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Genesis – Turn It On Again: The Hits – Rezension
Mehr als 30 Jahre brauchten Genesis, um eine echte HITS-Compilation zu veröffentlichen. Was HITS bedeutet und ob es sich lohnt, erfahrt ihr hier…
Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft 1999 beglücken uns unsere Helden mit ihrer ersten „offiziellen“ Hits-Compilation. Es ist wahrlich nicht die erste aus diversen Genesis-Songs zusammengestellte Veröffentlichung, aber beispielsweise im Vergleich zur gleichnamigen Compilation von 1991 aus dem Hause Vertigo, auf der nur Werke der Periode ’81 bis ’83 zu hören sind, hat man nun versucht, sämtliche Hits der Band zusammenzubringen – ähnlich wie auf der ’98 nur in Japan veröffentlichten The Greatest CD.
Zwar muss man feststellen, dass schon auf dem ’92er Live-Album The Way We Walk – Volume 1: The Shorts die wichtigsten Erfolge der Band gebündelt herausgebracht wurden, aber eben nicht in ihren ursprünglichen Studio-Versionen. Bei der Song-Auswahl fällt natürlich auf, dass nur erfolgreiche Single-Auskopplungen den Weg auf diese CD fanden. Dass diese fast ausschließlich aus der Zeit mit Phil Collins als Frontmann der Band stammen, dürfte die wenigsten verwundern.
Songauswahl und ausgewählte Versionen
Deshalb fallen die drei restlichen etwas aus dem musikalischen Kontext: I Know What I Like von 1973 ist die einzige Aufnahme aus der Gabriel-Ära und genau fünf Jahre (und vier Studio-Alben) älter als die hier chronologisch folgende Single Follow You Follow Me. Congo ist der einzige Beitrag des aktuellen Genesis-Line-ups mit Ray Wilson, und die Neuaufnahme der (nicht kommerziell erfolgreichen) Single The Carpet Crawlers von 1974, die eigentlich als Beitrag zum bereits veröffentlichten ersten Archive-Box-Set vorgesehen war, wird nun als (ungeplante) aktuelle Genesis-Single dem alten Song zu der Anerkennung verhelfen, den er verdient hat.
Um möglichst viele Hits auf einer Einzel-CD unterbringen zu können, entschloss man sich bei einigen Stücken, verkürzte, also editierte Versionen zu verwenden. Von Mama wurde nicht die Single-Version, sondern der noch um eine Strophe im Schlussteil verkürzte Edit genommen, der bisher nur auf einer englischen Promo zu finden war. Auch bei Abacab entschied man sich für den bislang nur auf Vinyl erhältlichen Single-Edit, der auf den Intrumentalteil verzichtet. Eine neu editierte Version findet man hier von No Son Of Mine, bei dem das Intro gekürzt und einige Gesangparts am Ende des Songs herausgenommen wurden (nicht zu verwechseln mit der Version der raren US-Promo-CD!).
Der vertretene Single-Edit von Tonight Tonight Tonight, also kürzeres Intro und fehlender Instrumentalteil, war bereits auf den CD-Singles des Stückes in digitaler Qualität zu bekommen. Bei Congo fiel die Wahl weder auf Album- noch auf Single-Version, sondern auf den Kompromiss des Video-Edits, der zwar wie auf der Single auch auf den zweiten Mittelteil inkl. Keyboard-Solo verzichtet, aber nicht auf das Intro der Albumfassung. Der Single-Mix von Jesus He Knows Me – keine Kurzversion – hebt lediglich Backing-Vocals und diverse Keyboardsounds hervor. Am interessantesten jedoch an dieser CD sind nicht die verschiedenen Kurzversionen, sondern vielmehr die um einiges länger als das Orginal gewordene Neuaufnahme des Genesis-Klassikers The Carpet Crawlers aus dem Konzept-Doppelalbum The Lamb Lies Down On Broadway von 1974, der letzten Zusammenarbeit mit Peter Gabriel.
The Carpet Crawlers 1999
Die ursprüngliche Idee zu dieser einmaligen Reunion der klassischen Besetzung mit Gabriel, Phil Collins und Steve Hackett, entstand eigentlich während der Planungsphase zum Archive-Projekt, zu welchem die einzelnen (Ex-)Mitglieder der Band sowieso einige zu verwendende (Live-)Tracks überarbeiten mussten. Leider wurden diese Aufnahmen nicht rechtzeitig zur Veröffentlichung des Box-Sets fertig gestellt, und so suchte man eine neue Möglichkeit der Verwendung. Da auf dem zweiten Box Set nur Material der Collins-Ära zu erwarten ist, entschied man sich dazu, die Aufnahme mit auf diese Hits-CD zu nehmen, zunächst aber nicht mit der Absicht, das Stück als Single auszukoppeln. Doch das unerwartet positive Airplay des Songs im Radio veranlasste Virgin, eine Single der bereits veröffentlichten Compilation nachzuschieben. Erstmalig arbeitete die Band für dieses Projekt mit dem bekannten Produzenten Trevor Horn, der vielen durch seine Arbeit mit beispielsweise Yes oder Frankie Goes To Hollywood ein Begriff sein dürfte.
Auch neu ist die Beteiligung anderer Musiker, den sogenannten „additional players and programmers“, lässt man einmal die Phenix Horns zu Abacab-Zeiten und die Orchesterparts auf dem Genesis-Debüt außer Acht. Diese Musiker stammen aus dem aktuellen Team um Trevor Horn, das auch gemeinsam am letzten Album des Künstlers Seal namens Human Being arbeitete, und haben sicherlich auch großen Verdienst an diesem gelungenen Remake, das glücklicherweise kein billiges Plagiat geworden ist. Die neue Version ist um einiges rhythmischer als das Original, erinnert daher streckenweise an jüngere Solowerke von Gabriel oder Collins und steckt voller musikalischer Überraschungen, die mit großer Liebe zum Detail umgesetzt wurden. Den Gesang teilen sich die besagten Gabriel und Collins.
Fazit
Abschließend lässt sich sagen, dass sich schon alleine wegen dieser Neuaufnahme – sollte man sich nicht für die Single entscheiden – das Anschaffen des Albums lohnt, obwohl eine Doppel-CD mit einer kompletten Single-Sammlung oder eine wirkliche „Best Of“-Zusammenstellung mit Genesis-Klassikern aller Perioden für Fans eine sinnvollere Alternative dargestellt hätte. Seltsam ist auch die Verwendung des (einzigen) Collins-Songs Misunderstanding, der hierzulande nur mäßigen Erfolg hatte, und dem gegenüber das Weglassen des UK-Top-Ten-Hits Paperlate und des nicht viel schlechter abschneidenden Match Of The Day. Jedenfalls ist diese aktuelle Veröffentlichung gut genug, um Spekulationen um das Line-up kommender Genesis-Aktivitäten wieder in Gang zu bringen. Es bleibt spannend.
Autor: Steffen Gerlach