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Nick Fletcher – The Cloud Of Unknowing – Album Rezension
Ein Jahr nach dem viel beachteten Soloalbum Cycles Of Behaviour legt Nick Fletcher (John Hackett Band) mit The Could Of Unknowing einen Nachfolger vor. Thomas Jesse hat es angehört.
Vorbemerkung:
Da wäre dem Rezensenten doch fast der Nachfolger von Nick Fletchers fantastischem Cycles of Behaviour entgangen. Das passt zu der damaligen Bemerkung, dass das Werk dieses sympathischen Menschen leider viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Der Rezensent möchte mit diesen Zeilen versuchen, es zumindest in den Kreisen der Genesis-Fans zu ändern.
Hintergrund / Albumtitel:
Erstaunlich schnell, nach einem Jahr, veröffentlicht Nick Fletcher mit The Cloud Of Unknowing ein weiteres feines Album geprägt von Rock, Prog, Jazz und leichten Metall-Anklängen. Es ist durch die Folgen der Corona-Pandemie geprägt und hat die daraus resultierende Suche Nick Fletchers nach einem Sinn des/seines Lebens zum Inhalt. Unter dem CD-Halter findet der Hörer, die Hörerin ein Zitat des spanischen Karmeliten und Mystikers Johannes vom Kreuz (1542 – 1591)1. Es bildet die Inspiration zum Titel des Albums:
The higher he rises the less he understands, because dark is the cloud which illumines the night; That’s why he knows remains always unknowing, transcending all knowledge.
In einem Interview sagt Nick, dass diese Worte und die Beschäftigung mit dem großen Mystiker und der mittelalterlichen Philosophie seinen Blick auf die Welt geändert habe und er nun Lebensfreude in der Ruhe und Einsamkeit finde2.
Gestaltung:
Die CD liegt wieder in einem Jewel-Case vor. Auch eine digitale Ausgabe ist über Nicks Website zu beziehen. Das in Schwarz gehaltene Cover zeigt uns Nick Gitarre spielend, im Hintergrund Aufnahmen von Wolkenformationen. Das Booklet beinhaltet neben den Songlyrics eine Liste der beteiligten Musiker und eine kleine Danksagung. Linernotes fehlen leider. Auch hier gibt es Aufnahmen vom Himmel, Kircheneingängen – und Interieur, sowie einem Hügel (Glastonbury Tor, oder der Solsbury Hill? Wohl eher nicht.) Es wird die Intention des Albums, Mystik im Einklang mit der Natur zu skizzieren, deutlich. Um Fotos und Layoutgestaltung kümmerte sich Nick Fletcher persönlich.
Die Mitwirkenden des Albums sind die alten Bekannten vom Vorgänger mit zwei Ausnahmen: John Hackett ist nicht mehr dabei. So komponierte Nick Fletcher im Gegensatz zu Cycles Of Behaviour (dort kooperierte er bei drei Stücken mit John) alle Songs selbst.
Stuart Barbour singt die beiden einzigen Nicht-instrumental-Stücke. Nick entschied sich für ihn, einem Freund von Caroline Bennett, die wieder das Album aufnahm, mixte und masterte, weil er eine sehr gute, typisch englische Stimme hat. Nick wollte einen Sänger, der ein wenig an John Wettons Gesangsstil erinnert3.
Songs:
Das Zentrum des Albums bildet der Longtrack Scenes from the Subconscious Mind (Suite) mit fünf Szenen in einer Länge von über 23 Minuten. Die Suite ist in je zwei Stücke zu Beginn und am Ende des Albums eingebettet.
Out of the Maelstrom
Düstere Kreyboardstimmen öffnen den Schlund des Mahlstroms, der mit krachenden Jazzrock-Eskapaden den Hörer/die Hörerin verschlingt. Das Mahavishnu Orchestra lässt grüßen. Herrlich donnernde Ausbrüche der Hammond – Orgel, gespielt von Dave Bainbridge, paaren sich mit Nicks wunderbarer Gitarre. Nach gut fünf Minuten endet das Instrumentalstück abrupt. Welch ein Kracher zum Auftakt des Albums! Welch würdige Verbindung zum Vorgänger!
