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Jack Lancaster & Robin Lumley – Marscape (feat. Phil Collins) – Rezension
Das zweite Projekt der beiden Science Fiction-Fans Jack Lancaster und Robin Lumley wurde anlässlich der im September geplanten Landung der Viking 2 Explorer der NASA auf dem Mars komponiert und konzipiert. 2022 erfolgt eine Neuauflage (remastered).
Anlässlich der erstmals von den Originalbändern remasterten 2021/22er Neuauflagen der beiden Lancaster/Lumley-Alben auf Esoteric Recordings, lohnt es sich vor allem für Fans der Zweitband von Phil Collins in den 70ern – Brand X – einmal genauer in diese Werke von 1975 und 1976 reinzuhören, denn hier spielt der komplette Brand X-Clan die Musik! Es dürfte bekannt sein, dass Tastenmann Robin Lumley einer der Gründungsmitglieder von Brand X war, aber Saxophonist und Bloodwyn Pig-Mitbegründer Jack Lancaster ist wohl nicht jedem ein Begriff. Doch auch er gehörte, neben vielen anderen musikalischen Aktivitäten, von Anfang an mit zum engsten Kreis des Musiker-Kollektivs. Ein diesbezüglich sehr aufschlussreiches Interview mit ihm gibt es auf DME – Let It Rock zu lesen.
Lancaster und Lumley hatten bereits Ende der 60er gemeinsam an Musik zu Kurzfilmen der Rank Organization gearbeitet, und beide sind erstmals auf dem Titel-Song des 1974er Debüt-Albums First Starring Role von Lancasters damaligen Bandkollegen bei der Mick Abrahams Band, Bob Sargeant, zu hören. Zu dieser Zeit hatte sich mit den beiden eine Live-Jam-Band namens Karass formiert, der neben Drummer Chick Webb auch ihr gemeinsamer Basser-Freund Percy Jones und der Atomic Rooster-Gitarrist John Goodsall angehörten. Der Kreis erweiterte sich durch variierende Musiker-Gäste bei Live-Gigs und irgendwann verlagerte man diese Jams auch in die Island Studios, wo sich schließlich im Laufe des Jahres die sechsköpfige Urbesetzung von dem, was später Brand X werden sollte, herauskristallisierte – allerdings ohne Lancaster. Und nachdem zum Jahreswechsel Phil Collins als neuer Drummer in das Kollektiv eingestiegen war und noch im Winter erste Aufnahmen gemacht wurden, kam es durch Collins‘ Verpflichtungen bei Genesis im Frühjahr 1975 zu einer Zwangspause, welche Lancaster und Lumley nutzten, um ihre Songwriter-Partnerschaft zu vertiefen.
Zum ersten Album Peter And The Wolf haben wir bereits einen separaten Artikel veröffentlicht.
Nach ersten Brand X-Live-Gigs im Wirnter mit u.a. Bill Bruford als Gast-Percussionisten, kommt es im Frühjahr 1976 wieder zu einer Collins-bedingten Auszeit, als die beiden Rhythmiker mit Genesis tourten, und die zu überbrückende Zeit vom Songwriting-Gespann Lancaster/Lumley erneut genutzt werden konnte, um in Frankreich an ihrem nächsten gemeinsamen Album namens Marscape zu arbeiten. Dieses Projekt der beiden Science Fiction-Fans wurde anlässlich der im September geplanten Landung der Viking 2 Explorer der NASA auf dem Mars komponiert und konzipiert. Die Aufnahmen dafür fanden schließlich im Sommer mit der Unterstützung der kompletten Brand-X-Truppe statt, die sich zwischen Live-Gigs und BBC-Sessions für drei Wochen wieder in den Trident Studios verschanzte.
Neben den Skills der bewährten Mitstreiter Goodsall, Jones und Collins, die die Basis für die Aufnahmen bildeten, zählen Lancaster und Lumley auch wieder auf die Unterstützung weiterer Gastmusiker, wie beispielsweise Morris Pert an den Percussions, den Lumley schon von anderen Produktionen kannte, oder einmal mehr Lancasters Songwriting-Kollege Bernie Frost für einige Gesangs-Einlagen.
01 Take Off (Into Earth Orbit) (3:09)
Das Album beginnt mit Synthie-Drone-Bass und einem Klangholz-Countdown, um schließlich mit mächtigem Gong-Gewitter Richtung Himmel „abzuheben“. Durch die Erd-Atmosphäre begleiten uns Robin Lumleys Synth-Strings, die langsam verstummen. Im Orbit angekommen hören wir zunächst ein minimalistisch gestrichenes Kontra-Bass-Motiv von Percy Jones mit einigen Synth-Tupfern, um schließlich mit Arpeggios auf Rhodes Piano und gezupftem Kontra-Bass-Groove auf die Reise einzustimmen.
