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Genesis – The Lamb Lies Down On Broadway – Rezension
Nach dem Top-10-Erfolg 1973 produzierte die Band 1974 ihr aufwändigstes Werk, das die Band gleichzeitig vor eine Zerreißprobe stellte.
Als Genesis Anfang Mai 1974 mit einem Auftritt in der Academy Of Music in New York ihre Selling England-Tour abschlossen, lag ein weiter Weg hinter ihnen. In den drei Jahren zuvor waren Genesis fast durchgehend auf Tournee gewesen und hatten über 400 Konzerte gespielt – im Schnitt alle drei Tage eines. Nachdem sie neben dem Studioalbum Selling England By The Pound auch einen Livemitschnitt veröffentlicht hatten, gönnte sich das Quintett eine Tourneepause, um das nächste Album zu schreiben und einzuspielen.
Bei der Arbeit an den vorigen Alben hatten die fünf aus dem geprobten Material in einem mehr oder minder demokratischen Prozess die Stücke und Stückchen ausgewählt und zusammengesetzt, die ihnen am besten gefielen. Oft war es dann so, dass die Band abstimmte, welches Stück herausfallen sollte, weil es einfach nicht mehr auf die Platte passte. Auf Selling England By The Pound gab es in einer solchen Frage ein Patt; in der Folge kamen alle Stücke auf die Platte, die dann (wegen einer beinahe übervollen Plattenseite) einen nicht so tollen Klang hatte [so Tony Banks in Chapter & Verse, S. 148].
Genesis zogen die logische Konsequenz daraus und planten das neue Album von vornherein als Doppelalbum. Das gab ihnen einerseits den Freiraum, die Stücke weiter auszudehnen, bedeutete aber auch, dass sie annähernd doppelt so viel Material schreiben mussten, das gut genug war, veröffentlicht zu werden. Für die Menge an Musik galt es auch eine entsprechende Menge an Texten zu schreiben. Diesen Teil der Arbeit beanspruchte Peter Gabriel für sich; eine gemessen an der bisherigen Arbeitsweise der Band unerhörte Forderung. Andererseits stammten die skurrilen Geschichten zwischen den Songs auf Konzerten genauso von ihm wie die surreale Anekdote über die Frau im Zug, die auf der Rückseite des Live-Albums zu lesen war. Dass er genug Kreativität für diese Aufgabe mitbrachte, stand also außer Frage. Vom großen Bedarf an Texten, die ein einzelner schrieb, zu dem Gedanken, dass die Texte eine durchgehende Geschichte erzählen sollten, war es nur ein kleiner Schritt. Ein (Doppel-)Album, dessen Stücke eine durchgehende Geschichte erzählten – auf einmal war es kein einfaches Album mehr, an dem Genesis arbeiteten, sondern das Aushängeschild jeder Prog-Rock-Gruppe: ein Konzeptalbum.
Das Konzeptalbum
Der Begriff Konzeptalbum bezeichnet Albumveröffentlichungen, auf denen alle Stücke thematisch miteinander verbunden sind. Bei Konzeptalben im engeren Sinne entsteht die Verbindung dadurch, dass die Stücke eine zusammenhängende Geschichte bilden; weil dies auch Element der Oper in der klassischen Musik ist, werden Konzeptalben – und besonders ihre Aufführungen – bisweilen nicht ganz unzutreffend als Rockoper bezeichnet.
Ein Konzeptalbum im weiteren Sinne liegt vor, wenn alle Stücke thematisch lose verknüpft sind; die Grenze zum Liederzyklus ist hier fließend. Konzeptalben kommen, wenn sie auch nicht auf dieses Genre beschränkt sind, vor allem in der progressiven Musik vor, vielleicht weil dort die Darstellung fortlaufenden Geschehens in den einzelnen Stücken dem Wunsch der Künstler nach intellektueller und musikalischer Herausforderung entgegenkommt. Konzeptalben waren Mitte der 70er Jahre beileibe keine neue Idee mehr. Als früheste Konzeptalben gelten Pet Sounds von den Beach Boys (1966) und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band von den Beatles (1967).
Dafür musste nun eine Geschichte her. Eine Reihe von Vorlagen wurde erwogen und verworfen. Gegen Mike Rutherfords Anregung, Antoine de Saint-Exupérys Märchen vom Kleinen Prinzen zu vertonen, setzte sich Peters Idee durch, eine komplett neue Geschichte zu verwenden, für die er selbst die Texte schreiben wollte.
