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Mike Rutherford – Smallcreep’s Day – Rezension
1980 erschien das Debütalbum von Mike Rutherford. Heute genießt Smallcreep’s Day unter Genesis-Fans Kultstatus.
Angekommen im Jahr 1979 sah die Welt um Genesis etwas zwiespältig aus. Einerseits konnten sie mit ihrem erstmals in der Dreier-Besetzung eingespielten Album And Then There Were Three international größere Erfolge verbuchen und mit Follow You, Follow Me einen ordentlichen Hit landen. Auf der anderen Seite stand Phils Ehe kurz vor dem Scheitern und sorgte für Stillstand aller Aktivitäten der Band. Für 1979 war kein Genesis-Album geplant. Phil verbrachte seine Zeit in Vancouver, um zu retten, was nicht mehr zu retten war. Tony und Mike blieben daheim und hatten somit viel Freizeit. Zeit die beide kreativ nutzen sollten.
Die Story
Mikes erstes Soloalbum sollte kein langfristiger kommerzieller Erfolg werden, aber einer, der unter den beinharten Fans Kultstaus geniesst. Smallcreep’s Day unterscheidet sich maßgeblich vom Sound seines späteren Bandprojekts Mike + The Mechanics. Es ist vielmehr ein verlorener Sohn von Duke. Man hört der Platte ganz eindeutig an, aus welcher Band Mike stammt. Ein Album das unglaublich authentisch nach Genesis klingt und dennoch kein Abklatsch oder Aufguss ist, sondern hochwertige Musik zu bieten hat. Smallcreep’s Day sollte man als Konzeptalbum bezeichnen. Die Geschichte eines Fabrikarbeiters, der täglich dröge seiner Arbeit nachgeht, ohne jemals in Erfahrung gebracht zu haben, für welches Endprodukt er zuständig ist. So beschliesst er auf Entdeckungsreise zu gehen, in die Fabrik, in sich selbst, in sein eigenes Leben und wird dabei allerlei interessante Leute treffen und neue Gefühle erleben. Inspiriert wurde Mike von Peter Currell Browns gleichnamigem Buch, welches 1965 erstmals erschien.
Wie gelingt die musikalische Umsetzung zu dieser Story? Zunächst einmal konnte Mike sich einige erlesene Leute ins Boot holen, die dafür sorgten, dass das Schiff „erstes Soloalbum“ auch schwimmen lernen konnte. Die Songs schrieb er selbst. Als Produzent und Soundtechniker war David Hentschel verantwortlich, der dafür sorgte, dass der bewährte trockene und bassige Genesis-Sound auch Smallcreep’s Day veredelte. Des weiteren fanden Noel McCalla, Simon Phillips und sein alter Freund Ant Phillips den Weg in die Stockholmer Polar-Studios.
Die beteiligten Musiker
Zuerst noch einige Worte zu den Musikern selbst. Da wäre zuerst Simon Philips der die Trommelstöcke schwingen durfte. Auf unzähligen Platten kann man seine Fähigkeiten bestaunen, viele Künstler wie Mick Jagger, Mike Oldfield, Joe Satriani oder Jeff Beck haben seine Dienste in Anspruch genommen. Bei Peter Gabriel spielte er auf seinem Shaking The Tree-Sampler-Album den Song I Have The Touch ein. 1979 war es Mike Rutherford, der ihm den Zuschlag erteilte, auf seiner ersten eigenen Plattenproduktion mitzuwirken. Simon erinnert sich: „Mike is an english gentleman in the true sense of the word. I seem to remember him being open to any suggestion and really it was down to arrangement as opposed to what I should play – in other words I played what I felt was right for the song. I do remember using Tama’s first synth drums which had little triggers that I stuck to the snare drum and basically did what Syndrums did – very fashionable at the time but did not last with me though!“ Sein leicht jazziger Stil wirkt auf dem Album in einigen Stellen etwas unruhig und bisweilen gar hektisch, sorgt allerdings auch für Leben in der Plattenkiste. Das Schlagzeug ist im Mix recht präsent, dominiert die Songs jedoch nicht, wie das etwa bei Genesis- und Collins-Soloalben der Fall ist.
Die Stimme des Albums wurde NoelMcCalla. „Wer soll das sein?“ fragen sich sicherlich die Meisten. Schon seit geraumer Zeit ist er Sänger bei Manfred Mann’s Earth Band. McCalla ist ein farbiger Sänger mit kräftigem Soul in der Stimme, der es verstand, die Songs von Smallcreep’s Day gekonnt, mit Gefühl und dem erforderlichen Stimmvolumen zu interpretieren.
