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Nick Fletcher – A Longing For Home – Rezension

Mit A Longing For Home stellt Nick Fletcher (John Hackett Band) schon das vierte Album in vier Jahren vor.

Vorbemerkung

Es wird so langsam zur Gewohnheit, dass Nick Fletcher die Hörerinnen und Hörer jedes Jahr mit einem Werk aus dem Hause Fusion-Jazz-Progressive Rock beglückt. Wo der Mann seine Zeit und Kreativität hernimmt, ist ein Rätsel. Produziert der sympathische Engländer aus Sheffield doch auch Musik im klassischen/ akustischen Genre, spielt bei der John Hackett Band und gibt Musikunterricht. Ganz abgesehen von unzähligen Live-Auftritten.

Hintergrund / Albumtitel

Mit A Longing For Home legt Nick Fletcher ein Konzeptalbum vor, dass die Suche nach der Heimat in uns und im Universum beinhaltet. Man könnte sagen, er begibt sich auf Reisen in den Inner-und Outer Space. Die Songs bilden eine zehnteilige Suite, so sind thematische, bzw. musikalische Wiederholungen gewollt. Schon der erste Titel, Satori zeigt auf, dass das Konzept des Zen-Buddhismus mit seinem nach Innen gewandten Blick, um mit der Außenwelt in Harmonie zu leben, ein Reiseutensil ist1. Das Cover führt uns in eine steppenartige Landschaft, die in einen riesigen Himmel übergeht. Drei Menschen starren hinauf zu einer linsenartigen Struktur, die das Firmament erfüllt. Ist das möglicherweise ein Durchgang ins Licht, zu den Sternen?

Betont wird der SF-Touch durch ein Radioteleskop im Hintergrund. Eine Reminiszenz an das SETI-Projekt, bei dem nach außerirdischem Leben geforscht wird2? Die drei Gestalten sehen in ihren Trainingsanzügen aus wie Astronauten. Sie scheinen bereit, durch das Himmelstor zu gehen. Das linsenartige Objekt erinnert an das Cover-Artwork des Vorgängeralbums. Dort steht ein Mensch vor einem lichtdurchfluteten Durchgang. Das Booklet zeigt außerdem u. a. eine romanische Kapelle, Fotos der Musiker, sowie (besonders beeindruckend) das Sternentor (oder die Sonne während einer Sonnenfinsternis), dem sich eine Hand verlangend entgegenstreckt. Das verwundert nicht, denn A Longing For Home steht in enger thematischer Verbindung zu seinen beiden Vorgängeralben.

Das Cover

Wieder hat Nick die Fotos und das Layout erarbeitet und wie immer sind Linernotes usw. dabei. Warum gehe ich so genau auf das Artwork ein? Es zeigt m. E. dem Betrachter bzw. der Betrachterin die Intentionen der instrumentalen Musik: Den Weg, den der Mensch gehen muss, um zu sich selbst zu finden. Innerer Harmonie ist die Voraussetzung, um im Einklang mit der äußeren Welt zu leben. Der Blick in unsere stellare Heimat im Universum öffnet das Tor zur Erkenntnis. Reisen ins Innere, bei denen uns der Buddhismus helfen kann, verschmelzen mit dem rationalen, wissenschaftlichen Blick ins Weltall. Dorthin, wo unser zu Hause ist, unsere Bestimmung wartet.

Beteiligte Musiker

Die Mitwirkenden des Albums sind (wie immer) Co-Produzentin und Mixerin Caroline Bonnett: Keyboards, Anika Nilles3: Drums, Jonathan Ihlenfeld Cuniado4; Bass, Jan Gunnar Hoff5: Keyboards, Olga „Dikajee“ Karpova6: Vocals on To Hear the Angels Sing. Das ist ein internationales Ensemble wunderbarer Musikerinnen und Musiker.

