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Mike + The Mechanics – Living Years – Rezension

Im Jahr 1988 erscheid das zweite Album von Mike + The Mechanics, das erneut große Erfolge feiern konnte. Die Rezension dazu entstand aber erst im Oktober 2020 und beleuchtet auch die Bonus-Tracks der Deluxe Edition.

Das zweite Album von Mike Rutherford und seinen Mechanikern erschien (je nach Ort auf der Weltkarte) zwischen 14. November 1988 und Februar 1989 und kam in Deutschland erst ab 13.3.89 für 13 Wochen in die Charts, die höchste Position war Platz 16 (UK#3; US#13). Die Platte erreichte Gold in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada, damit ist sie das kommerziell erfolgreichste Album der Band (von der Compilation Hits abgesehen).

Außerdem ist auch die erfolgreichste Single, die Rutherford außerhalb von Genesis veröffentlicht hat, enthalten. Es war nicht die erste Single im Oktober 1988: Nobody’s Perfect (UK#80; US#63), sondern der zwischen Ende Dezember und Februar (in D am 27.1.89) veröffentlichte Song The Living Years mit Platz 13 hierzulande und UK#2, US#1. Schließlich kam noch im April Seeing Is Believing (US#62) und im Mai/Juni Nobody Knows (UK#81).

Neben dem Stammpersonal der Band, Adrian Lee (Keyboards) und Peter Van Hooke (Schlagzeug), sowie den beiden Sängern Paul Young und Paul Carrack, waren noch eine Reihe von Gastmusikern an Keyboards und Perkussion beteiligt. Zu nennen ist außerdem Alan Murphy an der Gitarre, der vielleicht von Kate Bush bekannt ist und nur ein Jahr später verstarb. Produziert wurde das Album von Mike Rutherford und Christopher Neil.

Die Songs wurden etwa zur einen Hälfte von Rutherford und B. A. Robertson und zur anderen von Rutherford und Neil geschrieben. Bei zwei Stücken bekommt auch Paul Young Songwritercredits.

Das Songwriting begann 1987 eher beschwerlich, da Rutherford sich nach dem Tod des Vaters und einer schwierigen Geburt seines dritten Kindes nicht inspiriert fühlte. Das ändert sich dann jedoch und im Sommer 1988 konnte die Platte aufgenommen werden.

Zum Vergleich ein paar Alben, die ebenfalls Ende 1988/Anfang 1989 erschienen sind: Green von REM, Roxette mit Look Sharp!, die Bangles und Everything, Pet Shop Boys mit Introspective, Mystery Girl von Roy Orbison sowie The Raw & The Cooked der Fine Young Cannibals.

Damit ist ganz gut der Rahmen abgesteckt, in dem sich Mike und die Mechaniker bewegten: zwischen eher schlichtem Hitparadenpop und etwas ausgefeilterem handgemachten Rock.

Die Tracklist:

CoverCD1:

01 Nobody’s Perfect
02 The Living Years
03 Seeing Is Believing
04 Nobody Knows
05 Poor Boy Down
06 Blame
07 Don’t
08 Black & Blue
09 Beautiful Day
10 Why Me?

CD2 (Bonus-CD – Release 2014):

01 The Living Years 2014
02 Seeing Is Believing (live)
03 Don’t (live)
04 Black & Blue (live)
05 Silent Running (live)
06 Par Avion (live)
07 Take The Reins (live)
08 Nobody’s Perfect (live)
09 A Call To Arms (live)
10 Beautiful Day (live)
11 Hanging By A Thread (live)

In diesem Text geht es um die 2014 erschienene 2CD Variante, die 2018 noch einmal im Rahmen eines Boxsets, das auch Vinyl beinhaltete, wiederveröffentlicht wurde. Sie kam 2014 kurz vor Mike Rutherfords Autobiographie The Living Years (der deutsche Titel lautete: Rhythmen des Lebens) heraus. Nicht ohne Grund trägt jenes Buch den gleichen Titel, angemerkt sei aber, dass der Buchtitel nicht wegen des großen Erfolgs der gleichnamigen Single gewählt wurde. Und umgekehrt ist das Album im Buch nur auf sehr wenigen Seiten Thema.

Das Albumcover ist in der Remaster-Version unerfreulicherweise blassblau statt schwarz-weiß. Dabei ist die Gischt kaum noch zu erkennen. Der Gesamteindruck war vorher auf jeden Fall besser, wenngleich die Idee, eine kleine helle Person inmitten der großen dunklen Person, die sich mit Schirm der Witterung ausgesetzt sieht, darzustellen, zwar gut ist, aber graphisch schon vorher nicht überzeugt hat.

