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Nad Sylvan – Vampirate Trilogie – Teil 1: Courting The Widow (2015)
2015 erschien das erste Album der Vampirate Trilogie: Courting The Widow. Ole Uhtenwoldt hat sich dem Album genähert und teilt seine Eindrücke.
Die Trilogie beginnt 2015, 12 Jahre also nach Nads bis dahin letztem Soloalbum Sylvanite (2003).
Im Booklet wird deutlich gemacht, dass mit diesem Release ein Traum für Nad wahr geworden ist und dass die Stimme von Freiheit anklingt. Und in den Kontext gerückt macht es durchaus Sinn: Das Album entstand mit dem Schwung im Rücken, der Lead-Sänger bei Hackett zu sein und kurz zuvor seinen Job gekündigt zu haben, um sich voll der Musik zu widmen. Dazu kommt, dass das Konzept von vornherein als Trilogie ausgelegt war und man mit dem ersten Teil natürlich vorlegen muss, um Interesse für die geplanten Nachfolger zu wahren. Insofern ist es sicherlich nicht einfach, immer den richtigen Ton zu treffen und die Handlungsdynamiken über einen so langen Zeitraum spannend zu halten. Vorab: Nad hat es hinbekommen – durch ausgefeilte Kompositionen, Vielseitigkeit und natürlich durch die richtigen Musiker. Vor allem aber klingen alle Alben unterschiedlich und verlagern sich auf andere Stile und klingen als ganze Trilogie doch kohärent und schlüssig.
Der Vampirate muss natürlich ein Schiff haben und so liegt der Fokus beim ersten Album auf Themen wie Seefahrt und Schiffen. Um kenntlich zu machen, welche Songs sich speziell mit dem Vampirate und seiner Geschichte befassen, sind fünf der insgesamt acht Songs als „log“ gekennzeichnet – ganz im Stil von klassischen Logbuch-Einträge, wie sie es in der Schifffahrt immer schon gegeben hat.
Carry Me Home (7:19)
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Story mit Meeresrauschen beginnt, mit den Schritten der Menschen, die das Schiff betreten und – wie sollte es anders sein – mit dem Flügelschlag des Vampirate. Carry Me Home ist ein frischer und optimistischer Einstieg, der mit seiner lockeren und nicht allzu dichten Instrumentierung tatsächlich so leicht ankommt, wie eine sonnige Überfahrt. Das Thema und durchziehendes Leitmotiv des Meeres wird eingeführt, folgerichtig ist dies der Logbuch-Eintrag 1. Schon bei diesem Song zeigt sich die ganze Klasse der versammelten Musiker-Riege; der im Vordergrund stehende Bass von Nick Beggs galoppiert durch den Song, so wie der Vampirate durch die Lüfte schwingt – ohne jede Mühe. Er fließt in seinen über sieben Minuten dahin, über starke Harmonien, einen Mitsing-Refrain, der später noch einmal variiert wird und in einen schön ausgespielten Schlussteil mündet, den Rob Townsend mit der Flöte veredelt. Das Gitarrensolo ist bereits so charakteristisch, dass man gar nicht im Booklet nachsehen muss, um festzustellen, dass es Hackett ist. In diesem Song wird Jade Ell als Background-Sängerin eingeführt – eine wichtige Rolle, die auch bei den Folgealben zur Geltung kommt.
Nachdem der Schlussteil ausgeblendet wird, bleibt von der Soundkulisse nur noch ein Tropfen übrig, der überleitet in den Titeltrack…
Courting The Widow (6:13)
Dieser beginnt mit seichten Piano-Klängen von Roger King, der durch Keyboard-Streicher unterstützt wird. Oft wirkt ein Song damit überladen, hier ist es allerdings eine gute Idee und passt. Der zweite Logbuch-Eintrag könnte das Klagelied der Witwe sein, die auch das Cover ziert, ist insgesamt etwas schwerer als der Opener und zieht in der Intensität durchaus an. Der Vampirate zumindest ist überzeugt von seinem Vorhaben, mit der trauernden Witwe anzubandeln. Gelungen sind auch die Steigerungen mit weiteren Keyboard-Sounds im letzten Drittel und einige Schlagzeug-Variationen von Nick D’Virgilio. Es zeigt sich, wie songdienlich Sylvan singen kann, gerade auch bei häufigen Wechseln zwischen lauteren und leisen Abschnitten. Der Song ist im Kontext des Albums zwar kein absolutes Highlight, fügt sich aber sehr gut ein und man fragt sich, wie es wohl weitergehen mag. Und mit Roger King und Nick Beggs sind hier immerhin zwei Drittel der Mute Gods (siehe separates Webiste-Special hier) vertreten.
