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Genesis – Take A Little Trip Back To … The Cottage

Das Cottage spielt in der Frühphase der Band eine große Rolle. Richard Macphail hatte schon beim Early Years Event 2005 ausführlich darüber berichtet, nun war Mino Profumo mit Richard zwecks Geschichtsstunde im Cottage …

Es gibt eine Reihe von Orten, die eng mit der Geschichte von Genesis verbunden sind und das Herz jedes Fans höher schlagen lassen: Das Internat Charterhouse, der Plattenladen Record Corner in Godalming, das Friars in Aylesbury, Headley Grange, The Farm und viele andere mehr. Eine der ersten Stationen des Pilgerweges, den jeder ernsthaft besessene Fan einmal im Leben gehen möchte, liegt in der Nähe des abgeschiedenen Dörfchens Wotton in Surrey. Dort befindet sich das Christmas Cottage, jenes entzückende Landhäuschen, das die Eltern von
Richard Macphail Genesis großzügig für ein halbes Jahr, nämlich von Oktober 1969 bis Anfang April 1970, kostenlos überließen. Es ist allgemein bekannt, dass diese Zeit für die Band sehr prägend war und entscheidend für den Übergang von den frühen, unausgereiften Stücken, wie man sie auf From Genesis To Revelation findet, hin zu dem komplexeren, typischen Sound von Genesis, der ab Trespass zum Vorschein kommt.

Dank der überwältigenden Freundlichkeit und Großzügigkeit von Richard Macphail hatte ich am 1. Juni [2008] die Gelegenheit, das Cottage zu besichtigen. Das Folgende ist der getreue Bericht eines unvergesslichen Tages und basiert auf dem, was Richard während unseres Besuches sagte (direkte Zitate von ihm sind als wörtliche Rede markiert). Ich möchte Richard noch einmal ganz herzlich danken. Er ist ein großartiger Mann mit einem großen Herzen und jemand, der für den Erfolg von Genesis unverzichtbar war.

Die Geschichte

Die Familie Macphail kaufte das Christmas Cottage in den frühen Sechzigern, etwa zu der Zeit, als Richard nach Charterhouse kam und sich dort mit Mike Rutherford, Tony Banks, Peter Gabriel und besonders Anthony Phillips anfreundete.
Vorher gehörte das Häuschen Lyndon Travers, dem Bruder von Bill Travers, der damals wegen des Films Frei geboren (Born Free), in dem er mit seiner Frau Virginia McKenna die Hauptrolle spielte, ein recht bekannter Schauspieler war. Zu dieser Zeit wurden fast alle großen Landsitze als Eigentum ge- und verkauft. Alle großen Landbesitzer (in Wotton war dies die Familie Evelyn) besaßen die Landhäuser und die jeweiligen Bewohner pachteten sie für eine festgelegte Zahl von Jahren. So konnten die Landbesitzer ihr Eigentum für immer behalten und die einfachen Leute hatten keine Chance auf Grunderwerb. Die Regierung änderte später die entsprechenden Gesetze, woraufhin es möglich wurde, Grundeigentum zu einem erschwinglichen Preis zu erwerben. Mr. Jones, der den Macphails im Frühjahr 1970 das Cottage abkaufte, nutzte die Gelegenheit sofort, kaufte das Eigentum für nur 45.000 Pfund, verkaufte es den gegenwärtigen Besitzer zum Marktpreis und machte dabei einen guten Gewinn. Mr. Jones ist, nebenbei bemerkt, einer der größten Weinhersteller in Großbritannien.

„Für meine Familie war es der perfekte Ort für das Wochenende. Wir lebten damals in einer Mietwohnung mitten in London, in der Nähe der berühmten Zeitungsmacherstraße Fleet Street. Freitagabends fuhren wir ins Landhaus und blieben dort bis Sonntagabend oder Montagmorgen. Es liegt nur eine Autostunde von London entfernt, ganz in der Nähe der City, aber doch sehr ruhig und abgelegen, wirklich erholsam. Die ganzen ’60er Jahre hindurch fuhren wir dorthin, aber im Sommer 1969 brach jemand unter der Woche, während wir in London waren, dort ein. Wenn jemand irgendwo einbricht und etwas stiehlt, passiert es oft, dass der Ort für den Besitzer seinen Zauber verliert. Man fühlt sich nicht mehr sicher und glücklich in einem so abgelegenen Häuschen. Deshalb wollte meine Mutter auch nicht mehr hinfahren. Also entschloss sich mein Vater, das Haus zu verkaufen. Es schien ihm jedoch besser, damit bis zum Frühling zu warten, wenn die Bäume wieder grün wurden und überall Blumen blühten, um es vorteilhafter verkaufen zu können.“

Die Ankunft von Genesis

Es war also reiner Zufall, dass das Cottage gerade zu dem Zeitpunkt den ganzen Winter über leer stand, als Genesis, damals noch mit Ant Phillips und John Mayhew, beschlossen, alle weiteren Pläne ein Jahr lang zurückzustellen, es mal professionell mit der Musik zu versuchen und sich intensiv um die Entwicklung der Band zu kümmern. Sie suchten einen Ort, an dem sie gemeinsam wohnen konnten, und das Landhäuschen der Macphails schien die perfekte Lösung zu sein. Richards Vater stellte ihnen das Haus kostenlos zur Verfügung und besorgte ihnen auch noch einen Brotlieferwagen der Firma Rank Hovis MacDougall, für die er damals arbeitete.

