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Mike Rutherford – Acting Very Strange – Rezension
Acting Very Strange erschien am 7. September 1982 und ist nach Smallcreeps Day das zweite Soloalbum des Genesis-Gitarristen und -Bassisten. Peter Musto hat sich dem Werk genähert …
Acting Very Strange erschien am 7. September 1982 und ist nach Smallcreep’s Day das zweite Soloalbum des Genesis-Gitarristen und -Bassisten. Wenn man bedenkt, dass The Geese And The Ghost mit Anthony Phillips als Co-Soloalbum angedacht war, kann sich ein unbefangener Hörer kaum vorstellen, dass der gleiche Mike hinter den drei Alben steckt. Auf Geese sind es akustische Gitarren, auf Smallcreep’s Day scheinen die Keyboards zu dominieren, obwohl es häufig Gitarrensynthesizer sind und auf Acting Very Strange entdeckte Mike dann den direkten Klang von E-Gitarren.
Um das Album etwas besser einzuordnen sollte man wissen, dass Smallcreep’s Day im Februar 1980 erschien, Dukevon Genesis im März 1980, Face Value von Phil Collins im Februar 1981 und Abacabvon Genesis im September 1981. Punk klang aus, New Wave langsam auch, Police waren angesagt und das hört Mikes Album auch an, nicht nur wegen des typischen Schlagzeugs von Stewart Copeland. Wer die Soundänderung bei Genesis von Duke zu Abacab nie verstand, könnte es vielleicht nach Acting Very Strange nachvollziehen.
Bei einem Soloalbum erwartet man üblicherweise, dass der Namensgeber auch singt. Aus diesem Grund versuchte es auch mal Mike. Bei Smallcreep’s Day sang noch Noel McCalla und wahrscheinlich dachten viele Hörer, es wäre Mikes Stimme. Der eigene Gesang gab Mike die Chance, die Identifikation mit dem Album zu erhöhen. Es war auch ein cleverer Schachzug, Noel McCalla bei Acting Very Strange als Backing Sänger einzusetzen, denn so war dessen vertraute Stimme ein Bindeglied zu Smallcreep’s Day.
Die Songs (mit Autor) und Laufzeit:
Acting Very Strange (Mike Rutherford) 4:58
Das Album startet mit dem Titelsong und der hat einen einfachen Aufbau: Doppelstrophe, Bridge, Refrain 1, Refrain 2. Das gibt es drei Durchgänge bis zum Schluss einmal der Refrain 1 folgt und bis zum ausgeblendeten Ende eine Minute lang der Refrain 2. Das Tempo ist zügig, der Bass treibt und der Song könnte auch zu Mike & The Mechanics passen, wäre da nicht der eigenartige Refrain 1, der aus Sequenzer, Tom-Toms und einem ?You’re acting very strange?-Urwald-Chor bestehen würde. Das unterbricht den Songfluss etwas, macht ihn aber auch weniger konventionell. Der Song ist also noch nicht so glatt, aber durchaus massenkompatibel und ein guter Opener.
A Day To Remember (Mike Rutherford) 4:59
Wenn ein Song auf dem Album wirklich ?strange? ist, dann dieser. Beim zweiten Song klingt es noch am ehesten nach Genesis, allerdings aus der Abacab-Phase. Der Song startet mit Drummachine, Synth-Bass und einem Gitarrensynthesizer und es klingt sehr elektronisch. Der einfache Rhythmus zieht sich durch den ganzen Song und als Abwechslung gibt es immer wieder Einsprengsel von Sequenzern, Synths und Gitarren. Auch wenn es ein eher langsamenr und sehr einfacher Song ist, wirkt er stressig und nervös, was auch an der Stimme von Mike liegt. Vielleicht wäre er an einer späteren Stelle des Albums besser platziert besser aufgehoben.
Maxine (Mike Rutherford, Pete Belotte) 5:24
Die Wucht des Songs ist vergleichbar mit Moonshine vom Vorgängeralbum oder mit Squonk von Genesis, aber Maxine klingt durch die rohen Gitarren rotziger und aggressiver als diese beiden Beispiele.
Die Betonung auf der ?3? erinnert etwas an Dodo(Genesis) und beim Zwischenteil ab 2:56 hört man, wo das Bedrohliche von Making A Big Mistake herkommt. Das Saxophon spielt sehr dreckig-aggressiv und verhindert, dass der Zwischenteil zu süßlich klingt. Noel McCalla ist deutlich als Backgrundsänger zu hören. Der Song blendet langsam aus.