Die Songs

Satori [5:33]

Krachende Schlagzeugwirbel eröffnen das Stück. Sofort übernimmt Nicks Gitarre das Kommando. Die innere Erleuchtung erscheint mit einem jubilierenden Jazzrocker, der variantenreich wirbelt. Ab Minute 2:25 unterbricht ein ruhiger Einschub, der jedoch mit einem wahnsinnigen Gitarrensolo endet. Auf und Ab geht es bis Minute 3.25, in der der Bass uns für eine kurze Zeit seine Referenz erweist. Duelliert er sich etwa mit einem blubbernden Keyboard? Bevor wir uns darüber Gedanken machen können, kehrt die Musik unter der Führung der Gitarre zu ihrem Hauptmotiv zurück. Schließlich beenden ambientartige Soundcollagen eine aufregende Tour de Force.

The Secret Of The Ascent [6:17]

Die Solo-Gitarre erzeugt eine herrliche Jazzrockstimmung a la Mahavishnu Orchestra oder Weather Report, die von einer Hammond abgelöst wird und in rockige Gefilde driftet. Deep Purple mit Jazzklängen? Die Keyboards dominieren rund zwei Minuten, dann hören wir wieder den laut Steve Hackett z. Zt. besten Jazzgitarristen Englands. Alan Holdsworth hätte seine Freude an diesem Solo. Wie der Titel es aussagt, steigt die Musik in einem kontinuierlichen Wirbel an, um in einem ruhigen Part in sich zusammenzufallen.

Joy Turning Into Sorrow [1:48]

Getragene, ruhige Töne einer gefühlvoll gespielten akustischen Gitarre laden zum Träumen ein. Keyboardarpeggien lassen das kurze Stück ausklingen. Der richtige Moment, um nach dem krachenden Auftakt kurz zu verschnaufen.

Sitting In The Sunboat [7:32]

Eine schöne Gitarrenlinie treibt sanft das Sonnenboot an. Wir hören astrale Wellen an die Bordwand klatschen, der Sonnenwind umweht die Bootsfahrer, gebannt starren wir in die Weite. Nick beweist uns einmal mehr, dass er ein wunderbarer Jazzgitarrist ist. In der Mitte des Songs erhält das Keyboard Freiraum zu solieren und wie! Das Schlagzeug tönt herrlich und treibt das Highlight des Albums voran. Ein wunderbares Stück Musik!

Her Eyes Of Azure Blue [8:43]

Spielt da etwa Peter Green? Ist diese Melodie, die den Raum so sanft, so leise säuselnd erfüllt, denn nicht von Peter Greens wunderbarem In The Skies-Album? Nein, das ist Nick Fletcher, der unglaublich gefühlvoll die Saiten seiner Gitarre streichelt. Wie schön müssen die blauen Augen sein, die Nick besingt… Die Musik, die zwischen Blues, Jazz und Pink Floyd liegt, ist es auf jeden Fall. Es sei das ebenso sanfte Bass-Solo erwähnt. Ein weiteres Meisterstück des Albums, das mit seinen fast neun Minuten Spielzeit einfach nicht enden mag.

A Pathway To The Hermitage [5:40]

Eine an Marillion erinnernde Gitarre beginnt zu flüstern, zu tickern. Das Schlagzeug bestimmt den Takt. Schließlich wird erst verhalten, dann schneller gerockt, was das Zeug hält. Ja, das ist eher Prog als Jazz. Steve Hackett wird zitiert, die späten Brand X lassen grüßen. Die Arpeggien der Gitarre führen den Weg zum Ziel, der Einsiedelei.

A Longing For Home [5:09]

Dahingleitende, fließende Sounds von Keyboards und Gitarre erzeugen kosmische Klänge. Das Tor zu den Sternen scheint sich zu öffnen. Hier ist Nick ganz nahe an David Gilmour. Man ist geneigt zu fragen, ob der Mann denn alles spielen kann, aber die Musik nimmt einen schnell mit ins Licht und beantworten diese Frage.

