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Genesis – We Cant Dance – CD Rezension
In den frühen Neunzigern waren Genesis auf dem kommerziellen Höhepunkt ihrer Karriere. We Can’t Dance warf gleich sechs Singles ab. Das Album ist das bisland letzte mit Phil Collins.
Another chance hello …
11. November 2021: Während Genesis sich zwischen dem britischen und dem nordamerikanischen Teil ihrer The Last Domino? Tour befinden, feiern die Fans den 30. Jahrestag der Veröffentlichung ihres letzten Studioalbums mit Phil Collins, We Can’t Dance. Für die meisten von uns ist es unglaublich, dass diese Veröffentlichung bereits 30 Jahre zurückliegt. Einige von uns wurden damals zu Fans, andere waren mehr oder weniger frustriert, da sie die Prog-Ära in den 70er Jahren liebten und die Entwicklung der Band eher kritisch verfolgten.
Einige Fakten zum Album:
We Can’t Dance wurde am 11. November 1991 in Europa und einen Tag später in Nordamerika veröffentlicht. Einige Websites (und sogar der offizielle Merch Store) behaupten, dass es in den USA früher veröffentlicht wurde, aber das stimmt NICHT. Mehrere Fakten beweisen, dass es in der gleichen Woche wie in Europa veröffentlicht wurde (Promo-CDs, die auf einen weltweiten Start der Radiopromotion am 7. November hinweisen, Charteinstieg in den USA im späten November und Artikel in Zeitungen).
Das Album war ein Riesenerfolg. Ob es erfolgreicher war als Invisible Touch – wer weiß? Aber es war ein weiterer Millionenseller auf beiden Seiten des Atlantiks und brach dieses Mal die Rekorde vor allem in Deutschland mit 24 Wochen auf Platz eins und satten 6 Singleauskopplungen.
Es wurde dieses Mal von Nick Davis produziert und hatte einen insgesamt wärmeren Sound als Invisible Touch.
Mike Rutherford hat auf Tell Me Why eine Rickenbacker Gitarre gespielt.
Phil Collins singt auch alle Hintergrundgesänge.
Ein Dokumentarfilm über die Entstehung des Albums, No Admittance, wurde in den frühen 90er Jahren ausgestrahlt und fand schließlich seinen Weg auf die Bonus-DVD der SACD/DVD-Version des Albums von 2007 (hier klicken).
Die Veröffentlichung des Albums fällt auch zusammen mit dem 30jährigen Jubiläum des Deutschen Genesis Fanclub it!
Zeit, zurückzuschauen … diese Rezension entstand vor vielen Jahren, aber nicht zur Veröffentlichung.
1991 wurde zu einem wichtigen Jahr für Genesis. Im Frühjahr traf sich die Band endlich wieder, um ein neues Album aufzunehmen. Der Hype um Phil Collins Soloalbum …But Seriously und die anschließende Welttournee ebbte langsam ab, Mike & The Mechanics und auch Tony Banks veröffentlichten im Frühjahr noch schnell ihre Alben (Word Of Mouth und Still) und auch im Peter Gabriel-Lager wurde es wieder etwas hektischer.
Ende 1991 erschien dann We Can’t Dance und wurde zum erfolgreichsten Genesis-Album. 24 Wochen – so lange stand We Can’t Dance 1991/1992 an der Spitze der deutschen Albumcharts und verkaufte bis heute weit mehr als drei Millionen Einheiten – allein in Deutschland. Weltweit achtstellige Verkaufszahlen, eine Stadiontour, zahlreiche Single-Hits, lustige Musikvideos. Genesis waren Anfang der 90er eine Marketingmaschine, sponsored by Volkswagen. Hinter der Fassade der scheinbar unnahbaren Musiker mit dem Rezept des großen Erfolgs verbarg sich jedoch ein abwechslungsreiches Werk, das gleichzeitig das letzte Studioalbum mit Phil Collins wurde.
