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Nick Magnus – Children Of Another God – CD Rezension
Nick Magnus veröffentlichte im Frühjahr 2010 ein weiteres Soloalbum, auf dem er unter anderem einmal mehr mit Pete Hicks zusammenarbeitet. Dazu kommen noch eine Reihe weiterer Gastmusiker. Martin Brilla hat genauer hingehört.
Nick Magnus?! Diejenigen, denen dieser Name etwas sagt, dürften ihn mit Steve Hackett in Verbindung bringen. In der Tat war Magnus von 1978 bis 1989 (also auf den 12 Alben zwischen Spectral Mornings und Feedback 86) Keyboarder in Steve Hacketts Band. Zuvor war er 1976 einige Monate lang Mitglied von The Enid (symphonische Rockmusik),
später dann der Prog-Rockband Autumn. Während der zweiten Hälfte der ’80er Jahre konnte er durch Studioarbeit mit renommierten Künstlern (unter ihnen George Martin, Brian May, Mike Batt und Chris Rea) viel Erfahrung sammeln. Ein weiterer Aspekt seiner musikalischen Karriere war kommerziell erfolgreiche Gebrauchsmusik (Project D Synthesiser, Pan Pipe Moods usw.).
Mit Children of Another God legt Magnus sein viertes Solo-Album vor. Während sein erstes Album noch als Easy listening durch die Gehörgänge plätscherte, hatte der Nachfolger schon eine deutliche Prog-Ausrichtung. Sein drittes Album Hexameron setzte diesen Trend fort, der sich auf seiner aktuellen CD bestätigt.
Children of Another God ist ein Konzeptalbum, das sich mit dem Konflikt zwischen Uniformität und Diversität beschäftigt. Laut Magnus war es Darwins Idee, dass Vielfalt der Faktor ist, der sich durchsetzt. Während Gleichförmigkeit Stärke bewirkt, erzeugt nur Vielfalt Fortschritt. Hauptthema des Albums ist der Kampf zwischen diesen beiden. O-Ton Magnus: „Alle Menschen einander anzugleichen, also die Idee der Normalität in der Gesellschaft zu forcieren, ist keine gute Sache. Die Vielfalt ist hingegen eine sehr positive darwinistische Idee: sich anzupassen und zu verändern, um zu gedeihen und überleben. Gleichartigkeit kann sehr schön sein (wenn sich ganze Vogel- und Fischschwärme wie ein einziges Wesen bewegen), aber häufig ist sie sehr negativ (Nazis, Fußballhooligans, Kulte und religiöser Fanatismus). Das Album versucht dies mit einer Geschichte zu veranschaulichen, die einer Person folgt, der in eine einheitliche Gruppe von zehn anderen assimiliert wird, und schildert, was aus ihnen wird.“
Wie auf Hexameron hat Magnus einige mehr oder minder bekannte Gastmusiker gewinnen können: Als Instrumentalisten sind dies Steve Hackett (Gitarre), dessen Bruder John (Flöte) sowie das ehemalige Mitglied von The Enid, Glenn Tollett (Kontrabass). Gesanglich unterstützen Magnus Pete Hicks (früherer Sänger der Hackett-Band), Tony Patterson (Sänger von ReGenesis) sowie Linda John-Pierre und Andy Neve.
Der Rest stammt von Nick Magnus höchstpersönlich: Nahezu alle Instrumente sind von ihm selbst eingespielt bzw. programmiert. Und zwar so gekonnt, dass man mit offenem Mund dasteht, denn die Musik klingt nach allem anderen als Konserve: Die krummen Schlagzeug-Takte sind abwechslungsreich programmiert, die vielen Gitarren-Soli vermitteln eine sehr rockige Stimmung. Aber bis auf eine Ausnahme sind die Gitarren inklusive Solos gar keine Gitarren. Grund dafür ist nicht der bei manchem Künstler vorhandene Wunsch, alles möglichst alleine zu machen, sondern – so Magnus – die geringen finanziellen Möglichkeiten.
Die Musik ist – trotz dieser eher ungünstigen Voraussetzungen – alles andere als synthetisch, sondern melodisch, abwechslungsreich und lebendig. Wenn man sie vergleichen will, fallen einem – je nach Titel – Namen wie Steve Hackett, Pink Floyd, Anthony Phillips, Marillion, Supertramp, Spock’s Beard und nicht zuletzt das Alan Parsons Project ein.