02 Sail On Solar Winds (The Journey) (2:48)
Ein musikalisches Leit-Thema wird hier von John Goodsalls Gitarre und Morris Perts Glockenspiel eingeführt, und nach einem Trommelwirbel von Phil Collins geht’s ab á la Brand X! Ein schwerer Groove mit wirklich sehr rasant gespielter Hi-Hat und schrägem Gitarren-Arpeggio bilden die Basis für die Melodie-Linie von Jack Lancasters Sopran-Saxophon und die Stimme von Bernie Frost. Nach erneutem Wechsel zum Leit-Thema folgt ein Improvisationsteil unter anderem für Lumley auf dem Moog-Synthesizer. Bevor man mit mit unisono gespielten Riffs die Ankunft ankündigt…
03 Arrival (Into Martian Orbit) (1:51)
Mit meditativem Piano-Spiel von Lumley nähern wir uns dem Mars…
04 Phobos And Deimos (The Twin Moons Of Mars) (4:45)
Die beiden Mars-Monde werden zunächst mit zackigem Marsch-Groove, Moog-Thema und Lancasters schnellen Violinen-Einwürfen begrüßt. Es folgt ein Teil mit entspannter Moog-Melodie, um dann in einem langsamen Groove mit sich steigernden, mächtigen Piano-Chords zu münden, über die Lumley solieren darf und mitunter von Frosts Stimm-Einwürfen untermalt wird.
05 With A Great Feeling Of Love: Inner Warmth And Feeling Of Affinity (2:50)
Mit sphärischer Hammond-Orgel und Rhodes-Klängen fühlt man sich gleich in einen Schwebezustand versetzt, und in jenem erfreut uns Lancaster mit entspannten Melodiebögen auf Lyricon und Tenor-Sax, eingebettet in sparsamen Rhodes-Piano-Akkorden und unaufdringlichem Bass-Spiel von Jones.
06 With A Great Feeling Of Love: Outer Cold And Icy Silence (2:12)
Man hört fast nur noch den Herzschlag pulsieren, und minimalistische Piano-Tupfer samt kaum wahrnehmbarer Bass-Sounds…
07 Olympus Mons (5:19)
Die nächsten fünf Minuten sind dem beeindruckenden Mars-Vulkan gewidmet. Zunächst noch ein hektisch gespielter Groove von Lumley, Jones, Goodsall, Collins und Lancaster im Wechsel von 4/4- zu 5/4-Takten, über den es ein lässiges Sax-Solo von Lancaster zu hören gibt (Foothills), unterbricht ein Gong-Schlag den Fluss, um in ein Piano-Solo begleitet von Chor-Stimmen und allerhand Lava-Geblubber überzugehen (Memories Of Lava Flows). Ein weiterer Gong-Schlag leitet in einen flotten Brand Xigen Jazzrock-Teil über, in welchem sich Goodsalls Gitarre und Lumleys Moog ein ausgedehntes Battle liefern, der einem Vulkanausbruch in nichts nachsteht (Twenty-Five Kilometres High). Abrupt endet das Schauspiel…
08 Homelight (Reflecting On Distant Earth) (3:25)
Ein rasant gespieltes Intro auf akustischer 12-String-Gitarre leitet diesen Blick Richtung Heimat ein, der sich zunächst wieder dem Leit-Motiv von Solar Winds bedient, um dann in den entspannten Piano-Teil von Arrival zu wechseln, dieses mal mit Begleitung von Jones typischem Bass-Spiel, und Goodsalls Picking auf 12-String-Gitarre, welche dann auch für ein melodisches Solo zum Einsatz kommt, eingebettet von sanften Violinen-Akkorden. Man landet wieder beim Solar Winds-Motiv und zum Abschluss noch einmal beim Arrival-Teil…
09 Hopper (4:30)
Ein drolliger Synth-Bass-Groove im 9/8-Takt mit Perts Percussion-Begleitung eröffnet diese fröhlich gestimmte Nummer über die Mars-Hopper. Es steigen Collins und Goodsall im 4/4-Takt mit ein, was bei manchem Hörer für Verwirrung sorgen dürfte. Allerdings fast schon Schlager-ähnlich wird mit Lyricon, Moog und Gitarre ausgiebig darüber soliert. Das Outro grooven Collins und Pert alleine…
10 Dust Storm (3:27)
Psychedelisch geht’s hier zur Sache, wenn sich Pert steigernd an seinem Percussion-Arsenal austobt, bis sich schließlich Collins, Goodsall und Jones hektisch eingrooven, um sich später wieder auszugrooven.
11 Blow Holes (The Pipes Of Mars) (3:04)
Windig beginnt dieses experimentelle Stück über röhrenartige Gebilde auf der Marsoberfläche, das neben minimalistischem Synthbass-Groove und begleitenden Percussions vor allem von Lancaster harmonisch geblasenen Flaschen, Pan-, Alt- und Bambus-Flöten geprägt ist. Auch das von Simon Jeffes gespielte Koto kommt hier zum Einsatz.