The Eyes of Persephone
Wie wunderschön leuchten die Augen der Persephone! Die Unterwelt scheint ein Ort der Ruhe zu sein. Träumende, verschlungene Gitarrensoli, gepaart mit Klavier- und Synthesizerklängen, laden den Hörer zum hinfort driften in andere Sphären ein. Wunderschön das Klaviersolo ab Minute 2:30. Wieder kann sich Dave Bainbridge auszeichnen. Tim Harries spielt unaufdringlich den Bass. Der Kontrast und die Atempause nach der Irrfahrt durch den Malstrom sind herrlich gelungen. Ein Albumfavorit des Rezensenten, der sich an U.K. mit Allan Holdsworth erinnert fühlt. Ja, sogar Peter Greens Bluesgitarre wird zitiert. Ein Kopist ist Nick Fletcher aber mitnichten.
Scenes from the Subconscious Mind – Suite
Nach dem Ausflug in die griechische Mythologie, heißt es nun Luft holen für den Longtrack des Albums. Er wird eingeleitet von:
Scene 1: We Need to Leave this Place?Right Now!
Zwanzig Sekunden Soundscapes, Geräusche einer Großstadt, Flugzeuggrollen, quietschende Reifen, Schreie, die Sirene eines Krankenwagens – und dann kracht es.
Scene 2: Pandemonium
Eine donnernde, metallene Gitarrenorgie erschreckt den Hörer/die Hörerin. Das ist entsprechend dem Songtitel wirklich ein reißendes Chaos über das Nick eine beherrschende jazzrockige Gitarrenspur legt. Klasse, das Schlagzeug von Russ Wilson! Ab Minute 2:20 wandert die Musik mit einem herrlichen Hackett’schen Gitarrensolo in ruhige Gefilde. Nick spielt wunderschön proggig, jazzig bis ab Minute 4 das Chaos der ersten Hälfte des Songs wiederaufgenommen wird und in einem furiosen Finale endet.
Scene 3: The Cloud of Unknowing part 1 – part 2 – part 3
Das dem Album den Titel gebende Stück wird in seinem ersten Teil mit Kirchenglocken, die in einem Keyboardteppich aufgefangen werden, eingeläutet. Diese düsteren von Caroline Bonnett gespielten Keyboards lassen albtraumartige Gedanken an große hallende Räume in sakralen Gebäuden aufkommen. Mit Gitarrenarpeggien und dem Auftritt von Sänger Stuart Barbour, der eher an Roine Stolt als an John Wetton erinnert, beginnt der zweite Teil. Unterbrochen wird er von einem zweiminütigen Gitarrensolo und Jazzrockeskapaden der Band. Stuart singt von der Suche nach Erkenntnis, nach Wahrheit in der Dunkelheit. Das Lied wird mit Gitarrenarpeggien, über die ein Solo gelegt ist, in seinem dritten Teil fortgesetzt. Dieser lässt Vergleiche mit Iona aufkommen, wunderschön melodisch und verträumt. Leise verklingt die Gitarre und ruft das Bild einer paradiesischen Landschaft wach.
Hier ist das Album ganz auf der Progressivrockseite. Die Flower Kings grüßen mit ihrer Verspieltheit.
Scene 4: Awakening the Hydra
Düstere, chorartige Soundscapes, knarrende, plinkernde Gitarre. Bevor man ganz in die Stimmung von Tigermotheines Steve Hackett verfällt, rufen metallartige Klänge zum
Scene 5: Dance of the Hydra
auf. Nick Fletcher verbindet rhythmische Metall (Gitarren-) akzente mit einer solierenden Jazzrockgitarre. Wann hat der Rezensent das je schon einmal gehört? Die Hydra führt mit ihrem Tanz den Hörer/die Hörerin zurück ins Pandemonium. Sie schmeichelt ab Minute 2:50 mit einer ruhigeren Unterbrechung des Chaos, bei der Schlagzeug und Gitarre im Wettstreit liegen. Es ist aber nur ein kurzer Einschub bis wieder, diesmal jazziger gerockt wird. Eine schöne Gitarrenmelodie führt uns zum Ende des Tanzes, der das Awakening of the Hydra zitiert. Hat sie nun genug Hörer*innen in den Bann gezogen, um sich wieder zum Schlaf zu legen? Mit einem ruhigen Ausklang enden die Szenen und ein atemloser Hörer/eine atemlose Hörerin bleiben zurück.
