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Genesis – Warum „Supper’s Ready“ Juckreiz verursachen kann
Supper’s Ready ist das zentrale Stück im Oevre von Genesis. Christoph Laakmann wagt eine musikalisch-analytische Betrachtung dieses Prog-Klassikers.
Musikalisch-analytische Betrachtung eines Prog-Klassikers
[Disclaimer: nerd stuff]
Einleitung
2022 rückte Supper’s Ready wieder nachdrücklich in den Fokus rockhistorischen Interesses: 50-jähriges Foxtrot-Jubiläum! Und siehe da: Nicht nur Prog-Blätter á la Eclipsed feierten zu diesem Anlass Genesis’ viertes Album von 1972 und seinen 23-minütigen Longtrack, sondern auch und sogar der deutsche Rolling Stone, dieses ansonsten merkwürdig starre Bollwerk gegen kompositorisch allzu ambitionierte Kreativität, bezeichnete Supper’s Ready als „psychedelische[s] Meisterwerk“. Dass das gefühlte Zentralgestirn der Gabriel-Phase als Klassiker progressiver Rockmusik gilt, steht außer Frage.
Mich, als bekennenden Liebhaber dieser Phase, hat Supper’s Ready seit jeher besonders gejuckt. Aller Faszination und allem Kultstatus zum Trotz konnte ich es mir nie anhören, ohne dass einige Stellen der Komposition spürbare Irritationen auslösten. Erste Impulse, die ästhetische Beschaffenheit speziell der musikalischen Ebene des Songwritings näher zu untersuchen und die dabei gewonnenen Einsichten zu sammeln, entstanden an genau diesen Juckstellen. Der Schritt, die angestellten Überlegungen in einem inhaltlich geschlossenen Rahmen an dieser Stelle zu teilen, ergab sich erst als Folge meines Eindrucks, den Essays und Studien, die es zur Musik von Supper’s Ready bereits gibt, noch ein paar relevante Aspekte hinzufügen zu können.
Die für mich bislang interessanteste Arbeit über Supper’s Ready stammt von Mark Spicer und trägt den etwas sperrigen Titel Large-Scale Strategy and Compositional Design in the Early Music of Genesis (2008). Weitere wichtige Hinweise und Anregungen erhielt ich aus einer Vielzahl anderer Publikationen und Quellen – ob speziell zum Foxtrot-Album, zur Band Genesis oder auch zum Prog allgemein. Das wären insbesondere Bernward Halbscheffels Song-Analyse in Progressive Rock – Die Ernste Musik der Popmusik (2012) und das 2023 unter dem Autorennamen Mark Bell erschienene Buch Foxtrot (Genesis 1972-1973) – Aufstieg und Apokalypse. Obwohl ich den genannten Verfassern natürlich nicht unkritisch in allem folge, findet sich bei ihnen eine ganze Reihe von inhaltlichen Voraussetzungen für diesen Text. Ich werde mich das ein und andere Mal auch ausdrücklich auf sie beziehen.
Ziel meiner Darstellung ist es, ein erweitertes Verständnis für die Besonderheiten der Komposition und damit auch für das Stück als rockästhetischen Gesamtwurf zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, führt der Weg weder an handfesten analytischen Betrachtungen noch an persönlichen Schwerpunktsetzungen und Abwägungen vorbei. Wer nach über 50 Jahren Wirkungsgeschichte substanzielle Ergänzungen zu Supper’s Ready vorlegen will, muss eigene Perspektiven und Ansätze finden und sie nachvollziehbar vertiefen.
Dies wird zunächst abschnittweise geschehen, indem die Charakteristika der sieben Parts und der drei Zwischenspiele sukzessive in Augenschein genommen werden. Danach richtet sich mein Blick auf die Gesamtstruktur des Songs und mögliche Antworten auf die Frage, was Supper’s Ready unter dem am Ende zu ziehenden Strich musikalisch ausmacht. Die Lyrics werden von mir nur dann einbezogen, wenn ich sie mit der Musik in Verbindung bringen kann. Wer sich für Hintergründe, Analysen und Interpretationen des von Peter Gabriel verantworteten Songtextes interessiert, wird sicher an anderer Stelle schnell fündig werden.
Die zur Orientierung eingefügten Zeitangaben beziehen sich auf die Foxtrot-Ausgabe (CD) „2008 Digital Remaster And Stereo Mix“ (©2007).