Echoes of Ekwabet(9:41)
Mit diesem fast 10-Minüter schlagen wieder neue Töne an. Echoes of Ekwabet wird von Nad besonders hervorgehoben, da er genau den Stil trifft, durch den er diese Art von Musik entdeckt hat. Und in der Tat klingt der Track sehr nach Genesis und schlägt in die Retro-Prog-Kerbe. Er ist vielseitig, aggressiv, dann wieder harmonisch und pendelt am Ende zwischen episch und hymnisch. Die orchestralen Elemente sind stimmig integriert, es kommt ein Chor hinzu und über die gesamte Länge bleibt der Song druckvoll. Obwohl er nicht sich nicht direkt dem Vampirate-Konzept unterordnet, wirkt er keineswegs unpassend – gerade auch durch die musikalische Abhebung der vorangegangenen Stücke.
Inspiriert ist der Song durch eine Statue, die Nad in St. Charles bei Chicago gesehen hat und daraufhin die Geschichte der Potawatomi-Indiana studierte, die diese Statue auf „Ekwabet“ tauften. Damals griff er diese Idee für einen Song auf, natürlich unwissentlich, dass dieser dreieinhalb Jahre später auf einem Soloalbum landen sollte. Interessanter Fakt: Nad hatte die Gitarren zwar eingespielt, es stand für ihn aber immer fest, dass Hackett diese neu einspielen und ihnen so den finalen Schliff geben sollte. Nachdem er das Stück hörte, lehnte dies aber mit der Begründung ab, Nads Spiel sei schon so gut, dass nichts mehr verbessert werden könne…wenn das kein Statement ist!
To Turn The Other Side (22:05)
Epische Longtracks werden gern ans Ende eines Albums gestellt, da sie mittendrin Gefahr laufen, verloren zu wirken. Auf diesen Track trifft das erstaunlicherweise nicht zu.
To Turn The Other Side ist mit seinen 22 Minuten, die auf acht Parts verteilt sind, nicht nur das mit Abstand längste Stück des Albums, sondern auch der gesamten Trilogie. Und das, obwohl auch hier zumindest kein direkter Kontext zum Vampirate vorliegt. Der Longtrack beginnt melancholisch, ja fast tragisch und der erste Teil Premonition wird als emotionaler Höhepunkt in den nächsten 20 Minuten immer mal wieder aufgegriffen. Wir bekommen hier kein klassisches Prog-Feuerwerk geboten; das braucht es hier auch nicht, der Track ist zu Ende gedacht und muss nicht künstlerisch gepusht werden. Er ist im Flow und das merkt man besonders beim aufgelockerten vorletzten Part On The Other Side, bevor er mit Lavender Fields schließlich wieder zur ursprünglichen Stimmung zurückkehrt und ein versöhnliches Ende findet. Der Bass kommt hier von Jonas Reingold, der als Teil der Rhythmus-Gruppe mit Nick D’Virgilio gut funktioniert. Und wenn man genau hinhört, kann man Nick Beggs‘ Background-Vocals heraushören. Eine besondere Rolle kommt der Textzeile „Make haste to be kind – swift to love“ zugute. Dabei handelt es sich um ein Zitat des Schweizer Schriftstellers und Philosophen Henri Frederic Aurel (1821-1881).
Der Track bietet zwar keine unzähligen Tempo-, Metrik- oder Taktwechsel. Aber er zeigt eine Variante, einen Longtrack in einer Art und Weise zu inszenieren, die sehr zum Album passt. Und allein diese Authenzität macht ihn zu einem Highlight.
Ship’s Cat (5:04)
Es geht weiter mit dem dritten Log und dieser macht direkt durch ungewöhnliche Instrumentierung auf sich aufmerksam – wieder klingt’s völlig anders als vorher, ohne dabei wie ein Fremdkörper zu wirken. Ship’s Cat ist sparsam instrumentiert, zuerst nur mit Harmonium, später kommen Orgel und ein Piano hinzu, das auch immer mal wieder die Führung übernimmt.