Dass dies Namen sind, die für sehr unterschiedliche Musik stehen, ist kein Zufall: „Jedes Stück hat seinen ganz eigenen Charakter. Ich habe versucht, die musikalischen Stile den sich verändernden Stimmungen der Geschichte folgen zu lassen, ähnlich wie beim Schreiben von Filmmusik. Dementsprechend unterliegt die Musik vielen dynamischen Variationen und reicht vom Prog über den Rock bis zum Orchestralen – wobei hinter dem Ganzen eine ‚progressive’ Denkweise steckt.“
Das Album besteht aus neun Tracks, wobei The Colony Is King und Crimewave Monkeysineinander übergehen und somit ein fast 13-minütiges Stück ergeben.
Der rote Faden ergibt sich aus den Texten und wird durch musikalische sowie textliche Reprisen oder Vorwegnahmen verstärkt. Während die Texte von Dick Foster stammen, hat Nick Magnus die Musik komponiert und arrangiert.
1. Children Of Another God (8:24)
Das Album beginnt atmosphärisch: Vor ein unidentifizierbares Stimmengewisper schiebt sich ein schwebender Gitarrensound à la Hackett, der das Titelthema andeutet. Plötzlich beginnt das eigentliche Stück, allerdings eher unspektakulär: Schlagzeug, Gitarre, E-Piano und Mellotron-Streicher bilden die Basis, bis Tony Patterson das Titelthema gesanglich übernimmt, begleitet von Glockenspiel und sphärischen Chorklängen. Es ist recht einfach konzipiert; beim ersten Hören erscheint es vielleicht sogar zu einfach. Spätestens beim dritten oder vierten Hören setzt es sich dann allerdings unbarmherzig im Gehirn fest.
Auch das Stück selbst wirkt zu Beginn eher einfach, wird aber im weiteren Verlauf deutlich komplexer: Nach mehreren Rhythmus- und Tempowechseln mündet es in einem Mittelteil, der zunächst romantisch ruhig ist und hinsichtlich Instrumentierung und Harmonien an alte Genesis- und Hackettzeiten erinnert. Nach einer kurzen Rückkehr des Stimmengewispers sprechen Jeannie Farr und Dick Foster einige themenbezogene Textpassagen.
Ihre Worte „The Colony Is King“ (eine Bezugnahme auf den fünften Track) sind das Signal für einen deutlich rockigeren Part, der von einem E-Gitarren-Solo dominiert wird. Schaut man ins Booklet, um zu klären, ob dies schon Steve Hacketts Auftritt ist, stellt man überrascht fest, dass beim ersten Titel überhaupt kein Gitarrist erwähnt wird. Na ja, denkt man, da hat man wohl geschlampt. Dass Nick Magnus im dazugehörigen Video das Solo auf einem Umhängekeyboard spielt, hält man für einen guten Gag. Nimmt man dann jedoch Nicks Versicherung zur Kenntnis, dass all dies rein synthetisch ist („Im Booklet ist kein Fehler – abgesehen von Steves Gitarre auf The Colony Is King stammen alle anderen Gitarren von mir auf den Keyboards“), kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Diese rockige Passage ist nicht nur vom Sound her erstaunlich authentisch, sondern darüber hinaus auch höchst lebendig. Respekt vor der technischen Entwicklung, die dies möglich gemacht hat, aber auch vor dem Künstler, der dies derart gekonnt umsetzt!
Dann nimmt Patterson seinen Gesang wieder auf; das Stück endet anschließend instrumental und sehr ruhig mit dem Titelthema.
2. Doctor Prometheus (6:40)
Diese melancholische Stimmung wird von einem poppigen Synthierhythmus beendet. Es singt Pete Hicks, dessen Stimme hier mitunter an die von Roger Hodgson (Supertramp) erinnert. Wenn man es denn kategorisieren wollte, klingt das Stück so, als hätten Supertramp (in der Art von Breakfast In America) und das Alan Parsons Project zusammengearbeitet und – um keinen falschen Eindruck zu erwecken – dabei ein ganz hervorragendes Ergebnis erzielt. Doctor Prometheus gehört zu den einfacher aufgebauten Songs auf dieser CD.
Er ist poppig und durchaus singletauglich, ohne allerdings flach zu sein.