1. Lover’s Leap – Inszenierung eines Normalitätsverlustes (0:00–1:57)
1.1 Das fehlende Intro
Vordergründig zu erwarten wäre Folgendes gewesen: Genesis eröffnen den mit Abstand längsten Track der Bandgeschichte mit einem wuchtigen Intro beträchtlichen Ausmaßes, um zu Beginn gleich mal ein dickes und Aufmerksamkeit gewinnendes Ausrufezeichen zu setzen und das Gewicht des Kommenden anzudeuten. Genesis nach Trespass verkörpern immerhin wie fast keine andere Band die Opulenz des klassischen Symphonic Prog und konnten spätestens seit dem Watcher Of The Skies-Intro von sich behaupten, die Wichtigkeit musikalischer Eröffnungsgesten verinnerlicht zu haben.
Und was gab es da nicht alles im Laufe der Jahre: Schon die dramatisch anschwellende The Fountain Of Salmacis-Einleitung (1971) war eigentlich der Beginn einer ganzen Reihe wirkungsvoller Bombast-Eröffnungen. Danach kam Watcher Of The Skies (1972), dessen sinfonisch geprägtes Intro sogar eine Dreifachfunktion erfüllte: Song-, Album- und Konzertopener. Die Reihe setzte sich fort: Dance On A Volcano (1975), The Eleventh Earl Of Mar (1976) und natürlich Duke’s Intro in Behind The Lines (1980) sind die eindrucksvollsten Beispiele. Genesis bewiesen zudem ihre ganz besondere Könnerschaft und Kreativität auf diesem Gebiet, indem sie sich bei keinem dieser Intros auch nur ansatzweise wiederholten.
Ausgerechnet beim Opus magnum also nicht der große Vorhang. Nun gut. Es funktionierte ja auch anders, nämlich filigran und leise. Wie beim wunderbar stimmungsvollen Beginn von Cinema Show (1973), der atmosphärisch treffsicheren Piano-Einleitung von The Lamb Lies Down On Broadway (1974) und den altertümlich-märchenhaften Eingangsakkorden von The Musical Box (1971). Alles ganz besondere und sicherlich auch das gesamte Genre prägende Intros, die den jeweiligen Song auf erinnerungswürdige Weise in Szene setzten.
Aber Supper’s Ready? Nichts. Gar nichts. Es geht los, als fiele jemand mit der Tür ins Haus: „Da gehe ich doch gerade bei mir durchs Wohnzimmer, mache den Fernseher aus – und zack! spielt plötzlich alles verrückt!“ Wie – … bitte? Ohne auch nur ein einziges vorgeschaltetes Tönchen zur Einstimmung singt Peter Gabriel sofort auf dem ersten Gitarreneinsatz seine Lyrics in die Runde.
Was auf den ersten Blick verwundern mag, lässt sich jedoch hier schon einmal vorläufig relativieren. Das fehlende Intro stellt kein einmaliges Kuriosum im Genesis-Kosmos dar. Zu Beginn von Dancing With The Moonlit Knight erschien im Jahr darauf (1973) sogar eine zugespitztere Variante: Der Opener des Selling England By The Pound-Albums beginnt radikal reduziert mit unbegleitetem Sologesang.
Der Anfang von Supper’s Ready belegt zum einen exemplarisch, wie variabel und vielgestaltig Genesis seinerzeit komponiert und stereotype Lösungen vermieden haben. Zum anderen lässt sich eine erste Entsprechung von Musik und Text festhalten: Beide beginnen völlig unvermittelt. Musikalisch in medias res zu gehen, durfte der ambitionierten Band also als durchaus sinnfällige Option gelten, während ein pompöser Tusch mit Blick auf die textliche Anlage alles andere als zwingend gewesen wäre.
1.2 Der fehlende Grundton
Eines an dieser Stelle vorweg: Wie Mark Spicer völlig richtig anmerkt, handelt es sich bei Genesis um keine musiktheoretisch bewanderte Band. Die größten Neigungen, sich auf diesem Gebiet im Laufe seiner Karriere zu bilden, besaß wohl Anthony Phillips, der zu Foxtrot-Zeiten allerdings schon ausgestiegen war. Genesis komponierten grundsätzlich intuitiv und orientierten sich primär an der unmittelbaren klanglichen Wirkung ihrer Ideen und ihrem Gespür für die Dramaturgie eines Songs – was im Übrigen für alle Phasen ihres Schaffens gilt. In anderen Worten: Musikalische Strukturen interessierten sie als ihre Hörer direkt ansprechende Ausdrucksträger und im Zusammenhang mit der Gestaltung von Spannungsbögen. Insbesondere Tony Banks schrieb sich ein Bewusstsein dessen immer wieder auf seine Fahnen. Die analytische Durchdringung des Songwritings hingegen – das belegen mehrere Aussagen von Bandmitgliedern – hatte für Genesis nur dann Bedeutung, wenn es um Probleme der spieltechnischen Umsetzung des Materials ging.