Die Entstehung des Klassikers
Fast unmittelbar im Anschluss an das Ende der Selling England-Tour, nahmen Genesis Quartier in Headley Grange, einem alten Herren- und späteren Armenhaus in Hampshire südwestlich von London. Auch musikhistorisch war das Gebäude kein Neuland: Led Zeppelin hatten hier Teile von Led Zeppelin IV eingespielt – und kurioserweise hatte Jimmy Page dort eine ähnlich übernatürliche Erfahrung wie Peter Gabriel sie als Inspiration für den ersten Teil von Supper’s Ready angab. Die Band traf also Mitte Mai dort ein und begann sofort fleißig – zu putzen. Die vorigen Bewohner hatten offenbar eine eher distanzierte Beziehung zu Sauberkeit und Hygiene. Tony Banks erinnert sich an menschliche Exkremente in einem Zimmer, das wohl nicht das Bad war, und Peter Gabriel weiß noch, dass die zahlreichen Ratten sehr neugierig schienen, was die neuen Zweibeiner dort nun wohl vorhätten.
Um mit dem neuen Album schneller voranzukommen, arbeitete Peter im einen Winkel des Hauses an den Texten, während die anderen neue Musik schrieben. Schon vorher musste allerdings die große Linie der Geschichte fertiggestellt gewesen sein.
„Ich fand es immer schon verblüffend, dass The Lamb, eine Platte mit so viel Großstadtflair, die so viel amerikanischer klingt als ihr Vorgänger und ihr Nachfolger, in einem alten, rattenverseuchten Landsitz in Südengland geschrieben und in einem kleinen Nest auf dem Lande in Wales aufgenommen wurde. Weiter weg kommt man nicht von Manhattan.“ (ein Fan)
Ihr Protagonist ist ein junger Puertoricaner in New York, der eines Morgens mitten in New York von einer großen schwarzen Wand verschluckt wird und nach einer Reihe weiterer surrealer Erlebnisse seinen Bruder aus dem Tosen eines reißenden Flusses rettet – oder sich selbst? Die Geschichte von Rael ist außerordentlich vielschichtig, beziehungsreich, voller Wortspiele; sie steht vielerlei Deutungsansätzen genau so offen wie sie sich der einen endgültigen Interpretation verschließt. Vielleicht macht gerade dies den Zauber der Geschichte aus, dass der Hörer sie immer wieder neu und anders dekodieren kann. Inzwischen – von welcher anderen Band, welchem anderen Album könnte man dies behaupten? – gibt es einen großen und stetig wachsenden Zirkel von Fans, denen die Auseinandersetzung mit Interpretationen dieses Albums mindestens genauso viel Freude bereitet wie das Album selbst.
Vieles wurde hineingelegt und herausgelesen: Es sei eine Schlüsseldichtung Gabriels, in der er (als Rael) mit seinem Alter Ego (Brother John) den Ausstieg aus Genesis erwogen habe; auch als moderne Neubearbeitung des King Lear wurde es verstanden (Rael ergibt rückwärts geschrieben Lear) – jeder weitere Blickwinkel enthüllt neue Facetten einer bemerkenswerten Erzählung.
Ein Attribut wird der Geschichte von Rael jedenfalls immer wieder beigelegt: Sperrig sei sie und erschließe sich nicht leicht. In der Tat liegt ein stilistischer und inhaltlicher Bruch zwischen Selling England und The Lamb, so dass der Leser-Hörer sich neu orientieren muss, und das gleich in zweifacher Hinsicht, denn die Veränderungen in Stil und Inhalt verlaufen chiastisch. Während der Inhalt von The Lamb noch fantastischer und bizarrer wurde als die vorigen Alben, wurde der Tonfall der Erzählung deutlich nüchterner. Daher ist jene Äußerung nicht ganz von der Hand zu weisen, The Lamb sei „Genesis‘ bis dahin amerikanischstes Album“.
Und ist es ein Zufall, dass Gabriel die Handlung – eine Handlung von Verlust und (Wieder-)Findung – in New York ansiedelt, wo die Gruppe die beiden letzten Konzerte der Selling England-Tour bestritt – und wo das Abschlusskonzert um einen Tag verschoben wurde, weil man Genesis die Gitarren gestohlen hatte? Wahrscheinlich schon, aber wer kann das schon mit Sicherheit sagen bei einer Gruppe, die sich gleichermaßen vom Wahlprogramm der Labourpartei wie von Ovids Metamorphosen inspirieren lässt. Stimmungsmäßiger Ausgangspunkt war Leonard Bernsteins berühmtes Musical West Side Story. Ansonsten thematisiere die Geschichte von Rael „sehr indirekt meine gefühlsmäßigen Erlebnisse“, erklärte Gabriel einmal [Hugh Fielder, The Book of Genesis, S. 90], der im übrigen auch Parallelen zwischen der Geschichte von Rael und dem Pilgrim’s Progress erkannte (John Bunyans allegorische Geschichte Der Pilgerweg schildert den Weg des Christen durch alle Lebensnöte zum himmlischen Jerusalem). Ob neben dieser thematischen Parallele auch inhaltliche Beziehungen hergestellt werden können, muss hier zunächst offen bleiben.