„Das war eigentlich die Zeit, in der Trespass entstand. Ich erinnere mich noch daran, dass ich eines Nachmittags den Abwasch machte und dabei zusah, wie Peter an der Hammond-B3-Orgel saß und den Text für The Knife schrieb. Die Musik war schon fertig, er musste nur noch die Worte schreiben. Leider habe ich keine Fotos oder Aufzeichnungen von damals. Das finde ich im Nachhinein besonders schade. Wir waren die ganze Zeit im Cottage mit Ausnahme einiger Wochenenden. Wenn wir am Samstag keinen Auftritt hatten, fuhren wir alle zu unseren Familien zurück. Für mich war das eine große Erleichterung, denn ihre Mütter, vor allem die von Mike und Ant, packten ihnen jedes Mal für mehrere Wochen Lebensmittel ein – dann musste ich nicht so oft einkaufen gehen. Wir hatten damals kein Geld und gingen nie in die Kneipe, auch wenn wir uns in Collegekreisen allmählich einen Namen machten. Irgendjemand organisierte eine Art Werbebörse mit vielen jungen Bands in einer Schule in Kensington in London. Alle Sets waren sehr kurz, und wir spielten vor einer Reihe von Konzertveranstaltern, die später die Bands buchen konnten, die ihnen am besten gefielen. Für uns fielen da auch einige Buchungen ab, vor allem für Samstagabende. Den Studenten gefielen wir und wir wurden oft wieder eingeladen.“

Richard und die fünf Mitglieder von Genesis lebten gemeinsam im Cottage. Ab und zu kam noch ein anderer Freund der Band namens David Rootes hinzu; er war eine Art Teilzeitroadie. Er lebte nicht weit von Wotton in Clandon und begleitete sie zu den Konzerten. Heute arbeitet er in einer Firma, die sich auf (Forschungs-)Reisen in die Antarktis spezialisiert hat. In einer alten Ausgabe von National Geographic kann man sein Bild sehen.

„Tony Stratton-Smith war niemals im Cottage. Das musste er auch nicht, denn er sah uns ja jede Woche im Ronnie Scott’s in der Frith Street. Er selbst wohnte um die Ecke in der Dean Street. Er gab uns einen Plattenvertrag bei Charisma für zehn Pfund pro Woche und baute unser Selbstvertrauen auf, in dem er mit uns ein Risiko einging. Darum verließen wir das Cottage und zogen nach London.“

Das Cottage gestern und heute


Über die Jahre wurde das Cottage mehrfach umgebaut und sieht heute etwas anders aus als auf dem berühmten verschneiten Bild, das man aus Armando Gallos Büchern kennt – schwarzweiß in Evolution Of A Rock Band, und dann noch einmal in Farbe in From One Fan To Another.

„Ungefähr die Hälfte ist noch, wie es war. Die größte Änderung war die Verlegung der Haustür. Der Eingang ist jetzt auf der ehemaligen Rückseite des Hauses, weil es an der linken Seite eine Zufahrt zur eigentlichen Front gibt. Das ist schon eine große Verbesserung, weil man jetzt einfacher ankommt. Mit Genesis mussten wir damals die ganzen Instrumente und die andere Ausrüstung vom Parkplatz am Fuße des Hügels zum Cottage hochtragen; das war sehr anstrengend, vor allem im Winter, wenn es regnete und der Boden rutschig war vom nassen Laub. Wir sägten sogar ein kleines Stück vom Zaun ab, um unseren Weg abzukürzen. Die Hammondorgel musste aber nach wie vor den kleinen Pfad entlang getragen werden – und das galt auch für andere schwere Ausrüstungsgegenstände wie das Leslie Cabinet, das wir selbst gebaut hatten, weil wir uns das Original nicht leisten konnten. Dann kaufte Tony ein Hohner-E-Piano und später kam noch das Mellotron von King Crimson dazu. Das war deren zweites Mellotron. Das erste, das sie auf In The Court Of The Crimson King verwendet hatten, war bei einem Brand beschädigt worden.


Im Erdgeschoß des Häuschens gab es eine große offene Fläche, einen kombinierten Wohn-/Essbereich. Wir stellten dort ein paar Stühle, ein Sofa und einen Fernseher hin. Hier hat die Band auch immer geprobt, und glücklicherweise ist der Bereich bis heute erhalten geblieben. Den Flur hinunter lag die alte Eingangstür, direkt daneben mein ursprüngliches Schlafzimmer, das sich Peter und Tony teilten. Daraus ist inzwischen eine wunderbare, große Küche mit einer Erweiterung über zwei Stockwerke geworden. Wo heute der Eingang liegt, hatte mein Vater sich ein Arbeitszimmer eingerichtet mit dem Telefon, von dem aus Peter und ich Plattenfirmen und Konzertveranstalter anriefen. Oben war ein kleines Schlafzimmer, das Mike benutzte. Er hatte damals eine Freundin namens Josie, die ihn oft im Cottage besuchte. Daneben lag das Schlafzimmer meiner Eltern, wo Ant Phillips, John Mayhew und ich auf Matratzen schliefen, die wir auf den Fußboden gelegt hatten.“

Erfreulicherweise wissen die gegenwärtigen Eigentümer des Cottages von der Rolle, die das Häuschen in der Geschichte von Genesis spielte, und sammeln Artikel, in denen die ursprünglichen Mitglieder der Band das Cottage erwähnen. Natürlich gibt es heute keine direkten Spuren der Band mehr zu sehen, aber es ist schon wichtig, die Erinnerung an jene Zeit wachzuhalten – eine entscheidende Phase, in der sich nicht nur die einzigartige, erstklassige Musik von Genesis, sondern auch die nötige Disziplin innerhalb der Band entwickelte.

. Das Wesen echter Kunst ist Freiheit innerhalb einer Ordnung.“ (Pablo Picasso)

Autor: Mino Profumo
Übersetzung: Martin Klinkhardt
Zuerst erschienen in: DUSK, Ausgabe 59, Juli 2008