Es dürfte Genesis deshalb womöglich verborgen geblieben sein, wie bemerkenswert reich und ausgefallen die Ebene der harmonischen Gestaltung von Lover’s Leap geraten ist. Am besten wird dies nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, was es heißt, wenn ein Stück in einer bestimmten Grundtonart steht. Die Grundtonart ist ein einflussreiches und für jeden wahrnehmbares Zentrum der Musik. Sie verleiht dem Vorgang des Hörens seinen tonalen Bezugspunkt – wie eine Art Heimathafen, von dem eine Komposition ausgeht, sich in spürbarer Relation zu ihm fortbewegt und schließlich in den meisten Fällen auch wieder zurückkehrt. Alle vorkommenden Melodien und Akkorde, ja selbst rhythmische Phänomene sind auf dieses jederzeit wirksame Zentrum bezogen.
Wer aber nach der Grundtonart von Lover’s Leap sucht, nach einem solchen Stabilität und Orientierung stiftenden Ausgangspunkt der anstehenden Reise, kann sich vorkommen wie bei einem fortwährenden Versteckspiel innerhalb eines Irrgartens.
Um es vorwegzunehmen: Es gibt hier keine einzige Sekunde, in welcher sich eine Grundtonart zeigt, die ihren Namen verdient hätte. In den ersten beiden Takten gaukelt die Musik noch vor, sich auf den Grundton ‘e‘ beziehen zu wollen (Spicer geht in seiner Analyse von E-Dur aus, es könnte jedoch genauso gut e-Moll sein). Zu Beginn von Takt 3 vollzieht sich dann das, was für den gesamten Part bezeichnend ist: Die Musik weicht dem vermeintlich angepeilten tonalen Zentrum aus – in diesem Fall nach h-Moll (0:08). Hörpsychologisch betrachtet, bedeutet dies nichts Anderes als eine (kurzzeitig) enttäuschte Rezeptionserwartung und damit ein destabilisierendes Moment.
In diesem Stile überraschender Wendungen und Ausweichmanöver geht es dann weiter. Besonders interessant aber wird es, wenn man den Text in die Überlegungen einbezieht. Da wäre zum Beispiel der bereits angesprochene unmittelbare Beginn, der angesichts des eben Gesagten eine Einheit mit der harmonisch spannungsreichen und offenen Anlage der Musik ergibt.
Diese Anlage lässt sich übrigens nicht nur daran erkennen, dass nach den Anfangsakkorden die Bewegung hin zur vermeintlichen Grundtonart vermieden wird. Bereits der erste Akkord a-c-e-fis nämlich beinhaltet erstens starke Dissonanzen (c/fis und e/fis) und lässt sich zweitens bezogen auf den Grundton ‘e‘ klar der subdominantischen Sphäre zuordnen. Diese jedoch ist die von der Grundtonart (= Tonika) fortstrebende Sphäre. Bildlich gesprochen wendet die Musik ihrem Heimathafen, sofern er ohnehin nicht nur eine Schimäre wäre, schon ganz zu Anfang mit Blick aufs offene Meer den Rücken zu.
Bemerkenswert ist auch die Stelle, an welcher das Text-Ich eine plötzliche Veränderung im Gesicht des geliebten Gegenübers beteuert („I swear I saw your face change“). Man möchte fast glauben, Genesis hätten Folgendes in aller Sinnfälligkeit ganz bewusst gestaltet: Wie zuvor in den Takten 1-2 bewegt sich die Harmonik erneut auf den scheinbaren Grundton ‘e‘ zu, vollzieht nun aber parallel zum textlichen Umschlag der Situation mithilfe einer schnellen Kadenz-Bewegung eine Wendung nach B-Dur (0:22-0:26) – das zu ‘e‘ im spannungsreichen Tritonusabstand steht! Dies gelingt sogar ziemlich elegant und damit auch für das Gehör auf sehr akzeptable Weise, indem das ‘dis‘ und ‘fis‘ des bei night time erreichten H-Dur als gemeinsame Töne des nachfolgenden es-Moll-Dreiklangs fungieren – man muss sie dafür lediglich enharmonisch verwechseln (also zu ‘es‘ und ‘ges‘). Von es-Moll aus ist es dann möglich, über einen Dominantseptakkord auf ‘f‘ zu B-Dur zu gelangen.