Während Tony, Mike, Steve und Phil also die Musik für das neue Album schrieben, bastelte Peter Gabriel an den Texten. Bald war die Musik weiter gediehen als die dazugehörigen Texte, was unter anderem daran lag, dass Gabriel noch etwas anderes im Kopf hatte: Bei der Schwangerschaft seiner Frau Jill kam es zu Komplikationen, und so fuhr Gabriel, so oft es ging, nach London, um bei ihr zu sein. Sein offenes Pensum führte zu Spannungen in der Band und dazu, dass Gabriel ein paar der Songs „abgab“, damit die anderen die Texte dafür schrieben.
Mittendrin drohte sogar das ganze Album zu platzen. Der Regisseur William Friedkin wollte Gabriel als kreativen Kopf für verschiedene Projekte haben; der Rest der Band wollte ihn jedoch nicht freigeben. Gabriel verließ kurzfristig die Band; seine Rückkehr wurde auf verschiedene Gründe zurückgeführt: Friedkins Wunsch, die Band nicht zu zerbrechen, einen simplen Appell von Mike, „nicht albern zu sein“ oder eine nachdrückliche Intervention von Genesis‘ Manager Tony Stratton-Smith.
Ende Juli ’74 jedenfalls lief die Mietzeit in Headley Grange ab. Die Band hatte aber noch keine Note aufgenommen und begab sich nun auf die Suche nach einem alternativen Ort, um das Album aufzuzeichnen. Sie fand ihn in Wales, auf einem kleinen Hof namens Glaspant (oftmals fälschlich „Glossplant“ geschrieben, 50 km nordwestlich von Swansea). Dort spielten sie The Lamb Lies Down On Broadway mit dem Manor Mobile Studio ein. Abgemischt wurde es bis Mitte Oktober in den Island Studios in London und veröffentlicht dann am 22. November 1974 [einen separaten Bericht über die Recherchen des Veröffentlichungsdatums fndet ihr hier]. Parallel bereiteten sich Genesis auf die Lamb Lies Down On Broadway-Tour vor, die von ähnlichen Verzögerungen geplagt wurde wie das Album selbst: Steve Hackett verletzte sich an der Hand, die ersten Konzerte wurden daher in den USA gespielt – bevor das Album dort überhaupt erschienen war. Aber die Tour ist ein ganz eigenes Kapitel …
The Lamb Lies Down On Broadway erschien zuerst als Doppel-LP. Mit dem Aufkommen der Compact Disc wurde dann Mitte der Achtziger Jahre auch eine Version auf Doppel-CD veröffentlicht, nämlich die sogenannte „greybox“ oder „greyframe“-Version. Sie hatte ihren Namen von dem grauen Rahmen, der um einen Teilausschnitt des originalen Covers gelegt war, und zeichnete sich, wie die ganze Serie, nicht durch besonders guten Klang aus. Erheblich besser war dann die Ende der ’90er Jahre erschienene Definitive Edition Remaster-Fassung. Wie bei ihrer Vorgängerin verliefen die Trennungen zwischen den einzelnen Stücken jedoch bisweilen sehr eigenwillig: Die Broadway Melody of 1974 besteht, obwohl im Beiheft die üblichen Lyrics angegeben sind, auf der D.E.R.-Version nur aus dem 33 Sekunden langen Instrumentalteil, der den Übergang zu Cuckoo Cocoon bildet.
Mit großer Spannung erwartet der Rezensent das Erscheinen von The Lamb im Rahmen des sogenannten „dritten Boxsets“, das für November 2008 angekündigt ist.
Alle diese Leitversionen (und die meisten länderspezifischen Pressungen) haben von der originalen LP-Version das berühmte Hipgnosis-Cover übernommen und in vielen Fällen auch im Booklet Designelemente der Textblätter, die den Platten beigelegt waren: Schwarz-weiße Ornamentik und fast kubistisch reduziert zu nennende Illustrationen, meist im quadratischen Format, sowie ein einzelnes Foto. Kurioserweise hat der Rezensent Jahre gebraucht, bis ihm auffiel, dass in und hinter all den Glassplittern Rael zu sehen ist. Neben den Songtexten enthalten die Textblätter bzw. die Beihefte meist auch die Geschichte von Rael, die einerseits den roten Faden der Handlung bietet, so verworren er auch dennoch sein mag, und andererseits auch noch ein ausgesprochenes erzählerisches Schmankerl: Mehr noch als in den Songtexten spürt man die diebische Freude, die Gabriel dabei hatte, all die Andeutungen und Wortspiele in der Geschichte unterzubringen.