Den Part des Gitarristen als auch Bassisten übernahm Mike Rutherford selbst – in dem Metier kennt er sich ja bestens aus. Es heisst ja immer, der Rutherford, der kann nix. Während viele Gitarristen im Laufe der Jahre an Spieltechnik und -geschwindigkeit zulegen, so scheint es, als habe Mike eine Art Entschleunigungskurs gemacht. Je älter er wurde, desto lahmer, ruhiger und manchmal würgseliger wurde sein Stil. Hört man Mike auf allen folgenden Platten immer seltener und auch immer weniger aufregend Gitarre spielen, scheint er sich hier gesagt zu haben: „Meine Platte, meine Fehler. Wenn ich das hier verbocke, interessiert das Keinen, es ist ’nur‘ meine Platte“. Nie davor oder danach glänzte Mike mit ähnlich ideenreichem Gitarrenspiel oder längeren Soli, mal von Second Home By The Sea oder Abacab abgesehen.
Somit blieb nur noch ein Posten zu besetzen: Das Tasteninstrumentarium. Mike brachte hier seinen alten Freund Ant Phillips ins Spiel. Klingling ? und schon haben wir zwei Fünftel Genesis auf einem Album – und das hört man sofort!
Die Musik
Nun solls aber losgehen. Seite 1, Track one. Ein bisschen beginnt das Album pseudo-proggig mit einer repetitiven Melodie auf dem Keyboard und Noels ersten Worten „It?s so very dark in here“. Und doch fühlt man sich als Liebhaber dieser Klänge sofort heimisch. Between The Tick & The Tock ist ein ruhiger und atmosphärischer Einstieg in das Album. Die Vorfreude steigt.
Danach wirds munter: Mikes erste Single, Working In Line, beginnt fröhlich mit Schrammelgitarre und zappeligen Drums, der Bass brummelt. Mehr als ordentlich ist der Song nicht, wäre da nicht dieser superbe Instrumentalteil. Das sind schon flinke Finger an den Saiten. Soll das etwa ein Vorgeschmack auf mehr sein? Working In Line wird ausgefadet und sanfte Streicher überführen uns zum nächsten Track, der getragen daherkommt und nichts mehr mit der munteren Stimmung des Vorgängers zu tun hat.
Es fungiert denn auch nur als Intro für Cats And Rats (In This Neighbourhood) bei dem man anfangs irgendwie an Back In NYC oder Colony Of Slippermen denken muss und später nach der Besetzungsliste schaut und sich fragt, ob Tony Banks nicht doch heimlich mitspielt. Oder hat Ant sich sein Equipment besorgt? Auf The Lamb Lies Down On Broadway wäre der Song nicht negativ aufgefallen. Da fällt es nicht weiter ins Gewicht, das nun wieder ein „Intro“ folgt … oder war es doch noch das Outro?
Is‘ wurscht, denn jetzt kommts faustdick! Was man nun erleben darf ist ein Song, der in Mikes Schaffen einen, wenn nicht sogar DEN Höhepunkt schlechthin darstellt! Out Into The Daylight ist ein unterhaltsames, gitarrendominiertes Instrumental mit Keyboardmelodien, die um die Wette jagen. Es beginnt mit reichlich Riffing und polterndem Schlagzeug ehe die ersten Melodien hinzugefügt werden und sich der schnelle, fliessende Track weiter entwickelt. Was Mike hier abliefert ist wohl zweifellos sein bestes Gitarrensolo überhaupt. Hinzu kommt der Spielwitz, der Ideenreichtum und die Variation. Zugegeben, er ist kein Genie an der Gitarre, seine Ideen setzt er hier aber durchaus versiert um. Wer hätte so etwas je von ihm erwartet? Schlimm nur, das etwas derart Schönes und Aufregendes leider auf einem relativ unbekannten Album hinterlassen wurde und nur den Die-hard-Fans bekannt ist. Hätte Mike sich dieses furiose Instrumental für das Duke-Album aufbewahrt, wäre dieses noch um einiges bereichert worden und vielleicht wäre sogar folgendes passiert: Out Into The Daylight beerbt bei Konzerten Firth Of Fifth und Mike hätte sich vom Schatten Steve Hacketts etwa lösen können ? wer weiss? Wer weiss auch, ob dann nicht heute Daryl Stuermer dieses Lied spielen würde … aber das ist ein anderes Thema.
Die erste Hälfte beschliesst At The End Of The Day. Vom schmalzigen Start mal abgesehen kommt dann eine wunderbar romantischer Song in Fahrt, bei dem auch wieder ein kurzes Gitarrensolo nicht fehlen darf. Hier verläuft die Grenze zwischen Kitsch und Kunst schon sehr fliessend.
Da die zweite Hälfte des Albums aus einzelnen, abgeschlossenen Tracks besteht, gehen die Lieder nicht mehr ineinander über wie auf der ersten Plattenhälfte. Seite 2 des Albums startet mit einem flotten Track, dem bassigen Moonshine. Auffällig sind die bombastischen Keyboardkaskaden, die spontan an Behind The Lines denken lassen.
