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Genesis – Wind & Wuthering – CD Rezension
Ende 1976 veröffentlichten Genesis ihr letztes Studioalbum mit Steve Hackett. Das Album besteht zu einem Drittel aus Instrumentalstücken und erschien in der Weihnachtswoche. Bis heute besticht es durch sein außergwöhnliches Flair.
Die goldenen Siebziger waren das Zeitalter der großen Alben. In einer Zeit in der Musik multimedial vermarktet wird, ist es für viele kaum vorstellbar, welch geschlossenes Werk ein Album darstellte und wie wichtig das Coverdesign war. Mit Wind & Wuthering haben wir ein solches Werk vor uns.
Es ist auffallend, dass von vielen Hörern geäußert wird, dass Wind & Wuthering die stimmungsvolle Begleitung des Herbstes sei. Ob das nun an der Musik liegt, oder ob tatsächlich der Titel und das dazugehörige Cover dies assoziieren, bleibt offen. Fakt ist aber, dass die Aufnahmen tatsächlich im Herbst stattfanden, und dass das Cover mit der Musik eine stimmungsvolle Einheit bildet.
Die Steuerflucht treibt ja die seltsamsten Blüten, und solch eine Blüte ist auch Wind & Wuthering. Es ist das erste Album, welches die Band im Ausland aufnahm. Im September 1976 buchten sie für 3 Wochen die renommierten Hilvaria (Relight) Studios in Holland, wo auch das nachfolgende Album And Then There Were Three … entstand. Genesis nahmen allerdings David Hentschel mit, der bereits A Trick Of The Tail co-produzierte, und schon auf Nursery Cryme als Toningeneur tätig war. Diese Kooperation hielt immerhin bis 1980, und zeigt, wie gut dieses Team funktionierte. Die Band ging mit einem großen Selbstbewusstsein in die Aufnahmen, denn Genesis verkrafteten den Weggang Peter Gabriels gut, und hatten mit A Trick Of The Tail einen wirklich starken Output geschaffen. Dieses Selbstbewusstsein führte allerdings auch zu Problemen, die Steve Hackett schließlich dazu veranlassten, die Band nach der anschließenden Tour zu verlassen. Der große kreative Output kollidierte miteinander. Das betraf vor allem Tony und Steve, da man sich schlussendlich einigen mußte, welches Material nun auf das Album kam. Tony Banks sagt heute dazu: „Ich schätze seinen Beitrag auf Wind & Wutheringsehr hoch ein. (…) Er hat sich später in verschiedenen Artikeln dahingehend geäußert, dass ich das Ganze zu stark kontrollierte – und er hatte vermutlich recht.“ [Chapter And Verse, 2007]
Den Ehrgeiz von Tony und Steve hört man stellenweise gut heraus. Das Album hat viele klassische Reminiszensen. Dazu gesellen sich das fusion-artige Spiel von Phil Collins und die runden Popkompositionen Mike Rutherfords. Im Ergebnis entstand so ein Album welches die klassische 4er Formation in Perfektion darstellt, und eine Vorahnung auf die kommenden, songorientierten Veröffentlichungen bietet. Die Kompositionen wirken insgesamt knackiger und weniger verspielt als auf A Trick Of The Tail.
Das wird schon im Opener Eleventh Earl Of Mar deutlich. Nach einer kurzen instrumentalen Overture folgt ein kraftvoller, treibender Beat der die Basis für die Strophe bildet. Eine konventionelle Songstruktur wird hier beinahe eingehalten. Ich schränke dies ein, da hier zwar eine strukturierte Abfolge wiederkehrender Teile gegeben ist, ein wirklicher Refrain aber fehlt. Eleventh Earl Of Marerzählt die Geschichte der Jakobiterrevolution die sich 1715 auf den schottischen Highlands abspielte. Der Titel wählt dazu die Sicht eines Kindes, welches die Geschichte vom Vater vorgetragen bekommt. Besonders schön wird die stimmige Umsetzung deutlich, wenn man sich den Part anhört in dem der Junge den Vater drängt endlich weiter zu lesen. Dieses erwartungsfrohe Drängen spürt man förmlich. Ebenso gelungen ist die Vertonung des Traums, der die Komposition unterbricht, und uns in eine ruhige getragene Passage führt. Hier übernimmt Steves Nylonsaitengitarre die tragende Rolle. Diese Szene offenbart auch die ganze Stärke der Band. Es wird eine Geschichte gekonnt vertont und so ein fantastisches Theater für die Ohren geschaffen. Gleiches gilt für das folgende Werk One For The Vine. Dies ist ein epischer Longtrack, der zwar komplex umgesetzt ist, aber insgesamt einen ruhigen, fließenden Charakter hat. Es ist eine typische Banks Komposition, angefüllt mit Harmoniewechseln, schrägen Takten und ungewöhnlichen Akkorden. Tony wählte eine ungewöhnliche Abfolge. Die einzelnen Parts wurden komplett abgeschlossen, und der jeweils folgende durch ein kurzes Piano/Gitarren-thema eingeleitet. Man verzichtete an diesen Stellen quasi auf Übergänge. Es kostete die Band große Mühen, dieses Werk vernünftig zu arrangieren, und das verwundert nicht wenn man sich einmal die Notation anschaut. Die Atmosphäre des Stückes erinnert entfernt an das zuvor erschienene Mad Man Moon. Die Geschichte passt gut zu Eleventh Earl Of Mar, denn es wird wieder ein Epos erzählt bei dem jemand ein Heer von Menschen ins Verderben schickt. Die tiefere Bedeutung ist wohl die verhängnisvolle Verführung der Massen. Ich zitiere mal Phil Collins der 2008 in einem Interview sagte: „Tatsächlich hatten wir das Gefühl, dass man in den Songs nicht immer alles und jedes Wort verstanden hat, und das Bild kam hinzu, um den emotionalen Charakter unserer Lieder deutlicher erscheinen zu lassen.“ [FAZ, 4.6.2008]. (das deutsche Album enthielt übrigens ein Textblatt mit Übersetzung).