Die Musik
Der Schwanengesang von Genesis in der klassischen Fünferbesetzung beginnt mit einem leise plätschernden Pianointro, zu dem dann mit einem wuchtigen Akkord der Rest der Band stößt – wie eine Abbildung des nur leicht gekräuselten Meerwassers, das plötzlich und nahtlos übergeht in die gewaltigen Betonfluchten von Manhattan. Treibend und rockig geht der Titelsong vorwärts, während Gabriel erzählt, wie Rael aus der U-Bahn zwischen den letzten Nachtschwärmern ins erwachende New York stolpert. Dann verstummt der Lärm der Großstadt hinter der alles verschlingenden „Todesmauer“. Fly On A Windshield stellt im Rückgriff auf ätherische und akustische Klänge den Wind in den Straßenschluchten dar, um dann mit voller Wucht Raels Auftreffen auf die merkwürdige Mauer zu symbolisieren. Die Broadway Melody Of 1974 führt in einem paradeartigen Rhythmus Broadway-, Film- und Skandalgrößen vergangener Jahre vor; zweifellos erreicht die Anspielungsdichte in Genesis‘ Texten hier einen Höhepunkt; fast nirgends sind sie allerdings auch so leicht zu dekodieren. Der Auftritt der Bekanntheiten leitet sich aus der im Titel enthaltenen Anspielung her: In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht weniger als vier Filme, die den Titel Broadway Melody of … (1929, 1936, 1938 und 1940) trugen und zunehmend hochkarätig besetzt waren.
Schwieriger festzulegen fanden die Verantwortlichen dagegen offenbar die Grenze zwischen Fly On A Windshield und der Broadway Melody Of 1974: Beide CD-Veröffentlichungen weichen voneinander und wohl auch von der richtigen Trennung ab. Der Rezensent setzt den Beginn der Broadway Melody unmittelbar vor der Textzeile „Echoes of the Broadway Everglades“ an, was mindestens der Textverteilung im Beiheft entspricht. Peter Gabriel singt in allerlei Tonlagen, je nachdem, ob er prominente Filmstars oder berüchtigte Kriminelle besingt. Ein leises Intermezzo führt zurück zum Protagonisten. Bei Cuckoo Cocoon wechselt die Perspektive – nun äußert sich Rael selbst. Nicht nur er selbst fragt sich, „wo zum Teufel er jetzt ist“, auch der Hörer kann nur den Worten und den besänftigenden Klängen der Musik entnehmen, dass es ein offenbar angenehmer Ort ist. Auf seine eigenen Sinneserfahrungen zurückgeworfen muss Rael auch damit zurechtkommen, dass sich sein Ruheort verwandelt und er plötzlich die Beklemmung eines steinernen Käfigs erfährt. Im Käfig (In The Cage) geht es vor allem ums Entkommen. Dass alle oder doch viele andere Menschen offenbar in einem ähnlichen Käfig stecken, dass die ganze Welt, die sich Rael nun zeigt, offenbar nur aus solchen Gefängnissen besteht, hilft ihm nichts – zumal Raels Bruder John auftaucht, der sich anscheinend frei bewegen kann. In The Cage beginnt dabei mit einem warmen, pulsgleichen Rhythmus; die Melodie kühlt aber rapide ab und wird gleichzeitig zunehmend hektischer: Der warme Kokon verwandelt sich in einen angsteinflößend kalten Käfig, der Rael zunehmend einengt und zu zerquetschen droht. Im letzten Moment löst sich das Steingebilde jedoch auf und Rael fällt rotierend hinab – auf den Fußboden der Grand Parade Of Lifeless Packaging.
Dort wird Rael Zeuge, wie in einer langen Produktionslinie Menschen mit ihrem Schicksal verbunden und dann in doppeltem Sinne an das Leben ausgeliefert werden. Das Fließband, das musikalisch durch einen schlichten und gleichmäßigen (Arbeits-)Takt dargestellt wird, ist auch der Ort, an dem Rael seinem Bruder John wieder begegnet. War vorher aber Rael im Käfig, so ist es hier nun John, der sich nicht frei bewegen kann. Am Ende der Fabrikationshalle, wo die Produktion, wenn man nach der Musik geht, schneller und turbulenter abläuft, erlaubt sich die Band einen musikalischen Scherz: Während Rael darüber sinniert, dass er nur eine Sicherung benötigt, sinkt Gabriels Stimme immer weiter ab wie bei einem Plattenspieler, der nicht weiterläuft, weil der Strom ausbleibt. Die Klänge der Grand Paradewurden zum Teil auch von einem bandfremden Musiker beeinflusst: Brian Eno veränderte den Klang von zum Teil bereits aufgenommenen Material, indem er es durch verschiedene Geräte abspielte. Diese Manipulationen wurden in den Credits als „Enossification“ gewürdigt.