Witzig ist das Streicher-Synthie-Solo, das kurz ins Orientalische abtaucht. Auch hier sind reichlich (Rhythmus- und Solo-) Gitarren zu hören, die wieder sämtlich aus der Konserve stammen (diese Soli fehlen allerdings auf der Videofassung). Erwähnenswert ist auch die gelungene Textzeile „Remorse? Remorse! I’ve heard of it, of course …“
3. Twenty Summers (4:04)
Schnitt: Ein Marimba-Intro, ergänzt – teils gegenläufig – vom Piano, dann mit Bass und akustischer Gitarre und Synthesizer – ein typisches Prog-Instrumental, das auch von Dave Greenslade stammen könnte. Beherrschend ist hier ein 10/8-Rhythmus, der aber wegen Taktverschiebungen sowie Rhythmus- und Tempowechseln alles andere als durchgängig ist. In einer Art Mittelteil wird es zunächst vergleichsweise ruhig, in unmittelbarem Kontrast zu einem Wechselspiel zwischen einer rockigen Orgel und E-Gitarren. Anschließend wird das Marimba-Intro wieder aufgegriffen; das Stück endet mit Piano solo.
Man merkt diesem Titel wirklich nicht an, dass es von Nick Magnus allein eingespielt wurde und dementsprechend komplett synthetisch ist. Es klingt wie ein typisches Prog-Instrumental aus den 70er oder 80er Jahren. In gewisser Weise wirkt der Titel damit wie ein Fremdkörper, sorgt aber damit zugleich für Abwechslung
4. Identity Theft (3:44)
Wieder ein Schnitt: eine völlig andere Atmosphäre. So also singt Nick Magnus. Gar nicht schlecht! Eine ruhige Ballade im 6/8-Takt mit zurückhaltender Begleitung von Streichern, Vibraphon und nicht zuletzt einem (diesmal echten) Kontrabass. All dies ergibt eine etwas soulige Stimmung wie in manchen George Michael-Balladen. Und auch hier fühlt man sich an das eine oder andere Alan Parsons-Stück erinnert.
5. The Colony Is King (7:25)
Es liegt nahe, The Colony Is King als typisches Hackett-Stück zu bezeichnen. Denn es hat vieles, was man von Steves Kompositionen kennt: Eine schöne und zugleich mysteriöse Melodie, den typischen Hackett-Satzgesang, einen Auftritt von Bruder John mit seiner Flöte, orchestrale Momente, viel Atmosphäre – und ein typisches Gitrarrensolo!
Dennoch tut man Magnus damit wohl unrecht: Hört man sich nämlich dieses Album (und seinen Vorgänger Hexameron) an, stellt sich unwillkürlich die Frage nach Henne und Ei: Hat Magnus Hacketts Stil kopiert? Oder ist Magnus vielleicht sogar derjenige, der diesen Stil (mit-)kreiert hat?
Unabhängig davon, ob und wie sich dieser Frage klären lässt: Er macht es jedenfalls genauso gut wie Steve, wenn nicht sogar noch besser. Dennoch wäre hier mehr drin gewesen, denn nach vielversprechenden Ansätzen bleibt es bei einer Art Thema mit Variationen, wobei die Variationen nicht sehr phantasiereich sind:
Über leicht bewegten Synthie-Streicher legt sich zunächst der weiche Satzgesang (Andy Neve), bis dann das Thema des Stücks – schön, aber wegen seiner Harmonien etwas mysteriös – zum ersten Mal auftaucht; es hätte auf jedem Hackett-Album einen Ehrenplatz verdient. Präsentiert wird es von John Hackett auf der Flöte. Dann übernehmen es die Streicher zu einem orchestralen Walzer, wandeln es leicht ab. Johns Flöte gesellt sich dazu, bis das Stück zum Stillstand kommt.
Unvermittelt bestimmt eine Snare Drum das Geschehen, unterlegt von einem Mellotron-Chor. Das Thema kehrt zurück, nun aber nicht mehr mit der Leichtigkeit der Flöte, sondern mit der brutalen Eindringlichkeit von Steve Hacketts Gitarre (dieses Mal wirklich). Sein Part wird unterbrochen vom Gesang einer marschierenden Gruppe, der in „Power to the Colony!“ gipfelt. Der Höhepunkt des Stücks wird erreicht, wenn Steve das Thema wieder übernimmt und anschließend improvisiert, vor einer beeindruckenden Soundkulisse.
Plötzlich hält alles inne. Der orchestrale Walzer taucht ein letztes Mal (leicht abgewandelt) auf. Dann stimmt die marschierende Gruppe noch einmal ihr Lied an – diesmal (abgesehen von der Snare Drum) à capella, was die Eindringlichkeit erhöht. In den Nachhall ihrer Schritte mischt sich eine Polizeisirene.
