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Interview mit Noel McCalla in Fulda 2000
Am Rande eines Konzerts der Manfred Manns Earth Band in Fulda hatte Helmut Janisch Gelegenheit, ein kurzes Interview mit Noel McCalla zu führen.
Obwohl Smallcreep’s Day, Mike Rutherfords Solo-Debut, mit zu den beliebtesten Alben von Genesis & Co. gehört, ist vermutlich den wenigsten Genesis-Fans der hervorragende Sänger dieser Veröffentlichung, Noel McCalla, näher bekannt. Wir trafen den netten Engländer, den man optisch eher in die Reggae-Schublade stecken würde, am 18. August 2000 in Fulda vor einem Konzert von Manfred Mann’s Earth Band, bei der Noel seit geraumer Zeit Sänger ist, und fragten ihn all die Dinge, die uns seit Jahren auf den Nägeln brannten … und einiges mehr.
it: Könntest Du uns einen kurzen Abriss deines musikalischen Werdegangs geben?
Noel: Nun, ich begann meine Laufbahn, als ich 16 Jahre alt war, mit einer Band namens Moon, die einen Vertrag bei Epic Records unterzeichnete, und nahm zwei Platten mit ihnen auf. Und daraufhin machte ich ein Solo-Album bei der gleichen Plattenfirma. Kurze Zeit später wurde ich eingeladen, mit einer Band namens Sniff’n The Tears zu arbeiten, die in Europa erfolgreich waren. Danach begegnete ich Alphonso Johnson, mit dem auch Phil Collins arbeitete, und ich denke, daß Mike Rutherford mit Alphonso bekannt war, wodurch der Kontakt zwischen Mike und mir zustande kam. Ich war in diverse musikalische Projekte in verschiedenen Teilen Europas involviert – in wechselnden musikalischen Formen und Stilrichtungen: von Jazz über Blues bis Soul.
it: Wie ist dein familiärer Hintergrund?
Noel: Meine Eltern sind Westindier. Ich wurde in London geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Eine große Familie: vier Jungs und vier Mädels, ich bin der zweitjüngste. Während die Älteren in Jamaika aufwuchsen, kamen mein Bruder und ich in England zur Welt. Ich habe vier Kinder und wohne direkt in London, nördlich der Themse.
it: Wann hast du Geburtstag?
Noel: Ich bin Skorpion: am 4. November 1956.
it: Wie kamst du in Kontakt mit Mike Rutherford?Noel: Das kam durch Alphonso Johnson, während ich mit Sniff’n The Tears in Amerika auf Tour war – wir waren Vorgruppe von Kansas, Kenny Loggins und ein paar weiteren Bands. Alphonso rief mich an und lud mich ein, von New Orleans nach Los Angeles zu kommen, um vorzusingen, denn er hatte ein paar Songs, die er fertigstellen wollte. Dabei erfuhr ich, dass er und Mike sich kannten, und so nahm alles seinen Lauf.
it: Wir haben gehört, dass du von Genesis als Ersatz für Peter Gabriel nach dessen Ausscheiden erwägt wurdest.
Noel: Ich weiß selbst nicht viel darüber – außer dass es ein Gerücht ist, denn tatsächlich hat niemand diesbezüglich Kontakt zu mir aufgenommen. Vielleicht kann man von den Bandmitgliedern selbst mehr darüber erfahren. Lasst es mich dann wissen!
it: Was kannst du uns über die Aufnahmen von Smallcreep’s Day erzählen?