Was harmonisch erstens rasant und zweitens ungewöhnlich ist, illustriert also trefflich das mindestens ebenso ungewöhnliche Textgeschehen: die abrupte Außerkraftsetzung einer nur scheinbar stabilen Lebensrealität, den Einbruch des Übernatürlichen in die Normalität einer häuslichen Paarsituation.
Ungewöhnlich ist dabei ausdrücklich nicht die auffrischende Wirkung der erreichten neuen Dur-Tonart. Dieser Effekt entspricht dem Wesen eines guten Refrains, der den Song ja auf eine neue, gesteigerte Ebene bringen soll. Es ist vielmehr die Tatsache, dass die B-Dur-Sphäre mit dem vorangegangenen harmonischen Bereich, in dem so weit entfernte Akkorde wie H-Dur und Fis-Dur vorkamen, nichts zu tun hat und quasi beziehungslos angesprungen wird. Der Umschlag nach B-Dur ist mehr als ein bloßer Beleuchtungswechsel; aus tonartlicher Sicht ist er ein echter Bruch, quasi eine falsche Bewegung – die just in dem Moment stattfindet, als es heißt: „it didn’t seem quite right“. Faszinierend!
Wer Supper’s Ready bereits unzählige Male gehört hat, stolpert wegen des damit verbundenen Gewöhnungseffekts wohl kaum noch über derlei harmonische Besonderheiten. Zudem wartet der erste Part mit dem wohltuenden Flair des ikonischen Genesis-Folks auf – hier unter Einsatz gleich dreier zwölfsaitiger Gitarren (plus Cello), deren fließendes Zusammenspiel vordergründig etwas Friedliches und Unaufgeregtes ausstrahlt.
Dennoch lohnt es sich vielleicht, den erwähnten Umschlag noch einmal bewusst und wie zum ersten Mal wahrzunehmen. Die auffällige Einsetzung des „falschen“ B-Dur rückt die Musik zum Refrain hin in einen spürbar anderen Ausdrucksbereich, den Peter Gabriel ab den Worten „Hello babe“ dann auch stimmlich markiert: Hier wirken Musik resp. Gesang deutlich aufgesetzt, unecht. Live unterstützte Gabriel dies seinerzeit noch durch ein gekünsteltes Schwingen seines Körpers.
Bezeichnend ist, dass die Lyrics des Refrains den Versuch beinhalten, die Wahrhaftigkeit der Liebe zu beschwören: „(…) don’t you know our love is true?“ Die Musik scheint hier also über die unmittelbare Semantik des Textes hinweg das zu erzählen, was wirklich stimmt: dass gerade jenes, was unbedingt und dauerhaft gesetzt sein sollte, sich plötzlich als Illusion entpuppt, die nun verzweifelt aufrechterhalten werden soll. Auch die Aufforderung im zweiten Refrain, sich dem – hier ausdrücklich profanen – Abendessen zuzuwenden, wäre demnach Ausdruck eines von Angst getriebenen Wunsches, alles möge doch bitte schnellstens wieder normal werden.
1.3 Ein Prolog, der Rätsel aufgibt
Abgesehen vom ausbleibenden Intro stellt sich Lover’s Leap vom Aufbau her zunächst wie ein normaler Song dar: 1. Strophe (ab „Walking across the sitting room“), Refrain (ab „And it’s hello babe“), 2. Strophe (ab „Six saintly shrouded men“), Refrain (ab „And it’s hey babe“), C-Teil (ab „I’ve been so far from here“) – und dann Ende Gelände. Mindestens der Refrain müsste noch einmal kommen, um das tradierte Schema und vor allem dessen klingenden Sinn zu erfüllen. Wäre Lover’s Leap ein alleinstehender Song, wirkte er willkürlich beendet bzw. unvollständig.
Angesichts des Kommenden aber erweist sich die Struktur des ersten Parts als künstlerisch absolut nachvollziehbar: Eine episodische Großform nämlich funktioniert nicht, wenn am Ende eines Teilabschnitts bereits der Eindruck des Erfüllten entsteht. Die Unabgeschlossenheit von Lover’s Leap ist also notwendig, um dem Ganzen nicht schon zu Beginn die nach vorn weisende Spannung zu rauben. Das (rhetorische) Fragezeichen am Ende der letzten Zeile („Hasn’t it?“) ist die textliche Entsprechung einer auch musikalisch geschürten Erwartung, hier könne auf keinen Fall schon das letzte Wort gesprochen sein.