Als Rael diesen Ort verlässt, findet er sich Back In N.Y.C., zurück in seiner Heimatstadt. Diesmal erlebt der Hörer sie aber aus Raels Blickwinkel als einen Ort, in dem nur die Hartgesottenen überleben. Wie das Bild, das der Protagonist entwirft, ist auch die Musik kalt und hart. Die Umkehr des Bildes kann zumindest der LP-Hörer geradezu wörtlich nehmen: Back In N.Y.C. ist nämlich das erste Stück auf der zweiten Seite der Platte, also tatsächlich die Kehrseite von The Lamb Lies Down On Broadway. Mit diesem „halbstark-groben“ Stück kontrastiert das darauffolgende Instrumental Hairless Heart. Hier klingen Genesis wieder so, wie man es von den vorigen Alben, z.B. von Firth Of Fifth, kennt: Eine warme, schöne Melodie wird zunächst im Kleinen eingeführt und dann noch einmal mit großer Emphase und einem mächtigen Klangteppich durchdekliniert. Mit Hairless Heart tritt auch ein Motiv deutlicher hervor, das bereits in N.Y.C. anklingt und den Rest des Albums mitprägen wird, nämlich das Sexuelle. Da das menschliche Herz sehr selten einer Rasur bedarf, darf man hier wohl an andere Körperteile denken, die unter Umständen von Haaren bedeckt sind. Aber halt ein! Interpretiert werden soll an anderer Stelle.
Rael jedenfalls erinnert sich bei diesem Bild an seine erste ‚erotische‘ Begegnung mit dem anderen Geschlecht. Counting Out Time ist ein hinreißend komisches Stück. Gewiss werden viele (männliche) Hörer das Lächeln eher unterdrücken – wer wäre denn bei seinem ersten Mal schon so souverän gewesen? – aber die Idee, Sex nach der Methode „Malen nach Zahlen“ durchzuführen, ist wunderbar absurd. Counting Out Time verläuft in gleichmäßigem Rhythmus und trotz des wiederholten Gitarrenriffs wäre es ohne den eigentümlich klingenden Mittelteil fast ein Popsong. In die halblaute Textzeile „Put it away Mr guitar“ ist viel hineingeheimnist worden (eine Aufforderung des Sängers an Steve Hackett, irgendetwas nicht zu tun?); wenn man annimmt, dass Rael seiner Partnerin ein Gitarrenständchen gebracht hat, löst sich ein Rätsel in Nichts auf.
Jedenfalls ist Rael am Ende des Stückes wieder allein in dem Fabrikflur, wo er einen mit Lammwollteppich ausgelegten Gang entdeckt. The Carpet Crawlers ist neben Hairless Heart das von Klang und Stimmung her wärmste Lied der ersten Platte. Ganz gleichmäßig wird dieses Stück zum Ohrwurm und nachgerade zur Kuschelnummer. Dabei ist es eines der wenigen Stücke auf dem Album, zu dem Peter Gabriel auch die Hauptmelodie beisteuerte (wie Gabriels erste Frau Jill in Spencer Brights Buch hervorhebt). Durch die Tür am Ende des Korridors gelangt er in einen Saal mit 32 Türen. Nur eine einzige von ihnen führt hinaus, alle anderen führen wieder zurück. In der Chamber Of 32 Doors wird Rael von vielen Leuten bestürmt, die ihm darlegen, warum er eine bestimmte Tür nehmen sollte. Überrannt von allen Vorschlägen ist Rael bei der Entscheidung wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Abwechslungsreich in den Rhythmen und Melodie-Elementen verdeutlicht The Chamber Of 32 Doors Raels Entscheidungsnot – bis zum verzweifelt gesungenen Angebot, all seine Träume für den Ausweg aufzugeben. Wird er die richtige Tür wählen?
Mit diesem Cliffhänger endet die erste Hälfte der Geschichte von Rael, und der Hörer hat Gelegenheit zu überlegen, warum das Album eigentlich The Lamb Lies Down On Broadway heißt und nicht etwa Rael And His Amazing Technicolor Morning Visions. Gabriel selbst hat allen Spekulationen (das Lamm ist ja beispielsweise in der christlichen Welt metaphorisch fest besetzt) über die tiefere Bedeutung des Tieres in der begleitenden Geschichte scheinbar einen Riegel vorgeschoben: „Währenddessen erscheint aus den Wasserdampfschwaden ein Lamm und legt sich nieder. Dieses Lamm hat überhaupt nichts mit Rael zu tun oder irgendeinem anderen Lamm – es legt sich ganz einfach auf den Broadway.“ Es gibt hier dennoch genug Raum für Auslegungen; die wollen aber erst später betrachtet werden, denn inzwischen hat der Hörer die LP oder die CD gewechselt und steigt ein in die zweite Hälfte des Albums.