Das Stück erscheint wie eine klassische Piano Ballade, die jedoch im dritten Abschnitt eine schroffe Wendung erhält, und relativ unvermittelt in ein fast schon fusionhaftes Thema im 5/4 Takt umschlägt. Das ist witzig umgesetzt, und brilliert einmal mehr durch Ideenreichtum und kompositorischer Raffinesse. Das geniale ist die Tatsache, dass man es schaffte trotz dieses Kontrastes, und der schon erwähnten Fragmentierung, ein geschlossenes, harmonisches Bild zu erzeugen. Im folgenden Song Your Own Special Way versuchte die Band wohl einen Gegenpol zum melancholischen, anspruchsvollen One For The Vine zu schaffen. Es ist eine vergleichsweise leichtfüssige Komposition mit Ohrwurmcharakter, und so verwundert es nicht dass Your Own Special Way die einzige Singleauskopplung des Albums war. Der Erfolg war zwar mäßig, aber man ahnt erstmalig, dass diese Band fähig ist in den Mainstream einzudringen, und große kommerzielle Hits zu schreiben. Auf Wind & Wuthering kann man sehr schön den Kompositionsstil der einzelnen Mitglieder erkennen, und Your Own Special Way zeigt deutlich Mike Rutherfords Handschrift. Viele Fans lehnen den Song ab, da er insgesamt doch sehr schwülstig klingt. Es ist ein Lied über Zweisamkeit, doch wird es tunlichst vermieden konkret über Liebe zu reden. So verpackte es Mike, passend zum Album, in einen metapherreichen lyrischen Text. Trotz aller Differenzen im Genesislager, muss man doch die Qualitäten des Songs anerkennen. Er ist stimmig, schnell zugänglich und hat einen Text der ein wenig an ein Gedicht erinnert.
Entdeckte man hier Mikes Handschrift, so zeigt Wot Gorilla? Phils Neigung zum Jazzrock. Ein leicht überdrehtes, und sehr lebendiges Stück Musik ist hier entstanden. Tony Banks, der ebenfalls mitkomponierte, gibt dem ganzen noch einen Schuss Klassik, indem er einige Akkordfolgen einstreute, die an barocke Orgelkompositionen erinnern. Trotz der unterschwelligen Unruhe läuft hier ironischerweise durchgehend ein 4/4 Takt, der aber mit Spielfreude zelebriert wird. Für mich hat es manchmal den Anschein, als würde hier der Versuch unternommen, die Lebendigkeit des Instrumentalteils der live gespielten The Cinema Show in eine Studioaufnahme zu packen. So fließend und anschwellend wie das Stück gekommen ist, geht es auch wieder, indem es sich in flirrende Chimes auflöst. Festliche Orgeln eröffnen All In A Mouse’s Night, den ersten Song der zweiten LP-Seite. Wie der Titel vermuten lässt, wird hier eine Fabel erzählt. Ähnlich wie bei Eleventh Earl Of Mar fehlt, trotz immer wiederkehrender Parts, eine klassische Songstruktur. Trotzdem ist All In A Mouse’s Night ein runder, geschlossener Song der in einer majestätisch aufzeigenden Moral endet. Glücklicherweise fehlt dabei nicht der augenzwinkernde Humor, der den Text vor allzu peinlichem Pathos rettet. Die Musik lebt im wesentlichen vom Kontrast zwischen strophenähnlichen, ausgedünnten Parts und opulenten symphonischen Teilen. Dieses dynamische Wechselspiel bildet die Spannung, die der Text mit seinem Katz und Maus Spiel benötigt. Dazu erzeugt Steve in den ruhigen Teilen eine nervöse Geräuschkulisse aus kratzenden, wabernden Klängen. Der unorthodoxe Umgang mit der Gitarre, und die gänzlich fehlenden Rockklischees zeigen wie wichtig Steve für den Sound der frühen Genesis war. Ein Stück wie Blood On The Rooftops macht deutlich welche Möglichkeiten die Band nach seinem Weggang verloren hat. Die klassische Gitarre im Intro trägt einen unmerklich in den Gesangspart, und schafft eine wunderbar melancholische Stimmung. Die Gesangsmelodie schmiegt sich an die Gitarrenlinie, und verschmilzt mit ihr zu einer perfekten Einheit. “Dark and grey, an english film, the wednesday-play.