Die ersten Klänge von Time And Time Again sind vertraut, ähneln schon irgendwie Many Too Many. Der Refrain jedoch bricht aus der Melancholie heraus und es kommt wieder etwas Optimismus hervor. Vielleicht einer der etwas schwächeren Songs, dennoch einfach schön von Noel vorgetragen und wenn Phil Collins es gesungen hätte, wäre auch locker Hitpotential erkennbar. Im Mittelteil kommt dann wieder ein kleines aber nettes Solo von Mike. Der traut sich was …
Romani ist tricky. Gemächlich wabert ein recht zähes Keyboardintro, dann spielt sich eine quirlige Keyboardmelodie in den Vordergrund und der Song zeigt langsam sein wahres Gesicht. Interessanter Gesang, und vor allem rhythmische Feinheiten wie häufige Takt-und Schnelligkeitswechsel machen besonders Spaß. Hier wurden gekonnt zwei konträre Melodien in einen Song verpackt ? etwas, das Mike als Songwriter auszeichnet, es klingt unverkrampft und geschickt angestellt.
Ruhig und fröhlich geht es in Every Road hinein. Das Stück bleibt ruhig, und wird von der akustischen Gitarre getragen. Ein Lied das wie eine Symbiose aus Over My Shoulder und Open Door erklingt und freundliche Stimmung verbreitet.
Overnight Job kommt wieder rockiger aus der Hüfte. Was Genesis gut macht, schadet seiner Soloplatte natürlich genauso wenig: Dynamik. Die Musik sprudelt förmlich vor Lebendigkeit. Die Mitte des Songs ändert komplett die Richtung, und Mikes Fähigkeit, starke, einprägsame Riffs zu zaubern, wird hier wieder einmal bewiesen. Wunderbare Gänsehautmomente gibt es so noch einmal zum Schluss und hinterlässt strahlende Gesichter.
Fazit
Was bleibt? Zuerst einmal der Eindruck, das man hier ein Genesis-Album unter anderem Namen im Player hat. Doch das stört nicht. Einerseits erstaunlich, andererseits äußerst erfreulich wie eindringlich Mike den typischen Genesis-Sound seit 1978 mitgeprägt hat. Im Gegensatz zu Tonys erstem Solo-Gehversuch wurde die Instrumentierung hier vielseitiger gestaltet, so dass das Album nicht mit einem bestimmten Instrument zugekleistert wurde. Nie hat man den Eindruck, als würde etwas fehlen, etwas das den Sound vervollkommnen könnte. Trotz aller klanglichen Referenzen und Parallelen zu Genesis bzw. deren Duke-Album kommt man nicht in Versuchung, Phil oder Tony zu vermissen. Nein, es scheint als wäre Mike dieses Album wichtig gewesen, und man spürt beim Hören, das es wie aus einem Guss ist. Seine ganze Kraft und viele interessante Songideen konnte er dort hinein bringen. Hätte er sich diese für Genesis aufgehoben, wäre Duke vielleicht zum Doppelalbum angeschwollen. So aber steht Smallcreep’s Day für sich selbst: als zeitloses Juwel, als interessanter Aspekt seiner Soloarbeit und als Ausrufezeichen eines verkannten Songwriter-Genies, das stets im Schatten von Tony und Phil stand.
Abschliessende Fakten rund ums Album:
Smallcreep’s Day erblickte am 15. Februar 1980 das Licht der Welt. In den USA und UK wurden bei vielen Exemplaren der LP die Seiten vertauscht, so dass das Album mit Moonshine begann und mit At The End Of The Day beendet wurde. In England erreichte das Album Platz 13 der Charts.
Die Singleauskopplung, Working In Line, bekam als B-Seite Compression hinzugefügt. Bei dem Song wurde ein vertracktes Gitarrenriff benutzt, welches schon bei den Selling England-Sessions 1973 in den Proben auftauchte. Die ersten 6.500 Pressungen der Single hatten fälschlicherweise Overnight Jobals B-Seite.
Autor: Christer Leidolph
Tracks:
1. Smallcreep’s Day – I: Between The Tick & The Tock (3:59)*
2. Smallcreep’s Day – II: Working In Line (3:08)*
3. Smallcreep’s Day – III: After Hours (1:45)*
4. Smallcreep’s Day – IV: Cats And Rats (In This Neighbourhood) (4:52)*
5. Smallcreep’s Day – V: Smallcreep Alone (1:25)*
6. Smallcreep’s Day – VI: Out Into The Daylight (3:54)*
7. Smallcreep’s Day – VII: At The End Of The Day (5:39)
8. Moonshine (6:26)
9. Time And Time Again (4:54)
10. Romani (5:27)
11. Every Road (4:15)
12. Overnight Job (5:45)
* Sieht man die ersten sieben Titel nicht als eigenständige Songs sondern als Einzelteile des Long-Tracks Smallcreep’s Day (so wie es es auf der Plattenhülle angegeben ist und man es durch das Ineinanderfließen der Titel empfindet), kommt das Werk auf fast 25 Minuten Spielzeit und „entthront“ damit Supper’s Ready als bis dato längstes Stück von Genesis + Co. …