6. Crimewave Monkeys (5:30)
Mit dieser Polizeisirene beginnt Crimewave Monkeys: zunächst nur Schlagzeug solo, mit viel Toms, gelegentlich mit einigen Geräuscheffekten versehen. Dazu gesellt sich ein flächiger Synthesizer, später ein Solosynthi, vergleichbar einem Waldhorn.
Nach dieser fast zweiminütigen Einleitung beginnt das eigentliche Lied mit einer Instrumentalfassung des Refrains. In den Strophen wird der Marschrhythmus der Colony wieder aufgenommen, auch wenn hier das Tempo deutlich höher ist.
Es gibt weitere Gründe, weshalb man das Stück als zweiten Teil von The Colony Is King ansehen kann; thematisch ist es aber das Gegenstück. Das Stück – wieder gesungen von Pete Hicks – wird von einer rockigen Orgel dominiert. Dies, aber auch der abrupte Rhythmuswechsel im Mittelteil und das anschließende Keyboardsolo erinnern an die Musik von Spock’s Beard mit Neal Morse.
Mit einigen Takten Schlagzeug solo, die im Nichts verhallten, endet Crimewave Monkeysabrupt.
7. The Others (5:25)
Nach einigen Sekunden Stille wird es getragen und wehmütig. Die von Linda John-Pierre gesungene Ballade ist ein immenser Kontrast zu den Stücken davor: Sie könnte von Alan Parsons/Eric Woolfson stammen oder einem Musical entnommen sein, zumal sie orchestral arrangiert ist. Sie hätte vielleicht sogar Hitpotential, wenn sie dafür dann doch nicht zu komplex komponiert wäre. Aber schöne Melodien, die durch Lindas sanfte und doch kräftige Stimme gut zur Geltung kommen, finden sich hier zuhauf. Ein reinrassiges Prog-Stück ist es jedenfalls nicht.
8. Babel Towers (4:53)
Zurück zum Progrock. Rhythmisch wie Doctor Prometheus, musikalisch allerdings wieder eher an Spock’s Beard erinnernd, hinterlässt dieses Stück trotz vieler gelungener Elemente dennoch keinen bleibenden Eindruck, allenfalls durch die instrumentale Reprise des Titelthemas, die sich der Frage „Will there be any hope at all for us children of another god?“ anschließt. Der Schlussteil gerät ziemlich bombastisch, gewürzt mit wirklich gelungenen (unechten) Gitarrensoli. Ärgerlich ist lediglich, dass Magnus das Stück dann einfach ausblendet; da hätte es bessere Lösungen gegeben.
9. Howl the Stars Down (3:49)
Eigentlich hätte die CD nach der ausgedehnten Wiederaufnahme des Titelthemas zu Ende sein können, aber auch hier überrascht Nick Magnus: Nach einer getragenen orchestralen Einleitung trägt Tony Patterson eine sanfte, ergreifende Ballade vor, die trotz ihres traurigen Textes und der entsprechenden Musik in den Strophen durch die musikalische Umsetzung im Refrain auch etwas Positives ausstrahlen kann.
Dieses sehr intime Stimmungsbild könnte auch von Anthony Phillips stammen. Es ist ein sehr gelungener Abschluss des Albums.
Fazit:Eine rundum gelungene CD, die nicht nur Proggies erfreuen dürfte. Nick Magnus zeigt, dass er sein Handwerk beherrscht und vor allem ausgezeichnet arrangieren kann. Zwar enthält das Album nichts umwerfend Neues, denn alles meint man irgendwo schon einmal gehört zu haben. Dennoch ist die Qualität der Kompositionen durchgängig überzeugend.
Er stellt zugleich beeindruckend unter Beweis, dass auch ein Keyboarder, der aus finanziellen Gründen auf echtes Schlagzeug und überwiegend auch auf weitere echte Instrumente verzichten muss, ein rockiges und lebendiges Album einspielen kann. Denn man hat gerade nicht den Eindruck, dass dieses Album nahezu komplett am Computer entstanden ist.
Ein wohl unerfüllbarer Traum wäre es, dieses Album live mit richtigen Musikern und echtem Orchester zu hören, denn dadurch würde es noch einmal gewinnen.
Schade ist lediglich, dass die auf Nicks Homepage und auf Youtube verfügbaren Videos, die angesichts des vermutlich niedrigen Budgets eine erstaunliche Qualität haben, nicht auf der CD enthalten sind.
Autor: Martin Brilla