“ Der Hörer taucht in eine Szene ein, und wird kurzerhand nach England entführt. Der Kontrast zwischen der grauen Realität und der strahlenden Welt des amerikanischen Films wird hier zu einem Hörerlebnis. Die Zusammenarbeit zwischen Phil und Steve funktionierte in diesem Fall einfach perfekt. Steve lieferte die melancholischen Strophen, und Phil setzte einen wuchtigen Refrain darauf. Für viele Fans ist Blood on the rooftops eine der Höhepunkte auf Wind and wuthering. Unquiet slumbers for the sleepers fährt zunächst in dieser Stimmung fort. Das relativ kurze Instrumental weckt noch einmal Erinnerungen an die musikalischen Zwischenspiele, welche sich auf The Lamb Lies Down On Broadway befinden. Steves fließende Nylonsaiten-Gitarre, und Tony, dessen Synth ein Liedchen zu pfeiffen scheint, zaubern eine eigenartig entrückte Stimmung. So schwebt man unmerklich in den nächsten Song, der treibend und mitreißend ist. In that quiet earth ist ein lebendiges, teils hektisch agierendes Instrumental, das man so auch auf Steves Soloalben vermuten könnte, und dass eine Bogen spannt zu folgenden Instrumentals, wie etwa Duke’s Travels. In that quiet earth ist jedoch der einzige Song auf Wind and Wuthering der im kompletten Teamwork entstand. Es beweist wieviel Souveränität und Fertigkeit die Band mittlerweile erreicht hat. Jeder Musiker brilliert ohne in den Vordergrund zu drängen. So schaffen sie es ihre Talente für das große Ganze einzusetzen. Voller Selbstsicherheit kreieren sie Spannungsbögen, und bedienen sich aus einem großen Fundus kompositorischer Möglichkeiten. Es ist eine gereifte Gruppe, die weiß was sie will. Sie nutzen geschickt das dramatische, wilde Element dieses Stückes, um punktgenau in der relaxten, fast schon souligen Stimmung von Afterglow zu landen. Das ist so überzeugend, dass sie den entstandenen Kontrast die nächsten 1o Jahre live einsetzen werden. Dabei wird zwar … In That Quiet Earth durch andere Stücke ersetzt (old medley), das erlösende Element von Afterglow bleibt jedoch erhalten. Es wurde ein Live-Klassiker, der nach Tonys Aussagen sehr intuitiv geschrieben worden war. „(…) Afterglow, das ich in ungefähr der selben Zeit schrieb, die man braucht, um es zu spielen, und das folglich einen ganz besonderen, weniger gekünstelten Charme besitzt.“ [Chapter And Verse, 2007]
Besser lässt sich Afterglow kaum charakterisieren. Es schwebt zunächst schwerelos dahin, erhält immer mehr Substanz, und türmt sich am Schluß auf, fast wie eine Gewitterwolke die aus einem zarten Schleier erwächst. Phil beweist hier wie sehr er als Sänger gewachsen ist, und wieviel Kraft seine zunächst zerbrechlich wirkende Stimme entfalten kann. Genesis Kompositionen sind fortan nicht auf den Intellekt adressiert, sie erreichen mühelos ohne Umwege den Bauch. Mit diesem, sich ständig steigernden Abschluss, bleibt ein erhabener, würdevoller Eindruck als Resümee eines charaktervollen Albums zurück.Vergleicht man Wind & Wuthering mit seinem Vorgänger A Trick Of The Tail, fällt besonders die gestraffte, fast schnörkellose Zielsicherheit auf, mit der man dieses Album arrangierte. Es ist weniger romantisch und nicht so zart wie sein Vorgänger. Diesen Reiz kompensiert es jedoch mit Kraft und Abenteuer. Nach wie vor werden die für Genesis typischen Geschichten erzählt, doch ist der Blick bereits auf eine strahlende, entschlackte Zukunft gewendet. Sind die letzten Töne von Afterglowverklungen, so schließt sich ein Buch welches seinen Anfang bei Looking For Someone nahm, und das ein Jahrsiebt voller Erzählungen bereit hielt.
Autor: Robert Krauskopf