Dort begegnet ihm zunächst von krachend knarrenden Gitarren untermalt Lilywhite Lilith, die Rael zur richtigen Tür hinaus- und in einen großen unterirdischen Saal führt, wo sie ihn allein lässt. (Lilith ist übrigens eine alte Bekannte aus dem Genesis-Kanon: Das Hauptmotiv des Stückes stammt aus dem Song The Light von etwa 1970/71, der leider nur einmal auf einer ziemlich durchschnittlichen Liveaufnahme zu finden ist). In der Dunkelheit bekommt Rael panische Angst, bis zwei goldene Kugeln mit gleißendem Licht in den Raum schweben. Er zerstört beide mit einem Steinwurf, worauf der gesamte Saal einstürzt. Diese Angst und das Erscheinen der Kugeln werden kongenial umgesetzt im Instrumentalstück The Waiting Room.
Die Entstehung von The Waiting Room
Tony: „Die beste Improvisation aus den Proben bekam nachher den Titel The Waiting Room; wir nannten es kurz den Evil Jam. Wir schalteten das Licht aus und machten einfach Geräusche. Beim ersten Mal war das wirklich furchteinflößend.“ – Phil: „Der Evil Jam ergab sich, als Steve neue Effekte ausprobierte und Tony gleichzeitig mit ein paar Synthesizern herumspielte – wir probierten einfach alle mal aus, ein paar richtig fiese Geräusche zu produzieren. Das wurde richtig heftig: Peter blies auf den Stimmblättern seiner Oboe ins Mikrofon und spielte Flöte durch das Echoplex, als es plötzlich einen Donnerschlag tat und zu regnen anfing. < … > Wir machten alle diese seltsamen Geräusche, als der Regen begann. Und dann wechselten wir alle den Klang und kamen in diese sehr melodische Stimmung.“ [Hugh Fielder, The Book Of Genesis, S. 91/92]
Unter den Gesteinsbrocken begraben singt Rael sein Abschiedlied Anyway, denn es scheint klar, dass er von hier nicht mehr entkommen wird. Es beginnt mit einer Klaviermelodie, die wie ein entferntes Echo vom Anfang von The Lamb Lies Down On Broadway klingt. Über die gleichmäßige Melodie hin setzt sich Rael recht zynisch mit seiner Lage auseinander und verspottet sich dann selbst für seine „profunden Gedanken, wenn man doch eigentlich gerade unter der Erde stirbt“. Mit großen, kräftigen Akkorden der gesamten Band beginnt dann ein kleines Gitarrensolo, an dessen Ende Rael sich sein Wunsch-Ende ausmalt. Doch währenddessen erscheint, begleitet von tänzelnder Musik, ein (un)erwarteter Gast: Verkleidet als Supernatural Anaesthetist, also als Übernatürlicher Anästhesist, schaut der Tod bei Rael vorbei – und dieser ist beeindruckt von dessen tänzerischen Fähigkeiten.
Es scheint, als würde Rael diese Begegnung überleben und aus dem Gestein entkommen. Wieder führt ihn sein Weg einen Gang hinunter.
Umschmeichelt von lieblichen Düften gelangt Rael an einen Teich voll Rosenwassers. Nach all den Strapazen steigt Rael gerne in das Becken, um sich zu erfrischen. Doch er ist nicht allein. The Lamia erscheinen, drei Schlangen mit Frauengesichtern, und liebkosen ihn zärtlich, streicheln und knabbern sanft an ihm. Ihre Berührungen werden zunehmend drängender; als sie ihn bis aufs Blut verletzen, sterben sie daran. Rael verzehrt, was von ihren Leibern übrig ist. Musikalisch untermalt wird diese romantisch-erotisch Episode durch sanftes Klavierspiel; erst beim Erscheinen der Lamien kommen die anderen Instrumente dazu. The Lamia ist das vielleicht romantischste Stück des ganzen Albums. Am Ende bricht dann die Stimmung des Stückes um, gerade so wie in den letzten beiden Versen von The Lamia das Licht von warmen Rottönen zu einem kalten Blau umschlägt.