Dieser Track ist ein Paradebeispiel dafür, wie die einfachsten Mittel einen wahnsinnig melodischen Song hervorbringen können. Die Streicher passen außerordentlich gut ins Gefüge und der Song setzt eine doch unerwartete Emotionalität frei…von der man gar nicht genau weiß, woher diese kommt. Ship’s Catwirkt einfach sympathisch und authentisch und ist von den Harmonien her wohl das schönste Stück auf dem Album. Und auch das einzige, das – fast – allein von Nad eingespielt wurde. Denn hier findet sich der wohl charmanteste Gastbeitrag auf dem Album wieder, beigesteuert von der Ship’s Cat selber: nämlich in Form von Nads Katze Scrut. Es ist quasi ein Duett, das Nads Gesang mit dem von Scrut (nebst Schnurren) verbindet. Wenn man also große Teile des Albums zu Hause aufnimmt, und die Katze ohnehin auf den Keyboards liegt und schnurrt, warum das nicht auch irgendwie auf das Album bringen?
The Killing Of The Calm (5:34)
Diese Melancholie wird unterbrochen von einem beschwingten Cembalo-Rhythmus und sofort ist klar, dass man einen weiteren Logbuch-Eintrag vor sich hat. Jeder Seemann kennt wohl die Ruhe, die vom Sturm unterbrochen wird; insofern ist der Titel fast schon etwas irreführend, denn bis auf einen bedrohlichen Kontrapunkt gegen Ende klingt The Killing Of The Calm eher harmlos. Der Gesang klingt einmal mehr akzentuiert und vielseitig und ein gelungenes Manöver ist das vor allem in den Strophen immer mal wieder solierende Cello von Annbjorg Lien. Ab hier übernimmt auch Doane Perrydie Drums bis zum Ende des Albums, das Zusammenspiel mit Nick Beggs funktioniert. Überhaupt sind Beggs‘ Einsätze bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass er sowohl Bass als auch Vocals zwischendurch eingespielt hat, während er sich mit Steven Wilson auf Tour befand.
Where The Matyr Carved His Name (7:45)
Der vorletzte Track beginnt zwielichtig mit düsteren Tremolo-Streichern, eher die Rhythmus-Sektion einsteigt. Beggs beschränkt sich hier auf – allerdings sehr gut zur Geltung kommenden – Background-Gesang, am Bass hören wir Jonas Reingold. Dies ist auch der einzige Track des Albums, auf dem Roine Stolt einige eher hintergründige Gitarrenläufe beisteuert. Die Steigerung funktioniert, vor allem die schwere Orgel in den lauteren Abschnitten beeindruckt. Der letzte Chorus wird noch einmal variiert und mündet in einen neuen Melodiebogen – ähnlich wie es bei Carry Me Home der Fall war.
Inhaltlich geht es laut Nad wohl um einen Mann, der kurz vor der Enthauptung steht und um die Frage, wo ihn die Reise wohl noch hinführt…thematisch lässt sich eine gewisse Schwere nicht leugnen. Im Meeresrauschen klingt der Song aus und leitet über in die wiederum aufgelockerte Stimmung von…
Long Slow Crash Landing (6:34)
Der Vampirate stürzt ab ins Meer – so endet das Logbuch. Rob Townsends Soprano-Saxofon, Beggs‘ fretless Bass und der Marsch-Rhythmus illustrieren das ganz gut. Die Strophen werden immer wieder „gestört“ durch Gitarrenstimmen; überhaupt sind in hier viele Gitarren zu hören, die aber interessanterweise ausschließlich solieren. Für Nad ging hier ein weiterer Traum in Erfüllung: ein Gitarren-Duell mit Steve Hackett. Nad selber relativierte dies damit, dass es im Grunde gar kein Duell sein, da er im Vergleich zu Steve der deutlich schlechtere Gitarrist sei („in fact I am a shit guitarist“). Ein deutliches Unterstatement, denn Long Slow Crash Landing ist ein würdiger Abschluss, speziell durch die kreuzenden Gitarren von Sylvan und Hackett und den in der letzten Strophe nochmal aufdrehenden fretless Bass. Langsam ebbt das Stück ab und lässt am Ende nur noch die rauschende Meereskulisse zurück.
Natürlich ist dies nicht das Ende des Vampirate, seine Geschichte geht weiter. Aber wir haben erstmal einen Zwischenstopp erreicht und blicken auf einen ersten gelungenen Teil der Trilogie zurück. Manchmal vielleicht etwas harmlos, aber im Gesamtsound stringent und dennoch mit einem Füllhorn unterschiedlichster Ideen – deren Umsetzung im Lichte der beteiligten Musiker natürlich gelingen musste. Und vorab darf verraten werden: mit den nächsten Teilen bewegen wir uns wieder auf neuen Pfaden…was wurde nun also aus der Witwe, die umworben wurde? Sie sollte zur Braut werden, wollte aber nicht.
… weiter zum zweiten Teil, The Bride Said No
Autor: Ole Uhtenwoldt