Noel: Es war überhaupt das erste Mal, dass ich ein Konzeptalbum machte. Ich mußte abschnittsweise arbeiten, und das war wirklich neu für mich. David [Hentschel, Anm. d. Red.] saß am Pult und hatte einen Plan, wo all die verschiedenen Harmoniebezeichnungen eingetragen waren, und sagte, lass uns dies so und so probieren, und wenn es o. k. war, ging es weiter zum nächsten Abschnitt des Songs. Es wurde nie ein Lied als ganzes aufgenommen, sondern immer in kleinen Abschnitten, und manchmal wußte ich gar nicht mehr, an welcher Stelle des Songs ich war. Es war also ziemlich bizarr, aber die Atmosphäre war sehr entspannt. Es ist ein großartiges Album. Es gibt Fans der Earth Band und von Genesis, die auf mich zu kommen und sagen, das es ihr Lieblingsalbum sei. Selbst unser Tour-Manager behauptet das. Ich war überwältigt, als ich das fertige Album hörte: dieser Tonumfang, in dem ich zu singen hatte – von Songs wie Between The Tick And The Tock, obwohl das noch nicht so tief ist, bis Cats And Rats: [krächzt hoch] „Cats and rats in this neighbourhood …“ Manchmal frage ich mich, ob das wirklich ich war, der da gesungen hat? Aber es war wirklich relaxt dort im Studio. Man konnte draußen sitzen und umherlaufen, mit den Männern in der Werkstatt ein Schwätzchen halten und das ganze Team war sehr freundlich. Es gab keinen Stress. Wenn ich mich müde fühlte oder meine Stimme nachließ, machten wir Schluss und arbeiteten am nächsten Tag weiter. Man konnte dort auch übernachten.
it: Fanden die Aufnahmen zusammen mit den anderen beteiligten Musikern dieses Albums, wie Anthony Phillips, Morris Pert oder Simon Phillips, statt – sozusagen als Band?
Noel: Nein, ich habe den Gesang separat aufgenommen. So ist das immer. Manchmal steigt man als Sänger in einem sehr frühen Stadium ein und hat nur einen sehr rohen, unfertigen Backing Track. In anderen Fällen sind die Sachen schon vollständiger und es wird nur noch der letzte Schliff angesetzt. So war es auch hier recht unterschiedlich. Aber ich habe keine weiteren Bandmitglieder gesehen. Das war gut, weil das Studio so nie überfüllt war und man sehr konzentriert arbeiten konnte. Da waren nur Mike und der Produzent und noch ein Techniker. Es gab also nie zuviel Ablenkung, und das hat zur Qualität des Ganzen beigetragen. Das Telefon hat nicht die ganze Zeit geklingelt, was ja vorkommen kann, und so arbeiteten wir hart – so fünf, sechs Stunden und länger am Tag.
it: Es hat dir demnach Spaß gemacht?
Noel: Ja, das hat es sehr. Dieses abschnittsweise Vorgehen war eine neue Erfahrung für mich. Im Laufe der Zeit konnte ich manche Stücke schon zusammengemischt hören, konnte mir aber doch noch kein Bild machen, wie das Album insgesamt klingen würde, weil es eben nur einzelne „Passagen“ waren.
it: Also warst du von dem Album überrascht, als es veröffentlicht wurde …
Noel: Durchaus, ja, auch weil die Produktion so gut war. Manchmal denkt man, all die harte Arbeit könnte im Nichts enden. So ist es manchmal ja auch: Man arbeitet sehr hart z. B. an Backing Vocals, und dann sind sie auf dem Album nur ganz, ganz leise zu hören. Aber hier war alles da. Es war großartig, und die schwere Arbeit hatte sich ausgezahlt.
it: Wurde zu irgendeinem Zeitpunkt überlegt, mit dem Album auf Tournee zu gehen?
Noel: Nein.
it: Was fällt dir zu Acting Very Strange ein? Es war ja ein völlig anderes Album, zumal Mike selbst sang …
Noel: … ja, er sang selbst, und ich war überrascht über diesen Entschluss. Ich denke, wenn jemand solange in einer Band, war wie er in Genesis, dann will man sein eigenes Ding so machen, wie man es eben will. Und er wollte halt selbst singen. Aber für mich war das etwas traurig, denn ich hätte gern Begonnenes fortgeführt. Nun gut, ich übernahm eine Menge Backing Vocals, aber ich konnte ja auch nicht zu ihm sagen, dass er mich dieses oder jenes Stück singen lassen sollte. Es wäre nett gewesen, wenn ich ein paar Stücke gesungen hätte und ein paar Mike und man so das Ganze etwas durchmischt hätte. Das wäre passender gewesen. Ich glaube, es ist nicht so beliebt wie Smallcreep’s Day, und vielleicht ist auch das Konzept oder das Material nicht so eindeutig. Aber so ist das mit Debut-Alben, das erste Album kann fantastisch sein, aber dann hat man entweder nicht die Zeit oder nicht die Energie, wieder etwas Gleichwertiges auf die Beine zu stellen. Man hat eben auf das erste Album jahrelang hingearbeitet. Für viele Bands ist es nicht leicht, den Level danach zu halten.
it: Welche Alben mit dir als Sänger würdest du jenen empfehlen, die Smallcreep’s Day mögen?