Die Handlung erreicht hier musikalisch einen Haltepunkt. Silent Sorrow In Empty Boats ist ein eher farbloses Instrumental; Gitarren und Bass wiederholen eine langsam und träge dahinblubbernde Notenfolge, während Tony Banks auf dem Keyboard breit angelegte Akkorde darüberlegt, die irgendwo zwischen Ambience-Klängen und einem Choral wabern.
Die vierte Albumseite beginnt mit Raels Ankunft in der Colony Of Slippermen. Diese Arrivalist eine ähnlich ziellos dahinmäandernde, enossifizierte Instrumentalsache wie Silent Sorrow; bei der Live-Show waren die eineinhalb Minuten nötig, um Gabriel mehr Zeit zum Umkleiden zu geben – warum das Ganze auch auf Vinyl gebannt wurde, bleibt das Geheimnis der Band. Ob Genesis sich hier einmal den Luxus erlaubt haben, den Notwendigkeiten der Liveshow schon auf der Platte Rechnung zu tragen, darüber darf jedenfalls spekuliert werden. Am Ende des Instrumentals geht es jedenfalls schwungvoll hinein in die eigentliche Kolonie der Pantoffelhelden. Die Andeutung wordsworthscher romantischer Idylle wird sogleich konterkariert durch das Erscheinen der Slippermen. Sie entpuppen sich als Raels Vorgänger, die, weil sie sich den Lamien hingegeben haben, zu abstoßenden, von der Lust völlig entstellten Wesen verkommen sind. Gitarre spielen die Slippermen offenbar nicht – das Instrument ist hier kaum zu hören. Herausragend aber, wie Gabriel Raels Entsetzen darüber darstellt, dass auch er nun ein Slipperman ist. Mit verschieden modifizierter Stimme stellt er Slippermen, Rael und den wirklich berüchtigt klingenden Dr. Dyper dar.
Wieder begegnet Rael seinem Bruder John, der sich mit ihm der Operation unterzieht, die ihn wieder „vermenschlicht“, nämlich der Kastration. Immer treibender und drängender wird die Musik während des Visit To The Doctor, entspannt sich kurz und begibt sich dann wie Rael kopfüber auf die Jagd nach dem Raven, der Rael das Aufbewahrungsröhrchen für seine „Kronjuwelen“ stiehlt. Nur John bleibt zurück und lässt seinen Bruder wieder im Stich, der auf der Verfolgungsjagd inzwischen am Rande einer Schlucht angekommen ist. Ravineillustriert instrumental den kalten Wind, der dort entlangstreicht, und die große Höhe, aus der Rael auf das Röhrchen hinabschaut. Im Ganzen ein sehr gelungenes Stück, das man heute sicherlich in die Kategorie „Ambient Sounds“ einsortieren würde. Sicherlich könnte das Album auch ohne großen musikalischen Verlust von der Colony Of Slippermen zu The Light Dies Down On Broadway fortschreiten, aber von der Dramaturgie der Geschichte her gesehen erfüllt Ravineaufs Beste die Aufgabe des retardierenden Moments.
Denn mit den ersten Klängen von The Light Dies Down On Broadway streben Album und Geschichte unaufhaltsam dem Höhepunkt zu. Rael eröffnet sich die Chance, wieder in die „Oberwelt“, zurück auf den Broadway, zu gelangen. Verführerisch klingen die vertrauten Geräusche in seinen Ohren – und denen des Hörers, denn es handelt sich um eine sanftere Reprise von The Lamia (in den Strophen) und von The Lamb Lies Down On Broadway (im Refrain). Diese Reprise hatte beim Schreiben des Albums einen Vorteil: Gabriel war mit den Texten sehr im Verzug, brauchte noch ein Stück zwischen der Colony Of Slippermen und Riding The Scree – und dazu dann noch Text.
Mit diesem Kniff sparte die Band musikalischen Aufwand; außerdem stammt der Text für dieses Stück nicht von Gabriel, sondern von Banks und Rutherford, die Gabriel so entlasteten. Neben den Sirenenklängen hört Rael unten im reißenden Fluss seinen Bruder John um Hilfe rufen. Rael steht vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens: Rückkehr ins Normale oder der Bruder? – und wählt John. Das Trugbild vom Broadway verschwindet. Auch die Musik beruhigt sich allmählich wieder, aber nur gerade so lang, bis Rael holterdipolter – oder mit Bravour? Immerhin vergleicht er sich mit dem berühmten Stuntman Robert C. „Evel“ Knievel – die Geröllhalde hinab in die Schlucht springt (Riding The Scree – im Deutschen heißt dies wohl Schutthaldensurfen), um seinen Bruder aus den tobenden Fluten zu retten, die Tony Banks so anschaulich mit wirbelnden Keyboardkaskaden versinnbildlicht.
