitarrenlastig, sondern eher bass- und rhythmusbetont. Zum Schluss gibt es sogar noch ein wenig Gabrielese vom Feinsten, wie man es z.B. von No More Apartheid kennt. Arthur und Gabriel haben den Song angeblich in nur einer Stunde geschrieben. Wenn unser Peter doch nur öfter ein solches Arbeitstempo an den Tag legen würde.

06 Everything Comes From You 04:42
Sinead O’Connor: vocals
Sevara Nazarkhan: backing vocals
Guo Youe: flutes
Joji Hirota: drums, percussion
Ged Lynch: drums
Rupert Hine: keyboards
Angie Pollock: piano
Richard Evans: guitar, mandolin and recorder
Everything Comes From You ist wohl der düsterste und melancholischste Song des ansonsten recht fröhlichen Albums. Wie ein Mantra wiederholt Sinead O’Connor beschwörerisch immer wieder die selben Zeilen zur gleichen Pianomelodie. Das Klanggebilde aus Piano, Flöten, Mandoline und Backing Vocals wird mit der Zeit immer eindringlicher und bedrohlicher. Für mich ist der Song ein ganz großes Highlight auf Big Blue Ball und zählt klar zum Besten, was ich bisher von Sinead kenne.

07 Burn You Up, Burn You Down 04:30
Peter Gabriel: vocals, keyboards
The Holmes Brothers (Wendell Holmes, Sherman Holmes & Popsy Dixon), Juls Shear, Karl Wallinger: backing vocals
Justin Adams, David Rhodes: guitars
Jah Wobble, Wendy Melvoin: bass
Arona N’diaye: djembe, sabar
Billy Cobham: drums
Chuck Norman: programming
Tchad Blake: guitar synth, organ, skin shake, hi hat, frame drum
Und wieder was zum Tanzen. Auf der Still Growing Up-Tour war Burn You Up, Burn You Down der Partykracher schlechthin. Eigentlich sollte der Song ja bereits auf der Up erscheinen. Aber da hätte er wohl wirklich nicht besonders gut hingepasst. Allzu groß sind die Unterschiede nicht zur Single Version von 2003. Aber die Big Blue Ball-Version erscheint mir ein wenig luftiger und rockiger daher zu kommen. Die Vocals sind stärker im Vordergrund. Gefällt mir persönlich einen Tick besser als 2003!

08 Forest 06:16
Hukwe Zawose: vocals
Vernon Reid: guitar
Arona N’diaye: percussion
Levon Minassian: doudouk
Chuck Norman, Stephen Hague: programming
Ethno-Klänge vermischt mit einem stampfenden Bassdrum Beats. Klingt wie Deep Forest, aber die beiden Franzosen mischen hier gar nicht mit. Noch einmal ist die Stimme des 2003 verstorbenen Hukwe Zawose zu hören, mit dem Gabriel schon bei Animal Nation zusammen gearbeitet hat. Dann ist auch wieder Levon Minassians Doudouk im Einsatz, das schon auf dem Album US Songs wie Fourteen Black Paintings die ganz besondere Note verlieh. Dazu kommt noch jede Menge scheppernder Percussion von Arona N’diaye, etwas Rhythmusgitarre und fertig ist eine gefällige Ethno-Pop-Nummer. Nichts weltbewegendes, so etwas hat man schon häufiger gehört aber insgesamt schön umgesetzt.

09 Rivers 05:44
Marta Sebestyen: lead vocals, flute
Karl Wallinger: bass
Vernon Reid: guitar synth
Stephen Hague: accordion
Chuck Norman: drones, river pad, general programming
Peter Gabriel: drones
Der Song lebt gänzlich von Martas exotischem Gesang. Die Instrumentierung mit Keyboardflächen und Flöten dient in erster Linie nur der stimmungsvollen Untermalung und der Verstärkung der Atmosphäre. Ein Song zum Entspannen und zum Zurücklehnen.

10 Jijy 03:59
Rossy: vocals
Chuck Norman, Stephen Hague: programming
Arona N’diaye: percussion
Jah Wobble: bass
Und ein Rap ist auch dabei. Keine Angst, Gabriel hat weder Sido noch Bushido in die Real World Studios eingeladen. Rossy rapt melodisch auf eine recht sympathische Weise. Zusammen mit dem Bass, der Percussion und vor allem den funky Bläsern wird da eine ganz spaßige Nummer raus.

11 Big Blue Ball 04:50
Karl Wallinger: vocals, acoustic guitar, bass, keyboards
Peter Gabriel: piano, organ, keyboards, solo keyboards
Manu Katche: drums
Stephen Hague: accordion
Chuck Norman: programming
Tchad Blake: kick drum, bells
Der letzte Track lässt es wieder etwas ruhiger angehen. Die Instrumentierung ist fast ausschließlich akustisch gehalten mit Akkordeon, akustischen Gitarren und Orgel. Der Song hätte auch einem Eric Clapton Album entsprungen sein können. Ganz entspannt und unaufgeregt kommt die leicht folkige Nummer daher und glänzt mit einem sehr schönen Refrain, zu dem die hohe Stimme Karl Wallingers sehr gut passt. Dass Gabriel an diesem Song überhaupt beteiligt ist, merkt man ihm nicht an.

2LP blue VinylFazit: Wer ein zweites Passion erhofft oder befürchtet hat, der wird enttäuscht bzw. erleichtert sein. Big Blue Ball ist keine schwer zugängliche Wordlmusic, sondern eine Sammlung von überwiegend recht eingängigen (Pop-)Songs mit Worldmusic-Einflüssen. Zwar hat es insgesamt 18 Jahre von den ersten Aufnahmen bis zur Veröffentlichung gebraucht. Dennoch klingt das Album frisch und lebendig. Peter Gabriel hat sich zurückgenommen und konnte der Versuchung widerstehen, alles zu sehr auszutüfteln und überzuproduzieren. Diese Akzeptanz kleiner Unvollkommenheiten und die daraus entstandene Leichtigkeit hat man von Gabriel zuletzt Anfang der 80er Jahre gehört. Man merkt dem Album stark an, dass es im Sommer eingespielt wurde, so ist ein schönes stimmungsvolles Sommeralbum herausgekommen, das eine große Lebensfreude versprüht. Obwohl hier die unterschiedlichsten musikalischen Einflüsse aufeinanderprallen, wirkt das Gesamtwerk dennoch wie aus einem Guss. Den meisten Songs ist die Spielfreude der Musiker und der Spaß an dem Projekt deutlich anzumerken. Warum es fast zwei Jahrzehnte dauern musste, bis das Projekt vollendet werden konnte, wird wohl ein Rätsel bleiben müssen. Big Blue Ball ist kein Album, auf das es sich lohnen würde, so lange zu warten. Aber wenn es dann kommt, dann darf man sich darüber schon freuen.

Autor: Eric Engler

Links:
Offizielle Big Blue Ball Website
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