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Genesis – UK-Tour Herbst 1992 – Bericht

Im Herbst 1992 spielten Genesis eine UK-Tour in Theatern und dazu kamen einige Shows im Londoner Earls Court. Unser Tourbericht.

JUST A JOB TO DO: Die UK-Tour 1992

Es ging ein Raunen durch die Reihen der Fans, als bekannt wurde, dass Genesis 1992 noch weitere Konzerte in England geben würde. Neben sechs Nächten im Earls Court in London hatte man zusätzlich Shows in kleinen Theatern vorgesehen. Wenn man bedenkt, dass Genesis heutzutage fast ausschließlich in riesigen Fußball- und Baseballstadien auftritt, war diese Nachricht eine wahre Sensation. Wer das Glück hatte, an Karten für die Earls Court-Gigs oder sogar für eine der insgesamt neun Theater-Shows (mit durchschnittlich 2000 Zuschauern) heranzukommen, hoffte natürlich auf ganz besondere Abende.

Die Gerüchteküche brodelte und aus Insiderkreisen war zu hören, dass Genesis Carpet Crawlers, One For The Vine und (der helle Wahnsinn!) Supper’s Ready in voller Länge proben würden. Es war also klar, dass die Erwartungen vor dem ersten Konzert, welches am 23.10.92 in Southampton im wunderschönen Mayflower Theatre stattfinden sollte, ins Grenzenlose gingen. Nach stundenlanger Warterei war es dann endlich soweit. Wir durften die heiligen Hallen betreten und man wurde von Platzanweisern zu seinem Sitz geführt. Das ganze hatte wirklich Stil. Ein Blick zur Bühne verriet, dass diese etwas kleiner war, allerdings waren die Instrumente an den gewohnten Stellen aufgebaut.

Aufgrund des Platzmangels fehlten die Jumbotron-Bildschirme. Dadurch war allerdings Platz, um auch über der Bühne Lichtstrahler anzubringen. Es waren auch die brandneuen Varilights zu sehen, die vom Gehäuse her eher an klassische Scheinwerfer erinnern. Sie können die Farben, ähnlich wie ihre „kleinen Brüder“, in Sekundenschnelle ändern und erleuchteten die Bühne in einem weichen, ergiebigen Licht. Dann war es endlich soweit. Die Spannung war auf dem Siedepunkt. Als das Ticken einer Uhr ertönte und die Gruppe dabei die Bühne betrat, kochten die Fans im wahrsten Sinne und feierten die Musiker frenetisch.

Genesis UK Tour 1992 Werbe-Poster

Das Ticken gehört natürlich zu No Son Of Mine und dieser Opener ließ auf weitere Überaschungen hoffen. Das Problem war nur, dass wir (die Fans) die Rechnung ohne Genesis gemacht hatten, die im Laufe des Abends überhaupt nicht daran dachten, sich von dem eingefahrenen Ablauf abzubringen. Sie spielten den Set eiskalt herunter und innerlich wuchs die Entäuschung darüber, dass die Band im Grunde das Gleiche spielte wie im Sommer. Um nicht falsch verstanden zu werden, Genesis glänzte musikalisch auf ganzer Linie, der Klang war glasklar, die Abstimmung innerhalb der Gruppe war hundertprozentig und das Lichtspektakel hätte besser nicht sein können.

Die Show war halt so, wie man es von ihnen gewohnt war, aber genau das vermittelte den untrüglichen Eindruck, dass Genesis hier nur einen weiteren Job erledigte. Da war wenig von außergewöhlicher Spielfreude zu spüren und man stellte sich die Frage: Warum machen die sich die Mühe und spielen in diesen kleinen Theatern, wenn dabei sowieso kein besonderes Konzert für die wirklichen Fans herauskommt.

Nach No Son Of Mine folgten, wie gesagt, die vom Sommer bekannten Stücke in der ebenso bekannten Reihenfolge: Driving The Last Spike, das Medley alter Songs, Throwing It All Away, Fading Lights, Jesus He Knows Me, Carpet Crawlers, Home By The Sea/Second Home By The Sea, Hold On My Heart, Domino, Drum Duett, I Can’t Dance und Turn It On Again. Dem Kenner fällt natürlich sofort Carpet Crawlers auf. Es ist wirklich kein Witz, sie haben den Klassiker tatsächlich gebracht! Selbstverständlich muss man auf dieses Lied etwas ausführlicher eingehen. Sie spielten die Version, die auch auf Seconds Out zu hören ist (also ohne die erste Textstrophe).

Die Bühne war in ein lila Licht getaucht, das im Laufe des Stücks immer heller wurde und zum Ende hin wieder zur anfänglichen, unwirklichen Atmosphäre abschwächte. Es war einfach ein unbeschreiblich stimmungsvoller und unvergesslicher Augenblick. Uns ist leider nicht bekannt, ob Carpet Crawlers überhaupt noch einmal auf dieser Tour im Set war. Laut Auskunft von englischen Fans hat die Gruppe ein ganz besonderes Verhältnis zu Southampton und deshalb wurde dort dieser spezielle Song gespielt.