12 Realisation (6:11)
Sehr balladesk mit Hammond-Orgel und Piano-Akkorden beginnt der längste Track des Albums, zu welchen sich schon ein fast Gospel-ähnlicher Chor und Jones Bass gesellen. Doch diese Idylle wird durch Lumleys einsetzenden, aufrüttelnden Staccato-Piano-Groove unterbrochen, welcher sich mit Einsatz von Drums und Bass allmählich steigert. Es folgen die den Piano-Akkorden unterstützende Streicher und Melodiebögen auf dem Moog, bis auch noch Goodsalls Gitarre – on top- das Solar-Winds-Motiv zitiert. Das mittlerweile zum Bombast gewachsene Stück wird für einige Solo-Einlagen von Lyricon, Moog und zuletzt auch Saxophon genutzt. Man reduziert zunächst noch einmal das Arrangement um Chor-Stimmen Platz zu geben, um dann gemeinsam zu entschwinden.
13 Release (2:21)
Minimalistisch geht es bei dem abschließenden Stück zu: zwei von Lumley auf AutoHarp gespielte Akkorde wechseln sich variationsreich ab, und Lancaster spielt ein entspanntes Flöten-Solo darüber.
Wäre hier das eigentliche Album zu Ende, bekommen wir mit dieser Neuauflage einen Nachschlag mit zwei Bonus Tracks, die offensichtlich für eine Single-Auskopplung vorgesehen waren, aber letzten Endes bis jetzt unveröffentlicht blieben.
14 With A Great Feeling Of Love (Single Version) (3:34)
Hier haben wir es mit einer eigenständigen Aufnahme zu tun. Der zweite Teil des sparsam instrumentierten Tracks With A Great Feeling Of Love: Inner Warmth And Feeling Of Affinitybildet hierfür die Basis und wird mit Drums, Chor-Gesang und Streichern ergänzt und in der Wiederholung zu einem längeren Stück ausgebaut.
15 Hopper (Single Version) (3:20)
Bei diesem Edit wird der ansonsten 4:30 lange Track lediglich um mehr als eine Minute an verschiedenen Stellen gekürzt. Collins Outro ist hier ein hall-freier, straighter 9/8-Groove – wahrscheinlich von der Drumspur des Tracks geklaut und ans Ende geklebt.
Fazit:
Das Ende 1976 erschienene Marscape, welches auch hier dankenswerterweise frisch restauriert im Digipak präsentiert wird, lässt sich nicht direkt mit dem Vorgänger-Album von Lancaster und Lumley vergleichen. Zum einen ist hier die beteiligte Truppe viel überschaubarer, was den Sound insgesamt einheitlicher macht. Das Thema der Platte ist auch ein ganz anderes: „fröhliche“ Musik ist hier bis auf wenige Momente nicht zu hören, sondern es wird viel atmosphärischer und dynamischer arrangiert, um die Unheimlichkeit des Weltraums und Fremdartigkeit eines entfernten Planeten einzufangen.Allerdings erkennt man noch deutlicher die „Marke“ Brand X, denn die Musiker haben es sich nicht nehmen lassen, die Vorlage von Lancaster und Lumley in Jam-Sessions nach eigenen Vorstellungen zu modifizieren – das machte das Konzept-Album sicher noch homogener. Auch ist es äußerst interessant, wie man förmlich spüren kann, wie sich ein eigenwilliger Percussionist mit Profil wie Morris Pert sich in die Herzen der X-Boys spielt. Unmittelbar nach den Aufnahmen wird er als Nachfolger von Live-Unterstützung Preston Heyman festes und fünftes Mitglied bei Brand X!
Mit den beiden Alben endete die Zusammenarbeit von Jack Lancaster und Robin Lumley allerdings noch nicht. Zwar wurde das nächste, für 1978 geplante Lancaster/Lumley-Projekt Earth Sounds, für welches beide um die Welt reisen wollten, um Naturklänge aufzunehmen, offensichtlich aus Zeitgründen verworfen, aber anstatt dessen produzierte Lumley zum einen das Solo-Album Moving Home von Rod Argent, bei dem auch Lancaster mitwirkte, und zum anderen zwei Tracks für das selbstbetitelte Debüt-Album von Lancasters neuer Formation Aviator, bestehend aus Lancaster, Mick Rogers (Manfed Mann’s Earthband), Clive Bunker (Jethro Tull, Bloodwyn Pig) und John G. Perry (Caravan, Quantum Jump).
Und im Folgejahr spielte und produzierte Lumley für Lancasters Solo-Album Skinningrove Bay, auf dem auch Phil Collins ein Stück namens Deep Green (später in The Whale’s Song umbenannt) einsang und auch wieder bereits erwähnte Kollegen wie Gary Moore, Bernie Frost, Mick Rogers, Clive Bunker, John G. Perry und Rod Argent mitwirkten.
Autor: Steffen Gerlach
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