The Sage, The Monk And The Scholar [5:07]

Schlagzeug, Bass, Gitarre und Keyboard diskutieren miteinander, laut, hektisch, sich streitend, sich ergänzend, eine Jazz-Rock-Fusion-Nummer vom Feinsten. Man höre nur Nicks Solo ab Minute 2:15!
Diesem kann nur das Schlagzeug standhalten, bis sich die Orgel in den Vordergrund spielt. Das ist Metal-Jazz, oder?

Crossing The Sacred Threshold [6:36]

Wir kehren zur Melodie des Opener zurück. Variantenreich wird sie aufgenommen, spielerisch von Gitarre und Keyboard verändert. Der Kreis schließt sich. Die heilige Schwelle wird überschritten. Innere und äußere Welt vereinen sich. Wir gehen ins (musikalische) Licht. Das Satori erfüllt sich.

To Hear The Angels Sing [4:42]

Einer Reprise gleich, lässt Nick die Engel singen. Ist es der harmonische, elfenartige Gesang von Olga Karpova, der uns das Licht bringt, es begleitet? Ihr Sopran, erfüllt von sanften Klangmalereien, beendet schwebend und träumerisch die musikalische Tour de Force der Suite.

Zusammenfassung

In der Nachbetrachtung zum letzten Album Quadrivium fragte ich, was diesem wundervollen Werk nun folgen würde. Die Frage lässt sich leicht beantworten. A Longing For Home stellt die Vollendung von Nicks Suche nach musikalischer und spiritueller Erfüllung dar. Wieder verblüfft er den/die Hörer*in mit intelligenten Kompositionen voller Spielfreude, Liebe und Kraft. Er hat ein internationales Ensemble wundervoller Musiker zusammengestellt, die sich harmonisch in den Sound einfügen.

Technisch versiert mit viel Wärme und Empathie wird das Thema des Werks zelebriert. Nick erfindet die Fusion-Jazzrock-Prog-Musik nicht neu, gewinnt ihr aber überraschende Aspekte ab. Er fordert ein intensives Zuhören ein, mit dem Wunsch gepaart, sich mit seiner Philosophie auseinanderzusetzen. Wenn man das tut, taucht man in den Schatz globalen menschlichen Wissens, Philosophie und Religion ein. Hier versöhnt die Musik den westlichen rationalen wissenschaftlichen Weg zur Erkenntnis mit fernöstlicher spiritueller Weisheit7. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Weltlage ein hoffnungsvoller Ansatz.
Diese inspirierende Musik Nick Fletchers lädt zur Entdeckung ein. Wer sich auf sein Gesamtkunstwerk einlässt, könnte vielleicht den Weg zu den Sternen finden. Wer weiß?

Aus den Linernotes

Nick zitiert in den Linernotes wieder ein Gedicht von Samantha Turner8:

A Longing For Home
Following an ache in my heart
I am longing for a place I once dwelled
Travelling precariously through the Kuiper Belt
I collide with every version of myself

We communicate in colour
I am them and they are me
All dimensions of time and space
Exist and yet cease to be

We speed across the star road
Guided by the whispers
Back to our ancestral home
Among the seven sisters

The star system called Plejades
In the origin of our birth
Before we existed
We descended to the Earth

I learn we all made of stars
Lost children from the sky
For when the ships ascended
Our group was left behind
Time incomprehensible
Erased our memory
But some innate recollection
Still lives inside of me

Anmerkungen

*1: Zur Vertiefung siehe u.a. hier
*2: siehe hier und hier
*3: siehe u. a. hier
*4: siehe hier un hier (Facebook)
*5: siehe hier
*6: siehe hier (Facebook)
*7: Ich empfehle zur Vertiefung das Werk Hoimar von Ditfurts.
*8: siehe hier

Autor: Thomas Jesse
Ab 21.10.2024 erhältlich auf der Website des Künstlers (dort auch in digitaler Version) und ab 25.10.2024 bei Just for Kicks Music.