Die Linernotes zur neuen Ausgabe wurden geschrieben von Mario Giammetti. Inhaltlich handelt es sich um einen kurzen Abriss der Bandgeschichte, ein Interview mit Mike zum Album und Kommentare zu einigen der Songs.

Die Songs im Einzelnen:

Nobody’s Perfect beginnt mit Keyboard-Sounds, die klingen als wenn jemand auf Flaschen und Dosen herumhauen würde. Das irritiert erstmal etwas, es ist ein grober Einstieg ins Album. Schnell jedoch geht der Song in einen atmosphärischen Poprocksong mit ein paar guten Gitarrenparts, sehr eindringlichem Gesang und im Refrain deutlich hörbaren Keyboardteppichen über. Nach dem ersten Solo und einem abwartenden Mittelteil ist man gut eingestimmt auf das Album.

The Living Years kennt vermutlich jeder. Die Gitarren erinnern hier durchaus an Genesis ab Abacab-Zeiten, der einfühlsame Gesang, Chöre und die Keyboarduntermalung geben dem ganzen eine dem Text angemessene Instrumentierung. Der Song handelt vom Tod des Vaters und dem Gefühl, ihm fremd gewesen zu sein. Er wurde von Rutherford und Robertson zusammen geschrieben, allerdings hatte Rutherford – dessen Vater einige Monate zuvor gestorben war – nichts mit dem Text zu tun. Und er war sich anfangs unsicher, ob das Thema nicht zu heftig für einen Popsong sei. Verständlich auch, wenn manche Menschen dieses Lied als zu schnulzig oder seicht empfinden. Das Stück wurde für mehrere Grammys nominiert und später von diversen anderen Künstlern gecovert.

Mit Seeing Is Believing sind wir dann sehr deutlich in den 80ern angekommen. Neben dem schon zuvor vorhandenen Schlagzeugsound, der nach Plastikkarton klingt, wirkt hier auch der Bass sehr synthetisch. Unterlegt ist das erneut mit reichlich Keyboards und einer schrammeligen Gitarre, die aber sehr schwachbrüstig rüberkommt. Somit muss man sagen, dass dieses Stück heutzutage veraltet bzw. zeittypisch für damals wirkt.

Nobody Knows ist für mich der zweite Teil von The Living Years: von der Stimmung ähnlich, auch wenn es um Beziehungsprobleme geht. Die sanften Keyboards dominieren und passende Gitarrentupfer garnieren den Song, der im Refrain dann sogar ein bisschen mehr nach vorne geht, vor allem weil Gesang und Drums im Mix nun weit mehr zu sagen haben. In der Bridge gibt es ein kleines quasi-Gitarrensolo und insgesamt kann man von einem schönen Popsong sprechen.

Poor Boy Down hat deutlich mehr Dynamik. Ein fetter Synthierhythmus, im Vordergrund agierende Keyboards und etwas kräftigere Drums leiten den Song ein. In der Strophe und im Refrain steht dann zwar die Gitarre im Hintergrund, dafür weiß der kraftvolle Gesang zu gefallen. Eigentlich ein Tanzsong mit funky Disco-Feeling, man wundert sich, dass er nicht als Single ausgekoppelt wurde.

Blame orientiert sich von der Instrumentierung her offenbar an (damals) aktuellen Synthiepop Acts. Gitarren sind nahezu nicht zu hören – bis auf ein Solo. Der Gesang steht erneut sehr im Vordergrund und die Drums treiben das Lied voran. Da es aber trotzdem nicht so besonders eingängig ist, kann man wohl eher von eigenwillig sprechen.

Bei Don’t klingen die Drums wie programmiert, ebenso wie der Bass. Der vermutlich angedachte Spannungsaufbau mit ruhigeren Strophen und pompösen Refrains zündet zumindest bei mir nicht. Letztlich das schwächste Stück des Albums.

Black & Blue weiß durch einen organisch klingenden Bass sowie sehr viele Backgroundchöre und den emotionalen Gesang zu gefallen. Damit kommt es soulig daher und fällt ein wenig aus dem Rahmen. Das Stück kann ich mir sehr gut auf einer Paul Carrack-Soloplatte vorstellen, auch wenn hier tatsächlich Paul Young singt. Es enthält außerdem ein Sample, das Tony Banks zuvor mit Genesis aufgenommen hatte. Später zeigte Rutherford sich nicht mehr ganz überzeugt davon, dass der Song wirklich funktioniert.