Halfway There (Mike Rutherford, Florrie Palmer) 4:11
Die ersten Sekunden laufen, die Hi-Hat umspielt den Beat ? und es ist nicht Peter Gabriels Red Rain.
Hier hört man durch das Schlagzeug von Stewart Copland einen deutlichen Police-Einschlag raus. Glaubt man in der Strophe den Rhythmus begriffen zu haben, wird man durch Zwischenschläge (?Are you running away? …?) etwas irritiert. Der Refrain ist danach einfach und eingängig. Bei der zweiten Strophe ist man wieder auf der Suche nach dem Beat. Nach einen aggressiven Saxophon-Solo gibt es eine Rückung und der Refrain wir höher gespielt und gesungen. Durch die vielen Wiederholungen des Refrains kriegt man den Songtitel bereits nach einmaligem Hören in den Kopf, aber die Strophen waren wohl etwas zu sperrig, um als Single einen Erfolg einzufahren.
Who’s Fooling Who (Mike Rutherford, Florrie Palmer) 4:47
Auf diesem Album kommt Who’s Fooling Who einem Rocksong am nächsten. Man könnte es mit All I Need Is A Miracle vergleichen, wenn man auf den durchgehenden Bass und die wechselnden Akkorde achtet. Hier klingt es allerdings viel kräftiger und rockiger als beim Pop-Hit vom ersten Mechanics-Album. Dazu kommen dann Bläser, die die Akkorde stakkato mitspielen, was er vielleicht auch mal bei Phil Collins gehört haben könnte.
Couldn’t Get Arrested (Mike Rutherford, Pete Belotte) 3:50
Drummachine und Synthbass starten den sehr rythmischen, fast tanzgeeigneten Song. Kurz danach setzt ein verzerrtes Gitarrenriff ein, der vom Refraingesang aufgegriffen wird. Die Drummachine wird nach und nach mit Percussion und Drum-fills ergänzt. Der Aufbau ist einfach: Refrain ? Strophe ? Refrain ? Strophe und bei dem letzten Drittel wird der Refrain laufend wiederholt, während die Backing-Sänger dazu improvisieren. Mit echtem Schlagzeug und Bass könnte der Titel funky klingen, aber in den 80ern wollte man es ja gerne so synthetisch.
I Don’t Wanna Know (Mike Rutherford) 4:36
Der Song ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Song von Phil Collins von 1985.
Auch hier erinnert der Beginn an Police. Die abgedämpften Gitarren werden nach und nach durch den Synthbass und Drums ergänzt. Die Stimmung ist etwas geheimnisvoll (?I’m alone?) bis der Refrain kommt, bei dem Mike uns wissen lässt, dass das alles nicht wissen will (?I don’t think I wanna know?). Ab ca. 2:29 bis 2:53 wechselt der 4/4-Rhythmus auf Schläge mit 3/4-Einschlag, um dann wieder zurückzuwechseln. Im letzte Drittel wird der Refrain variiert (?I don’t want to be another fool?) und die Betonungen verändern sich.
Hideaway (Mike Rutherford) 5:58
Am Schluss kommt die gefühlvolle Ballade. Echte Geigen lassen ahnen, dass Mike ein anderes Soloalbum ohne wohligen Synthesizerteppichen wie auf Smallcreep’s Day wollte. Die Geigen machen auch einige Betonungen vom Schlagzeug mit. Bei Hideaway hätten sich akustische Gitarren angeboten, aber Mike bleibt konsequent bei der elektrischen. Der brüchige Gesang von Mike passt bei diesem Song fast am besten. Ab 4:20 hören wir ein einfaches, aber schönes Slidegitarren-Solo (Daryl?) das den Song beim Fade-out begleitet.
Als Singles wurden nach und nach Halfway There, Maxine, Acting Very Strange und eine auf 4:30 gekürzte Version Hideaway ausgekoppelt, also das halbe Album. Keine Single war erfolgreich.
Die Outtakes
Der Non-Album-Track Calypso wurde als B-Seite der Single Hideaway veröffentlicht und hat leichte Ähnlichkeit mit I Don’t Wanna Know.
Als remixte 12″-Versionen gab es Acting Very Strange und Couldn’t Get Arrested (3), die einfach nur geschnitten und gestreckt wurden, ohne dass es spannend oder gar besser klang.