Die Strömung trägt ihn schnell an den Punkt der Entscheidung: In The Rapids, in den Stromschnellen also, versucht Rael John zu retten – und sich selbst. Dies ist der Punkt, an dem sich Rael entscheidend bewährt: Es gelingt ihm, seinen Bruder an Land zu ziehen, sieht ihm ins Gesicht – und erblickt sein eigenes Gesicht. Und das war es dann: „That’s it“, wie es im Englischen heißt. Und was Itnun ist, erklärt der Erzähler im gleichnamigen Schlusslied. Flott und beschwingt wirkt es, gleich als fühle sich die Musik befreit aus den unterirdischen Katakomben voller Slippermen, Lamien und tanzenden Sensenmännern. Wer im letzten Stück endlich zu erfahren hoffte, was denn nun Thema dieser Geschichte ist, bekommt hier reichlich Antwort – ja, in der Tat so viele Antworten, dass er, wie Rael im Saal der 32 Türen, nicht weiß, welche er wählen soll. Prätentiös sei es jedenfalls nicht, sondern real und Rael zugleich. In der begleitenden Geschichte bringt Gabriel es auf den Punkt: Esliegt jetzt bei dir.
Das Fazit
Neben der mal atmosphärischen, mal mitreißend schwungvollen Musik und den sehr ausgefeilten Texten ist es übrigens durchaus bemerkenswert, wie sorgsam die Geschichte strukturiert und über die vier Plattenseiten verteilt ist. Das jeweils erste Stück einer Plattenseite zeigt Rael aus verschiedenen Blickwinkeln: The Lamb Lies Down On Broadway stellt ihn von außen in seiner „natürlichen Umgebung“ dar. In Back In N.Y.C. präsentiert sich Rael, wie er sich selbst sieht. Lilywhite Lilith zeigt ihn im Umgang mit anderen und im Angesicht seiner eigenen Ängste, die er aber abgelegt hat, als er sich in der Colony Of Slippermen furchtlos operieren lässt. Aus der Vielzahl der Wahlmöglichkeiten muss Rael am Ende der ersten Platte eine Tür auswählen, genauso wie dem Hörer am Ende der zweiten Platte – man zähle nach! – 32 verschiedene Beschreibungen für It geboten werden.
Als Geschichte ist The Lamb Lies Down On Broadway durchaus aus einem, wenn auch aus einem recht bizarren Guss. Als musikalisches Gesamtwerk ist es weniger ausgeglichen: Neben hervorragende Lieder wie In The Cage, The Chamber of 32 Doors und The Lamia treten weniger auffällige qualitätvolle Stücke wie Cuckoo Cocoon und In The Rapids. Am anderen Ende der Skala steht dann Material wie Silent Sorrow In Empty Boats, das gegenüber dem Rest des Albums doch deutlich abfällt. Insgesamt kann sich der Rezensent des Eindrucks nicht erwehren, dass der Band kurz nach der Hälfte des Albums ein wenig die musikalische Puste ausging, so dass sie sich ein paar laue Nummern lang verschnauften, bis sie – etwa ab The Light Dies Down On Broadway – aus der Aussicht, das Album bald fertig geschrieben zu haben, neue Motivation schöpften und dann noch ein paar tolle Stücke schrieben.
The Lamb Lies Down On Broadway steht wie ein massiver Monolith mitten im Oeuvre von Genesis: Es ist ihr einziges Studio-Doppelalbum (wenn man Doppelalben an der normalen Spielzeit eines zur Veröffentlichungszeit vorherrschenden Mediums, d. h. LP oder CD, misst). Es ist ihr einziges Konzeptalbum, zugleich die letzte Veröffentlichung mit Peter Gabriel und das einzige Album, das auf der zugehörigen Tour komplett gespielt wurde. Von der Stimmung und der Musik her lässt sich The Lamb kaum mit seinen Vorgängern oder Nachfolgern vergleichen.
Dass das Album bisweilen das „amerikanischste“ von Genesis genannt wird, wurde bereits angesprochen – beinahe ist man versucht, in seiner über größere Strecken relativ kühlen Klangfärbung Peter Gabriels zweites Soloalbum vorweggenommen zu sehen. Ganz unstreitig aber markiert das Genesis-Album für die Band in der Fünfer-Besetzung Banks, Collins, Gabriel, Hackett, Rutherford mehr als nur den Schlusspunkt einer Ära: The Lamb Lies Down On Broadway ist, ungeachtet aller kleinen Macken, der Gipfelpunkt der Gabriel-Jahre. Alles nur „knock and know-all“? Mag sein – aber dessen ungeachtet ein großes Meisterwerk.
Autor: Martin Klinkhardt