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John Hackett – The Piper Plays His Tune – Rezension
Ende 2020 veröffentlichte Steves Bruder John Hackett ein neues Rockalbum – gewissermaßen auch ein Lockdown-Album. Thomas Jesse hat intensiv zugehört.
oder Brother John und Corona – Kurze Einblicke in John Hacketts neues Album.
Vorbemerkung:
Dem geneigten Genesis-Fan wird Steve Hacketts „kleiner“ Bruder John kein Unbekannter sein. War er doch indirekt an Steves Bewerbung bei Genesis beteiligt1, spielte auf zahlreichen Solo-Alben seines Bruders und in dessen Bands Flöte und weist selbst ein großes künstlerisches Ouevre auf.
Für mich trat er ironischer Weise mit dem gemeinsam Album Sketches Of Satie aus dem Schatten seines Bruders. Sein dortiges Flötenspiel und seine Arrangements sind umwerfend.
Nicht nur hier zeigt sich seine große Bandbreite. John Hackett ist im New Age (mit der Band Symbiosis) zu Hause, spielt Klassik und akustische Musik, hat eine eigene Rockband und ist offen gegenüber Einflüssen aus dem Prog, Jazz oder Folk.
Vor allem in England ist er vor der Pandemie und ihren Auswirkungen oft live unterwegs gewesen. Der Lockdown unterbrach nicht nur diese Aktivitäten, auch die Studio-Aufnahme eines Bandalbums fiel diesem zum Opfer.
John Hackett machte aus der Not eine Tugend: „So I decided to try and put something together with me singing and playing all the parts“2
Er spielt und singt nicht nur die Musik alleine, sondern kümmerte sich auch um Mix und Produktion.
Albumtitel und Gestaltung:
Howard Sinclair gestaltete das Digipak. Johns Frau Katrin steuerte Fotos bei. Das Cover zeigt John Hackett mit Kappe und Maske in den Händen neben einem Laufband in einem U-Bahn-Tunnel, oder einem Flughafen-Gateway. Das Coverfoto ist künstlerisch bearbeitet worden. Vom Hintergrund sind nur vage die Umrisse zu erkennen, lila Farbsprengsel hellen diesen und John im Vordergrund auf. Man könnte an ein verblichenes Foto, oder Dia denken. Die Welt durch Corona in Auflösung? Symbolisiert durch das Bild eines verloren wirkenden, einsamen Mannes auf einem Verkehrsweg? Verblasst die gewohnte Bewegungsfreiheit?
Das schwarz/weiße Innencover zieren Linernotes und John mit Gitarren und Flöte. Die Songlyrics kann man sich auf Johns Homepage Hacktrax3 herunterladen.
Die Songs:
Masters Of My Past (4:40)
Das Lied eröffnet mit einem Orgelpart. Es setzen warmer Gesang, Bass und Schlagzeug ein. Uns wird von Erinnerungen an staubige Bücher, Kreidewolken und geheime Blicke berichtet. Der Refrain, dessen erster Vers von Victoria im Regen erzählt4, wird schnell zu einem Ohrwurm. Ab Minute 1:30 beginnt ein unspektakuläres Gitarrensolo, das schließlich Melodie und Gesang begleitet.
Als der Refrain wieder anklingt, fühlt sich der Hörer endgültig in Victoria im Regen gefangen, an die schöne Vergangenheit, die von der modernen hektischen Welt abgelöst wurde, denkend. Ein melancholisches Stück Musik, das zum Ende ein eine leicht progressive Steigerung mit Taktwechsel erfährt. Bass und Schlagzeug treiben das Lied bei Minute vier in ein sanftes Fadeout.
Broken (4:34)
Klavier und ein unaufgeregter, sehnsuchtsvoller Gesang beginnen den Refrain anzustimmen. Hört sich nach einem neueren Stück von Bruder Steve an. Synthi-Streicher begleiten Bass, und Piano bis bei Minute 1:44 eine „plinkernde“ Gitarre einsetzt. Endlich, bei Minute 2:20 löst sich die Trauer um eine zerbrochene Liebe in einem herrlichen, kurzen Flötensolo auf. Eine halbe Minute später erklingt wieder der Refrain, um in einem Gitarrensolo aufzugehen. Es gesellen sich Klavier und Flöte dazu und bringen die Weise von einer zerbrochenen Liebe zum verklingen. John singt in dem Song richtig schön und man nimmt ihm das Leid ab. Hier ist er ganz nah bei Steves Werk.
In Love (4:45)
Nun wird es fröhlicher, die Liebenden finden zueinander. An Steve Hacketts Defector-Zeit erinnernd wird locker los musiziert. Kaum zu glauben, dass alle Instrumente von John selbst gespielt werden! Ein Orgelpart erinnert ein wenig an Genesis zu Foxtrot – Zeiten. Breaks von einer an Wellen denkenden Flöte, Gitarren und Bass zeigen Johns Affinität zum Progressive-Rock.
Crying Shame (5:14)
Welch ein wunderschönes Flötensolo eröffnet eines der Schlüsselstücke des Albums! In dem Lied wird über das schändliche Tun des Menschen auf diesem Planeten gesungen. Läutet der Flötenspieler das Ende der Menschheit ein, will er mahnen, dass wir so nicht weitermachen können? Herrliche an King Crimsons erstes Album erinnernde Flöten – Parts, schöne Gitarrensoli, toller Bass, Harmoniegesang und ein unaufgeregtes Schlagzeug aus der Dose krönen das Stück, in dem wir den Vers finden, der dem Album seinen Titel gibt. John zeigt, dass er auch sehr gut das Gitarrenspiel beherrscht.