Mit Beautiful Day geht es dann weiter wie vorher, zumindest was den synthetischen Bass und die Drums angeht. Immerhin sind ganz gute Gitarrenakkorde zu hören (und auch ein Solo später) und die Gesangsmelodie ist ein Ohrwurm. Somit ein guter Popsong, der leider etwas unmotiviert ausgeblendet wird.

Why Me? ist das längste Stück der Platte, ein hymnischer Song, die am ehesten in Richtung von Genesis-Material geht. Neben der guten Gesangsleistung von Carrack hat das Stück eine epische Qualität, auch wenn die Instrumentierung vorwiegend aus Keyboards und Effekten besteht.

Mike + The Mechanics 1988

Insgesamt kann man der Scheibe ohne Zweifel einen relativ einheitlichen Sound und zwei hervorragende Sänger attestieren. Eine melancholische Stimmung durchzieht die Songs, gleichzeitig ist es Musik aus der Zeit (80er), was sich am Schlagzeugsound und den vielen Keyboards festmachen lässt. Ob das als Ganzes für den neuen Hörer heute noch interessant ist, kann man bezweifeln. Damals jedoch strahlte das Album eine eigene Atmosphäre aus und war für den am Genesisumfeld Interessierten unbedingt hörenswert.

Klingt das Album 2014 anders als früher? Dazu sei zunächst gesagt, dass es sich um ein Remaster handelt, keinen Remix. Die Meinungen im Netz gehen stark auseinander, das Remaster hebe die Stärken des Albums hervor bzw. ruiniere es, ist zu lesen. Ich finde den Unterschied nicht gravierend und pendele mich daher in der Mitte ein: das Remaster bietet weder entscheidende Vor- noch Nachteile gegenüber der ursprünglichen Version.

Da es bisher kein Livealbum von Mike + The Mechanics gibt, kommt der Fan mit der zweiten CD in den Genuss eines solchen. Leider ist nicht angegeben, von welchen Auftritten die Songs stammen. Im it-Interview sagte Mike, dass es Konzerte in den USA gewesen seien.

Doch zunächst hört man die neue Version von The Living Years, die ein Remix mit neuen Backingvocals und vor allem dem neuen Gesang von Andrew Roachford ist, der inzwischen Leadsänger der Mechanics war. Die Neuaufnahme ist mit einem mystischen Intro ausgestattet und unterscheidet sich im weiteren Verlauf außerdem von der alten Version durch wabernde Elektronik und einen Chor. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Roachford dem Song nicht die Intensität zu geben vermag wie Carrack. Außerdem tun ihm weder der Gospel-Touch noch die gepimpten Effekte dem Song gut. Zumindest dann nicht, wenn man ihn bereits vorher kannte.

Die ersten der Livesongs sind vom Sound her nicht optimal, keine Walkman-Aufnahme, aber vergleichbar mit weniger gut ausgesteuerten Radiokonzerten. Ab Silent running klingt alles etwas ausgewogener im Mix. Man hört rockigere, echtere Drums, überhaupt mehr Bandfeeling als bei den Studioaufnahmen, manchmal etwas rumpelig, aber der Gegensatz zur Studioversion ist interessant. Dafür klingt das dann allerdings weniger zeittypisch (sprich: weniger nach Ende der 80er). Somit lässt sich sagen, dass die Livesongs gerade wegen des Unterschieds zur Studioversion zu gefallen wissen, ohne dabei direkt besser zu sein als die Urversionen.

Man kann sich fragen, wieso die B-Seiten der Singles fehlen. Kurz vorher wurde die Zusammenstellung The Singles 1985-2014 veröffentlicht, auf deren zweiter CD alle B-Seiten der Band zu finden sind. Sehr gut!

Nicht dabei sind hingegen die unterschiedlichen Versionen der Songs, so dass von Nobody’s Perfect die Single version, die Edit version und die Extended version fehlen und von Nobody Knows der Edit. Außerdem war auf einer Single eine Liveversion von I Get The Feeling, die nicht mit derjenigen auf The Singles 1985-2014 übereinstimmt.

Ab Februar 1989 begannen Mike & The Mechanics eine ausgedehnte Tour, die mit einer Unterbrechung im Mai/Juni bis August durch Europa (zuerst) und Nordamerika (danach) führte.

Bei Amazon und JPC ist die 2CD als Rerelease günstig zu bekommen!

Harald Köhncke
(Oktober 2020)