Arcadia:
Zwei Minuten eines Duetts von akustischer Gitarre und sanften Keyboards lassen den Hörer/die Hörerin wieder zu Atem kommen. Nick beweist sein Können als klassisch ausgebildeter Musiker. Vielleicht hätte ein Tupfer der Flöte von John Hackett das Stück veredelt? Nun, der Rezensent fühlt sich auch ohne ihn in Arkadien wohl – wunderschön…
The Paradox part 1 – part 2:
Mit dem Gesang von Stuart Barbour, der sich mit jazzigen Sounds herumschlagen muss, beginnt das Lied. Das macht er so gut, dass es gar nicht eines Gitarrensolos braucht, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Keyboards umschmeicheln den Gesang mit flötenartigen Melodien, ab Minuten 2:25 erzeugt ein Keyboardsolo Erinnerungen an U.K. oder Bruford. Natürlich lässt Nick seine Gitarre nochmals sprechen und beglückt uns mit einem herrlichen Solo, das den Song fantastisch krönt. Mit harmonischem Gesang, der einen melancholischen Text rezitiert, bewegt sich das Stück seinem Ende entgegen. Es klingt mit bewegendem Gitarrenspiel, sanftem Sirenengesang von Caroline Bonnett und Synthesizerklängen aus.
Zusammenfassung
Wo nimmt Nick Fletcher nur seine Inspirationskraft, seine Kreativität her4? Ihm ist mit The Cloud of Unknowing nach dem sensationellen Cycles of Behaviour wieder eine Sammlung wunderbarer Musik gelungen. Er bettet Zitate von Bands / Musikern wie U.K., Bruford, Mahavishnu Orchestra, Iona und Steve Hackett in seinen eigenen Stil aus Jazz, Rock, Prog ein. Er hält die Fusion-Musik mit seiner Handschrift am Leben und setzt sogar neue Akzente. Die Musik fließt organisch dahin, fügt sich ineinander ohne gezwungen zu wirken. Sie fesselt den aufmerksam zuhörenden Menschen. Der Rezensent ist angetan von der Idee die Mystik des griechischen Altertums und des Mittelalters mit dieser zeitlosen Musik zu verschmelzen. Balsam für die Seele in diesen Zeiten. Wir werden hoffentlich noch viel von Nick Fletcher hören. Der Rezensent würde sich darauf freuen und bittet den geneigten Leser, die geneigte Leserin Nick Fletcher ein wenig Lebenszeit zu gönnen. Es lohnt sich.
In diese Zeit passende Schlussworte aus dem Booklet (Vorwort zu The Cloud of Unknowing):
Da pacem, Domine,
in diebus nostris,
quia non est alius
qui pugnet pro nobis,
nisi tu Deus noster.
Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist doch ja kein andrer nicht,
der für uns könnte streiten,
denn du, unser Gott, alleine
Originaltext aus dem 9.Jahrhundert, von Luther 1529 als Nachdichtung veröffentlicht5.
Autor: Thomas Jesse
Erhältlich auf der Website des Künstlers (dort auch in digitaler Version), bei JustForKicks, JPC und Amazon.
Anmerkungen
*1: siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_vom_Kreuz; auch Loreena McKennitt beschäftigte sich mit ihm
*2: Interviewvon John Wenlock-Smith:
*3: ebenda
*4: Im letzten Jahr veröffentlichte er eine Kollaboration mit John Hackett, The Goldfinch. Eine Sammlung von Musik für Gitarre und Flöte von Komponisten wie J.S. Bach, Händel, Scarlatti und Vivaldi. Erhältlich hier.
*5: siehe hier