Weit über 70 Minuten Musik enthält We Can’t Dance. Das zeitliche Korsett der LP ist durch das neue Medium CD längst durchbrochen. Nicht immer ist das positiv und auch We Can’t Dance hat seine Längen, vor allen aber hat es seine längeren Songs. Genesis lassen es sich wieder einmal nicht nehmen, ihr zunehmend aus Pop-Fans bestehendes Publikum herauszufordern. Neben der CD erschien aber auch eine Doppel-LP.
Produziert hat das Album Nick Davis, der zuvor schon unter anderem an Tony Banks Album Still gearbeitet hatte. Nick Davis brachte frischen Wind in die Produktion, mit den Sound von Invisible Touch hatte das Album rein gar nichts mehr zu tun. Auch beim Design ging man neue Wege. Die relativ einfach gehaltenen Cover der letzten Alben wurden zuweilen als einfallslos bezeichnet, We Can’t Dance dagegen wird durch gemalte Bilder illustriert und einmal mehr ist kein Bandfoto auf dem Cover zu finden.
No Son Of Mine
Zunächst gibt es Mainstream in Reinkultur. Zwar genießt No Son Of Mine auch in Fankreisen ein achtbares Ansehen, doch der Song ebnete als erste Single den Weg zur Megaplatte. Der Song ist wuchtig, emotional, die Drums klingen groß – Genesis sind wieder da, aber mit einem anderen Sound als noch auf Invisible Touch. Das Ticken der Uhren als Albumstart hat etwas mystisches, vielleicht auch etwas von einem Countdown. Die sich aufbauende Dramaturgie, gepaart mit einer warmen Inszenierung des neuen Sounds – Genesis wirken gereift, in sich ruhend, gelassen, unaufgeregt, bestimmt. Mit sechseinhalb Minuten ist der Song eigentlich zu lang für eine Single. Doch No Son Of Mine wiederholt das Kunststück von Mama, das ebenfalls zu lang war, und wurde zur Hit-Single – dieses mal auch in Nordamerika. Phil Collins nannte 2008 neben Los Endos diesen Song als das seiner Meinung nach beste Genesis-Stück, denn er sei mit dem Schlagzeugspiel besonders zufrieden, besonders was die Präzision beträfe.
Jesus He Knows Me
Die vierte Single des Albums wurde ebenfalls ein großer Hit. Jesus He Knows Me hat nichts von der düsteren und ernsten Stimmung des Album-Openers, sondern geht direkt nach vorn, direkt ins Ohr und ist Satire in Reinkultur. TV-Prediger, ein typisches amerikanischen Phänomen, haben es Phil angetan und so wird der Berufszweig kräftig aufs Korn genommen. Insgesamt hätten dem Song vielleicht ein paar Gitarrenelemente mehr gut getan. Jesus He Knows Me reiht sich ein in die Spaß-Songs der Collins-Ära vom Stil eines Anything She Does oder Illegal Allien.
Driving The Last Spike
Genesis geben Geschichts-Unterricht. Driving The Last Spike ist eine Story über den Bau der englischen Eisenbahn aus der Sicht der Arbeiter – unter den damaligen Arbeitsbedingungen. Der musikalische Aufbau ähnelt auf den ersten Blick dem Aufbau von No Son Of Mine, jedoch wird schnell klar, dass Genesis hie gleich mehrere Schritte weiter gehen. Driving The Last Spike ist mit 10 Minuten Spielzeit ein klassischer Long-Song, wie er in der Geschichte der Band häufiger vorkommt. Allerdings verzichtet die Band auf einen ausufernden Instrumentalteil. Die erste Hälfte des Songs funktioniert nach dem klassischen Strophe / Refrain – Schema, bevor etwa zur Mitte das Tempo deutlich angezogen wird, die Instrumentierung wird dichter und der Song nimmt an Fahrt auf und wird dramatischer. Driving The Last Spike ist ein absolutes Highlight des Albums. Auf einer Promo des Tour-Sponsors Volkswagen kann man ein interessantes Edit des Songs hören. Die gekürzte Version hätte sogar als Single funktionieren können. Der Text stammt einmal mehr von Phil Collins – überhaupt kann gesagt werden, dass Collins für We Can’t Dance sehr gute Texte beisteuerte.