Noel: Die Earth Band-Alben [lacht]. Nun, das kommende Projekt-Album von Manfred Mann wäre ein Tipp. Es wird gerade aufgenommen. Es hat etwas Frisches – noch keinen Titel, bislang nur etwa fünf Stücke. Ansonsten die Live-Alben der Earth Band. Ich kann es gar nicht sagen, eben alle …
it: Hast du seither nochmal mit Mike oder jemand anderem von Genesis zusammengearbeitet?
Noel: Nein, aber ich möchte auf jeden Fall Hit & Run kontaktieren, ihre Firma, und etwas von meinem eigenen Material hinschicken. Ich bin vielleicht jemand wie Mike: ich habe über die Jahre mein Material zusammengetragen und habe das brennende Verlangen, es auch aufzunehmen. Und ich denke, daß Mike sich noch an mich erinnert und ich mich an ihn wenden kann. Also werde ich Hit & Run fragen, was sie davon halten, und kann dann vielleicht noch Mike dazu bewegen, mal Gitarre für mich zu spielen oder mir seine Meinung zu dem Material zu sagen. Das beschäftigte mich in den letzten zwei oder drei Jahren. Und in den nächsten ein, zwei Jahren sollte sich etwas ergeben und das Material eingespielt werden. Aber seit Acting Very Strange hatte ich keinen Kontakt mehr. Es ist sicher eine Schande, aber wenn ich wollte, könnte ich wieder Kontakt knüpfen, ich hatte nur eben nie einen Grund dazu.
it: Paul Young von Mike & The Mechanics ist ja leider kürzlich verstorben. Da deine Stimme der von Paul sehr ähnelt und du schon einmal mit Mike zusammen gearbeitet hast, wärst du vielleicht ein guter Nachfolger von Paul in der Band. Könntest du dir das vorstellen?
Noel: Ähm, ja!… Wenn Mike anrufen würde, würde ich ihm sagen, in welcher Situation ich mich befinde. Ich versuche, ein bißchen egoistischer zu sein. Wenn man mit erfolgreichen Bands arbeitet, hat man eben weniger Zeit für Eigenes. Sänger bei den Mechanics zu sein, wäre die Fortsetzung meiner jetzigen Situation, aber ein reizvoller Gedanke. Ich mochte Paul Youngs Gesang.
it: Welcher Stilrichtung folgen deine Soloalben?
Noel: Die McCalla-Alben [McCalla heißt Noels Solo-Band, Anm. d. Red.] gehen in die bluesig-jazzig-soulige Richtung. Eine Menge eigene, mit Co-Autoren geschriebene Stücke – nicht zu soft. Sie waren gedacht, uns Liveauftritte zu verschaffen. Es war kein großes Solo-Studio-Projekt, sondern die Band hat zuerst live zusammengespielt und das Publikum hat dann bestimmt, was letztendlich ausgewählt wurde. So stellten wir die Alben zusammen. Es sind gute Songs, aber um sie wettbewerbsfähig zu machen, müßte man sie komplett neu aufnehmen, und jemand müßte ein gutes Stück Zeit im Studio vebringen, um etwas daraus zu machen. In der Tat würde ich gerne auf einige der besseren Songs der zwei Alben zurückkommen und sie mit neuerem Material vermischen.
it: Was für Material hast du die letzten zwei oder drei Jahre geschrieben?
Noel: Es sind alles selbstgeschriebene Sachen, aber ich sehe mich weniger als Songwriter. Es war eher die Arbeit eines dreiköpfigen Teams. Außer mir selbst ist da ein Mann namens Brian Copsey, ein fantastischer Liedtexte-Autor, der nie Mitglied der Band war; und dann ist da noch Lou Salvoni, der Produzent von Sniff’n The Tears. Jeder von uns hatte seine eigene Rolle, die er auch ausfüllte, solange die Band zusammen war. In der Zwischenzeit habe ich auch meine eigenen Sachen geschrieben, würde aber gerne auf Brian als Textschreiber zurückkommen,weil ich hier nicht soviel Selbstvertrauen habe. Man könnte mein Material als „retro“ bezeichnen, was immer das heißen mag, oder Funk. Es ist etwas Eigenes, etwas zwischen Jackson Brown und James Brown. Ich bin da nicht allzu stark beeinflußt, ich bin kein großer Schallplattenkäufer. Ich gehe mal zu Freunden und höre mir deren Alben an.
it: McCalla-Alben scheinen schwer erhältlich zu sein.