Phil hatte während des Konzertes mit seiner Stimme zu kämpfen. Deshalb wurde auch der Set um die Zugaben, Tonight, Tonight, Tonight und Invisible Touch gekürzt. Leider hat das nicht viel geholfen, denn am nächsten Tag mussten die geplanten Konzerte in Newport und Wolverhampton abgesagt und auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden. Aber danach war Phils Stimme wieder genesen und so stand auch dem Gig im Apollo Theatre am 30. November nichts mehr im Weg. Das Gute war, dass man diesmal ohne große Erwartungen in die Show ging. Genesis waren wieder zu Land Of Confusion als Opener zurückgekehrt und spielten ihren, von der Sommertour bekannten, Song-Ablauf.

Allerdings wurden Driving The Last Spike und Throwing It All Away aus dem Programm gestrichen und dafür ein Lied gespielt, das wir schon im Sommer vermisst hatten: Dreaming While You Sleep. Die Live-Präsentation dieses Stückes war perfekt insziniert und kam hervorragend rüber. Phil saß am Anfang des Liedes auf einem Stuhl, um der hinter dem Song stehenden Geschichte Ausdruck zu verleihen. Ruhige, elegant gespielte Passagen wechselten sich mit dynamischen Sequenzen ab, die jeweils von einem überfallartigen Schlagzeug eingeleitet wurden. Prädikat: Spitzenklasse!

Durch die oben genannten Änderungen gegenüber dem Southampton-Gig, ergab sich also bei den in Manchester gespielten Liedern die folgende Reihenfolge: Land Of Confusion, No Son Of Mine, Old-Medley, Fading Lights, Jesus He Knows Me, Dreaming While You Sleep, Home By The Sea/Second Home By The Sea, Hold On My Heart, Domino, Drum Duett, I Can’t Dance, Tonight, Tonight, Tonight, Invisible Touch und Turn It On Again. Es hat keinen Sinn, an dieser Stelle näher auf die Stücke einzugehen, die wir ja auch schon im Sommer gesehen hatten. Diese Songs, die im Grunde auch den Hauptbestandteil der Sets während der UK-Tour ausmachten, wurden wie immer (eben wie ein weiterer Auftrag) erledigt und boten nicht gerade musikalische Experimentierfreude.

Erwähnenswert ist eine Besonderheit, die sich Phil in Manchester erlaubt hat. Er erzählte eine Geschichte über Romeo und Juliet. Dieses Liebespaar musste ja schon in vergangenen Tagen als Hauptdarsteller für Ansagen zu dem Genesis-Klassiker Cinema Show herhalten. Am Ende dieser völlig neuen Story, in der Juliet eine Gummipuppe ist, die letztendlich platzt, als Romeo sie aus Versehen mit seiner Zigarette berührt, verkündet Phil den ernüchternden Satz, dass diese Geschichte absolut nichts mit dem nächsten Song zu tun hat, namens Home By The Sea.

Naja, wenigstens mal etwas anderes, als die seit Jahren praktizierte Geisterbeschwörung. Es bleibt die Frage, warum sich die Band vor 2000 Fans exakt so präsentiert, wie vor 60.000 Leuten in riesigen Stadien. Wahrscheinlich kann nur die Gruppe selbst darauf eine Antwort geben. Man darf also nur hoffen, dass Genesis den nächsten „Job“ auf eine bessere Art erledigt …

LONDON, Earls Court

Im Unterschied zu den Theater-Konzerten stand bei den Konzerten im Earls Court von vornherein fest, dass die Auftritte so ablaufen würden wie im Sommer. In der sehr großen Halle traf man dann auch wieder auf die komplette Bühne mit den Jumbotron Screens und der Set war im Prinzip stets der ge- wohnte. Allerdings wurde Throwing It All Away bei allen Shows weggelassen. Am 2., 3. und 8. November spielten sie Dreaming While You Sleep statt Driving The Last Spike und somit hatten endlich auch die europäischen Fans Gelegenheit, die tolle Video-Animation zu diesem wirklich erstklassigen Live-Stück auf den Bildschirmen zu sehen.

Die Band war perfekt wie immer. Die Stimmung in der Halle wurde nur von der guten oder weniger guten Laune der Fans bestimmt. Wie schon im Sommer waren allerdings bestimmt zwei Drittel der Zuhörer nur Fans in Anführungsstrichen: Leute, deren Horizont hinsichtlich Genesis bei I Can’t Dance endet. Als echter Fan sitzt man dann in einer Gruppe von solchen „Fans“, die bei dem Medley der alten Klassiker aussehen wie begossene Pudel. Man schließt die Augen, denkt an vergangene Zeiten und genießt die Musik, die noch immer so gut ist wie früher und es wohl immer sein wird.

Autoren: Bernd Zindler, Helmut Janisch (Earls Court)
Poster image: George German
zuerst veröffentlicht in it-Magazin 5, Dezember 1992