Broken Glass (4:53)
Dunkle Pianoklänge leiten ein ruhiges Lied mit gelegentlichen Ausbrüchen durch den Gesang ein. Der Sänger läuft durch die Straßen, vorbei an die hektisch durch die Gegend eilenden nur an sich denkenden Menschen, die er am liebsten wachrütteln würde, um innehaltend, sich besinnend an das wichtige im Leben zu denken. Minuten später ist die Szene eine andere: Der Protagonist bewegt sich durch die nun leeren Straßen des Lockdowns und vermisst die Menschen, die alles ums ich vergessend ihren Geschäften nachgehen. Nun muss er sich zwingen, das Schöne im Leben wahrzunehmen. Es fühlt sich wie barfußgehen über zerbrochenes Glas an. Wer trägt daran die Schuld? Der Break bei Minute zwei mit Gitarre und Oboe (?) ist so traurig, dass er zu Tränen rührt. Die Gitarre beschließt solistisch das Stück.
Julia (3:28)
Ein sanfter Poprocker lässt an die Strawbs der End-Siebziger, Al Stewart, oder die Beatles denken. Ein schöner Rhythmuswechsel im letzten Drittel des Songs ist auffällig. Er beschreibt die Erinnerung an eine Königin der Highschool, von allen Jungs angehimmelt, Party machend, dem Alkohol verfallend für den Protagonisten unerreichbar, die schließlich doch nur eine „alltägliche“ Beziehung führen wird. Hätte sie doch damals bloß den Protagonisten erhört. Fanfarenartige Keyboards leiten das Ende ein.
To Late For Dreamers (4:06)
Eine kleine, sentimentale Weise über die Unbesorgtheit der Jugendzeit des Jahres 1963. „plinkernde“ Gitarre, Piano, akustische Gitarre und ein traumhaftes Flötensolo stimmen einen augenzwinkernden Song an, der Spaß macht, vor allem das Pfeifen, mit dem er endet.
Clown (2:50)
Das kürzeste Stück leitet die letzten drei Lieder des Albums, die sich musikalisch fröhlicherer als o.g. Vorgänger um das Auf und Ab der Liebe drehen, ein.
Ein spaßiger Rock’n Roller mit angenehmem Gesang, kurzem Gitarrensolo und schöner Melodie.
Loved You (4:35)
Na, das hört sich aber leicht nach einer Mischung aus Alan Parsons Project und Mike & The Mechanics an. Ein Liebeslied, in dem sich der Verlassene die Frage stellt, warum die Beziehung enden musste. Ein viel zu kurzes Gitarrensolo beschließt den locker-flockigen Popsong.
There You Go Again (4:54)
Akapella-Gesang wird schnell von einem Piano begleitet, bis sich die anderen Instrumente einreihen. Eine schmunzelnde Melancholie entsteht, die ab 2:40 durch einen Ausflug in barocke Kammermusik durchbrochen wird. Johann Sebastian Bach steht Pate. Ein Auf – und Ab der Melodien und Tempi erinnern an Gentle Giant, aber soft! Eine schöne akustische Gitarre, leider zu kurz, beenden Song und Album.
Zusammenfassung:
John Hackett ist ein von ruhiger, melancholisch-sentimentaler Grundstimmung geprägtes, zurückhaltendes Album gelungen, das den Hörer entspannt lauschen lässt. Überraschend wenige, aber wundervolle Flötensoli setzen Farbtupfer. Johns virtuoses Gitarrenspiel, sein angenehmer Gesang, sowie seine Fähigkeiten mehrere Instrumente zu spielen, überraschen. Es fehlen die langen Soli und ausufernden Kompositionen seines Bruders. Dadurch wirken die zwischen vier und fünf Minuten langen Lieder organisch, nicht um Effekte bemüht, oder zusammengestückelt. Die Songlyrics drehen sich um die Liebe, Jugenderinnerungen und die Auswirkungen des menschlichen Handelns auf der Erde, dessen Ergebnis u. a. die Corona-Epidemie ist. Der Aufbau, die Struktur der Stücke ähnelt sich. Neben dem sind die synthetischen Drums und der manchmal nicht sehr ausdrucksstarke Gesang vorsichtig zu bemängeln.
Dennoch ein empfehlenswertes Album zwischen Pop und Rock, Prog und Klassik, Folk und Songwriter. Wem die melodische, songorientiertere Seite von Steve Hackett gefällt, keinen ambitionierten Prog, oder straighten Rock erwartet, dem wird der Flötist oft seine schönen Melodien vorspielen.
Kurz, ein Album zum konzentriert zu – aber auch nebenbei – hören.
Autor: Thomas Jesse
The Piper Plays His Tune ist als CD im Digipak direkt auf der Website von John Hackett erhältlich. In Deutschland ist das Album bei JustForKicks erhältlich.
Anmerkungen:
*1 siehe u.a. Steve Hackett, A Genesis In My Bed, Bedford 2020, S.58: Steve spielte z. T. mit John Tony und Peter Songs vor.
*2 Linernotes zum Album
*3 https://hacktrax.co.uk/
*4 Welches Victoria ist gemeint? Die Hacketts wuchsen in Pimlico, London auf. Victoria, benannt nach der Bahnstation ist Pimlico benachbart, beide sind Teil der City of Westminster, die Londons Mitte bildet.