Noel: Ja, denn wir hatten nie eine weltweite Veröffentlichung. Wir haben alles selbst gemacht und den Vertrieb über eine Firma namens AWM geregelt. Aber all das liegt nun etwa zehn Jahre zurück, und eine Menge ist seither geschehen. Ich habe einige Zeit lang meine Alben bei den Earth Band-Auftritten verkauft. Das lief ganz gut, wegen der Neugier der Leute. Sie wollten wissen, wie es denn so klingt, und sagten mir auch, es würde ihnen gefallen.
it: Wie sehen deine Pläne für die nächsten Monate aus?
Noel: Ähh … [hustet] ich werde versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich nochmal diese hohe Stimmlage erreiche, das ist ziemlich lange her [zeigt auf die Smallcreep’s Day-CD]. Nun, ich will ein Album aufnehmen, fürsorglich zu meiner Familie sein, sie durch das Leben geleiten, so daß sie auch mir helfen können, wenn ich ein alter Mann bin … einfach froh sein und es genießen, Menschen eine Freude zu machen. Es gibt keine großartigen Pläne. Mein brennendes Verlangen ist eben, einige eigene Aufnahmen auf die Reihe zu bekommen, mit mir als sogenanntem „Boss“, und wenn es schiefgeht, ist es nur meine eigene Schuld. Aber es ist schon toll, daß der Genesis-Fanclub heute mit mir spricht: Es ist so lange her, und so viele Leute interessiert Smallcreep’s Day. Ich habe übrigens Probleme, das Album auf CD zu bekommen.
it: Acting Very Strange ist schwieriger zu bekommen, weil es nur in Amerika auf CD erschienen ist. Smallcreep’s Day sollte aber relativ leicht auf CD zu bekommen sein.
Noel: Ach, so. Nun, ich habe zwar die LP, aber eines meiner Kinder hat einen Riesen-Kratzer in die Platte gemacht: [Schallplattenspringgeräusche nachahmend] tick, tick, tick and the t..tock …[lacht]. Ich muß also versuchen, die CD zu bekommen …
Interview + Photos: Helmut Janisch
Transkription/Übersetzung: Andreas Lauer
Noel McCalla-Diskographie
– Vocals auf:
Moon – Too Close For Comfort (1976)
Moon – Turning The Tides (1977)
Noel McCalla – Night Time Emotions (1979)
Mike Rutherford – Smallcreep’s Day (1980)
John Mizzaroli – Message From The 5th Stone(1982)
Partners In Crime – Organised Crime(1985)
Morrisey Mullen – This Must Be The ... (1985)
Mezzoforte – No Limits (1986)
Mike Carr’s Cargo – Cargo (1987)
Mike Carr’s Cargo – For Export Only (1990)
Manfred Mann – Plains Music (1991)
McCalla – Push & Pull (1993)
McCalla – Hot From The Smoke(1995)
Manfred Mann’s Earth Band – Soft Vengeance (1996)
Grandmother’s Funck – Heebie Jeebies Dance (1997)
Manfred Mann’s Earth Band – Mann Alive (1998)
Trevor Rabin – Wolf (2002)
Noel McCalla – Akustic (2004)
Manfred Mann ’06 – 2006 (2004)
Blade & Masquenda Family – Dove Scorrono Tranquissime Le Mie Polofonie (2009)
Manfred Mann – Lone Ranger (2014)
James Lascelles Quartet – Glasshouses (2017)
– Guest Vocals auf:
Andy Desmond – Andy Desmond(1978)
Sniff’n The Tears – Fickle Heart(1978)
Sniff’n The Tears – The Games Up (1980)
Paul Carrack – Nightbird (1980)
Trevor Rabin – Wolf (1980)
Mike Rutherford – Acting Very Strange (1982)
Betty Boo – Boomania (1990)
Sniff’n The Tears – No Damage Done(1992)
Arthur Louis – Black Cat(2009)
Heatwave – Current(2010)
Sniff’n The Tears – Downstream (2011)