Im it-Forum gibt es einen ausführlichen Diskussionsthread zum Thema des Songs.
I Can’t Dance
Es ist auf den ersten Blick vielleicht die größte Überraschung des Albums. Das minimalistische I Can’t Dancelebt von einem Gitarrenriff, wie selten ein Genesis-Song zuvor. Der Text ist banal, der Gesang anders und die Keyboardsounds merkwürdig. Was sich erst wie ein schlechter Witz anhört, entpuppte sich später als zweite Single und weltweit großer Hit, der einen wahren Hype auslöste. Das entsprechende Video zum Song wurde sogar bei MTV zum Kult und Genesis eroberten die Welt. Bei den Fans steht der Song nicht sehr hoch in der Gunst, fairerweise muss man aber konstatieren, dass I Can’t Dance für Abwechslung sorgt wie etwa seinerzeit Keep It Dark.
Never A Time
Eigentlich erstaunlich, dass es so lange dauert, bis die erste Ballade des Albums auftacht. Never A Time ist ein Popsong, der stellenweise etwas an It’s Gonna Get Better erinnert. there was never a time to say it“ … / … „if it’s gonna get better, it starts with a feeling“). Der Song pendelt zwischen nett und belanglos und auf Grund der Albumlänge hätte man darauf auch sicher verzichten können. Am Ende wurde der Song aber sogar als Single ausgekoppelt – die insgesamt sechste Single…
Dreaming While You Sleep
Eine weitere Sternstunde für Collins lyrische Kreativität ist Dreaming While You Sleep. Thematisch geht es um Fahrerflucht nach einem Unfall. Musikalisch entpuppt sich der Song als weiteres Highlight. Der Dumcomputer gibt eine dunkle Stimmung vor, das Wechselspiel der Keyboards und Gitarren, das schon auf Driving The Last Spike exzellent war, wird noch weiter perfektioniert. Das Einsetzen der echten Drums ist ein absoluter Knaller, der Gesang eindringlich und das Finale sorgt für Gänsehaut. Der Song ist ein Beweis dafür, dass Genesis auch 1991 noch auf hohem Niveau arbeiten konnten.
Tell Me Why
Ein typischer Popsong mit Weltverbesser-Tenor ist Tell Me Why. Beide Aspekte provozieren sofort Vergleiche mit Collins Soloarbeit, die an dieser Stelle auch nicht zu leugnen sind. Einzig der Sound ist näher an Genesis als an Collins. Tell Me Why ist unspektakulär, wurde aber schließlich die fünfte Singleauskopplung. Wie schon Never A Time spielte dann aber auch Tell Me Why keine Rolle im Live-Set. Auch die Single hatte keinen nennenswerten kommerziellen Erfolg mehr.
Interessant ist, dass Mike Rutherford auf diese Stück eine Rickenbacker 12-String Gitarre spielt!
Hold On My Heart
1991 war es noch eine Ballade, ein typischer Banks-Song, welcher für das Album vielleicht eine Art Verschnaufpause war. Im Laufe der Jahre wurde der Song zum Symbol der poppigen Collins-Ära bei den „alten“ Fans. Eine nüchterne Betrachtung des Songs wurde vor diesem Hintergrund immer schwerer. Dass damals aber ausgerechnet Hold On My Heart die dritte Single wurde (und ebenfalls zum Hit mutierte), bewies aber auch, dass Genesis und ihre Hit-Singles definitiv nichts mit ihrem Fan-Kult zu tun hatte.
Living Forever
Wieder ein Song, bei dem Collins seine lyrische Kreativität unter Beweis stellen konnte. Dieses Mal ist das Thema der Hype um Diäten und Wellness. Musikalisch ist Living Forever, das auf der No Son Of Mine-Single ebenfalls vertreten war, ein flotte Rocknummer, die gern noch etwas aggressiver hätte sein dürfen.