Making A Big Mistake (Mike Rutherford) erschien 1984 auf dem Soundtrack von Against All Odds, auf dem auch Phil Collins mit dem Titelsong vertreten war und auch Peter Gabriel mit Walk Through The Fire. Er klingt aber so, als sei er zur Zeit von Acting Very Strange aufgenommen. Es ist auch der letzte mir bekannte Song, den Mike alleine geschrieben hat. Danach bevorzugte er Kollaborationen.
Die Liveversionen
Folgende Songs des Albums wurde auch auf der ersten Tour von Mike & The Mechanics 1985/1986 gespielt, weil das Material des ersten Mechanics-Albums live nicht ausreichte: Halfway There, Maxine, I Don’t Wanna Know.
Die beteiligten Musiker (mit ein paar Querverweisen):
Mike Rutherford – lead and backing vocals, bass guitar, guitar, keyboards
(Genesis, Mike & The Mechanics)
John Alexander – guitar
(Schulfreund und Genesis-Umfeld)
Daryl Stuermer – guitar
(George Duke, Jean-Luc Ponty, Genesis, Phil Collins, Tony Banks u. a.)
Paul Fishman – keyboards
(Re-Flex)
J. Peter Robinson – keyboards
(Brand X, Phil Collins, Shawn Phillips, David Bowie, Bryan Ferry, Eric Clapton, Filmmusik etc.)
Stewart Copeland – drums
(Police, Klark Kent, Animal Logic, Filmmusik)
Pete Phipps – drums
(Gary Glitter, Eurythmics, XTC, Roger Chapmann, Andy Scott’s Sweet u.a.)
Gary Barnacle – saxophone
(Der hat nun wirklich mit der halben Musikerwelt gespielt.)
Luke Tunney – trumpet
Steve Gould – backing vocals
Noel McCalla – backing vocals
(Manfred Mann’s Earth Band, Mezzoforte, Solo)
Dale Newman – backing vocals
(Anthony Phillips, Genesis-Roadie, Solo)
Martyn Ford – string arrangements and conductor
(Phil Collins, Kate Bush, Elton John, Bryan Ferry, Japan u. a.)
Produziert wurde das Album im Farm Studio von Genesis von Mike Rutherford und assistiert von Nick Launey (Killing Joke, PIL, Kate Bush, Eric Clapton, Midnight Oil, Nick Cave u. v. a. m.).
Das Cover
Wart ihr mal in einem Spiegelkabinett? So sieht das Cover aus: Mike verzerrt, in die Länge gezogen oder gedrungen. Das sollte wohl ?strange? unterstreichen, Mike zeigen und auffallen. Die Idee stammt von A. R., also vermutlich von einer Gattin Angie Rutherford. Es gibt interessantere Cover.
Die Kritik
Mike selbst ist mit dem Album unzufrieden. Er hält die Songs zwar für gut, aber die Ausführung der Aufnahmen für schwach. Auf AllMusic wird das Album mit 2 von 5 Sternen bewertet und auch auf den Babyblauen Seiten kommt das Album schlecht weg: 4/15 Punkte, allerdings nur bei zwei Rezensionen.
Man könnte dem Album vorwerfen, dass es für Genesis-Fans zu weit vom Sound der Mutterband entfernt ist. Vielleicht sind auch die Songteile im Zusammenhang nicht immer stimmig, um richtig rund zu klingen und um einen Charterfolg zu erzielen. Andererseits kann man dem Album zu Gute halten , dass es nicht so glattproduziert ist wie die späteren Mechanics-Alben und eben gewisse Brüche zulässt.
A propos ?Brüche?: Die Stimme von Mike ist für viele der primäre Angriffspunkt. Sie ist rau, wenig flexibel und brüchig. Er hat hörbare Schwierigkeiten, einige Passagen zu singen. Aber Tom Waits und Joe Cocker hatten trotz ähnlichem Gesang auch Erfolg. Vor allem die Stimme macht das Album roh und rotzig. Ich finde den Mut bemerkenswert, die Stimme und die Gitarren so einzusetzen und dass es eben anders ist als die bisherige Genesis-Musik. Etwas anstrengend sind die vielen Wiederholungen der Refrains am Ende der jeweiligen Songs.
Dennoch mag ich das Album gerne. Meine Anspieltipps sind Halfway There, Maxine und Who’s Fooling Who.
Die Folgen
Das Album und die Singles hatten keinen nennenswerten Erfolg. Für Mike wurde das später der Antrieb, zunächst Songs für andere Sänger zu schreiben und Mike & The Mechanics zu gründen, wo er nicht singen musste und wo es deutlich glatter klang. Der Erfolg gab ihm Recht.
Autor: Peter Musto