Interessant ist, neben der exzellenten Gesangsleistung und dem einmal mehr formidablen Zusammenspiel von Keyboards und Gitarre, die Schlusssequenz, wenn Genesis sich erstmals auf dem Album zu einem ausgewachsenen Instrumentalteil aufraffen. Dieser Teil muss sich nicht vor vergleichbaren Instrumentalteilen verstecken. Sie können es immer noch!
Living Forever wurde auch für die Tour geprobt, schaffte es am Ende aber nicht in den Live-Set.
Way Of The World
Dies ist ein typischer Genesis-Popsong. Er war wohl auch lange ein Kandidat für die Live-Shows und wurde entsprechend auch geprobt, doch dafür der Song wohl doch etwas zu unspektakulär. Viel gibt es auch nicht zu sagen, der Song hat eine nette Melodie und passt zumindest soundtechnisch gut aufs Album.
Es wäre aber kein Verlust gewesen, wenn Way Of The World nur eine B-Seite geworden wäre …
Since I Lost You
Vielen Fans ist auch Since I Lost You ein Dorn im Auge, da sich das Stück viel zu nah an der Solokarrire von Phil bewegt. Allerdings hatte auch Phil bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Ballade in diesem Stil aufgenommen und Since I Lost You ist ein Bandsong mit ernstem Hintergrund. Während der Sessions zu We Can’t Dance verstarb Eric Claptons Sohn Conor tragisch durch einen Fenstersturz. Phil schrieb daraufhin den Text und die Band erjammte sich diesen Song. Musikalisch sicher kein Highlight, aber dennoch hat der Song durch die damals aktuellen Ereignisse seine Daseinsberechtigung.
Fading Lights
Dass Genesis über die Jahre nie vergessen habe, wo sie musikaisch herkamen, ist unbestritten. Auf jedem Album gibt es den typischen Genesis-Stil. Living Forever hatte es schon angedeutet, aber Fading Lights ist nicht nur eine nachdenkliche Rückschau auf eine lange und erfolgreiche Karriere, sondern vor allem eine Liebeserklärung an den Progressive Rock. Fading Lights schafft das unmögliche, spannt den Bogen von den frühen siebzigern bis hin zu We Can’t Dance. Der instrumentale Mittelteil ist aller Ehren wert und selbst eingefleischte Prog-Fans, die die Collins-Ära meiden, können diesem Song viel abgewinnen. Dazu hat Fading Lights etwas prophetisches – Tony Banks schrieb den Text quasi über das Ende von Genesis …
Betrachtet man die Songs, drängt sich schnell die Frage auf, warum ein ziemlich platter Albumtitel gewählt wurde. Hier hätte es sicher bessere Möglichkeiten gegeben.
We Can’t Dance ist nicht nur ein bunter Mix aus Popsongs und Rockepen, es ist vor allen Dingen eine perfekte Inszensierung des musikalischen Spannungsfeldes zwischen Drums, Keyboards und Gitarren. Die Produktion ist edel, warm, manchmal verträumt melancholisch, dann wieder antreibend rockig. Die Banks-Ballade Hold On My Heart zog den Zorn der meisten Fans auf sich, das Finale Fading Lights dagegen wird selbst von den größten Prog-Puristen verehrt. Dazwischen liegen mit Living Forever oder Driving The Last Spike immer wieder Songs, die nur Genesis so schreiben können. Und Dreaming While You Sleep deutet an, wie Genesis in Zukunft mit Collins hätten klingen können, aber dazu kam es nicht. We Can’t Dance ist kein großer Klassiker wie Selling England By The Pound, es ist aber ein Reifezeugnis. Dieses Album kann nur eine Band einspielen, die eine solche Geschichte und muskalische Bandbreite hinter sich gebracht hat. Es ist eine perfekte Inszenierung einer erfahrenen Band, die spontan ein Album einspielen kann. We Can’t Dance wird bis heute von vielen unterschätzt. Und nach Fading Lights weiß man genau – es kann nicht noch perfekter werden. Und so wurde das Kapitel Genesis mit Collins auch vorläufig geschlossen.
Autor: Christian Gerhardts
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