Um es abzuschließen: Lover’s Leap setzt scheinbare kompositorische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Nicht zuletzt musikalisch werden Selbstverständlichkeiten hörbar konterkariert. Die akkordische Gestaltung ist für einen Rocksong ausgesprochen dicht und komplex, bleibt zudem durch das Ausbleiben einer echten Grundtonart ohne feste Orientierung und im Fortgang unberechenbar. Ein konventionelles Songschema deutet sich zunächst an, erfüllt sich jedoch nicht. Dass ausgerechnet der Refrain – als zentraler Teil eines solchen Schemas – den Ausdruck von Gewolltheit und Gekünsteltheit bekommt und den Text damit bricht, kann als weiterer ungewöhnlicher Clou rezipiert werden.
Pointiert formuliert, handelt es sich beim ersten Part von Supper’s Ready um einen als musikalisches Rätsel auskomponierten Prolog, der umso hintergründiger zu schillern scheint, je genauer man ihn betrachtet. Passend dazu kann auf Sarah Hills Untersuchung der narrativen Textstruktur von Supper’s Ready in ihrem Artikel Ending it all: Genesis and Revelation (2013) hingewiesen werden, in welchem sie zum Ergebnis kommt, dass Lover’s Leap auch auf dieser Ebene den Merkmalen eines Prologs entspricht.
Alles in allem müsste man wohl schon lange in der Musikgeschichte suchen, um einen interessanteren Einstieg in einen Rocksong zu finden.
Zwischenspiel 1 (1:57-3:52)
Die Problematik des formalen Zusammenhalts kann als einer der besonders neuralgischen Aspekte von Supper’s Ready gelten. Hinreichend belegt ist, dass der Aufbau des Werks nicht das Ergebnis einer visionären oder gar detailliert ausgearbeiteten Gesamtidee ist, sondern sich erst im kollektiven Prozess des Songwritings auf für die Band unvorhergesehene Weise und unter Zeitdruck entwickelt hat. Eine gründliche Rekonstruktion dieses Prozesses legte Mark Bell in seinem Foxtrot-Buch vor.
Dass Supper’s Ready wie ins Blaue hinein komponiert wurde und die endgültige Laufzeit mit anfänglichen Kalkulationen überhaupt nichts mehr zu tun hatte, ist allerdings kein Grund, die große Form von vornherein als beliebig oder gar misslungen abzuwerten. Der Vorgang, dass Genesis nach und nach aus z.T. völlig unabhängig voneinander entstandenen Bausteinen ein Ganzes errichteten, entspricht sogar eigentlich genau dem, was der Begriff „komponieren” seiner Herkunft nach bedeutet: „zusammenstellen” / „zusammensetzen”.
Genesis entschieden sich bekanntermaßen dafür, einige der sieben Parts durch Zwischenspiele zu verbinden (ohne diese im Booklet zu erwähnen), andere wiederum nicht. Das zeigt ganz einfach, dass derlei Einschübe natürlich keiner generellen Notwendigkeit, sondern Einzelfallentscheidungen zu verdanken sind. Ihre ästhetische Sinnhaftigkeit lässt sich (wie immer) erst ganz individuell und konkret am Musikstück selbst verhandeln.
Wie bereits dargestellt, entpuppt sich der C-Teil „I’ve been so far from here[…]“ als unvermittelt geöffnete Ausgangstür aus dem Lover’s Leap-Prolog und macht einen letzten (erneut unerwarteten) Schritt hin zur dorischen Skala über dem Ton ‘d’. Vom Sound her verbleibt das an diesem Punkt beginnende Zwischenspiel in der Sphäre des Anfangs: Zwölfsaitige Gitarren zupfen erneut ein Muster aus gebrochenen Akkorden. Im Gegensatz zum unberechenbar sprunghaften Lover’s Leap kreist die Musik nun aber zurückgezogen in sich selbst. Der zuvor schnellen Abfolge ungewöhnlicher Akkordverbindungen folgt hier ein fast durchgängiges Verharren auf dem ‘d‘ im Bass und einem gleichförmigen Ostinato der Gitarren. Darüber entfalten sich langgezogene Vokalisen, ein paar Flötentöne und ein elektrisches Pianosolo.
Deutlich zu hören ist auch, dass dieses erste Zwischenspiel eine zwar verbindende, aber eben keine überleitende Funktion hat. Im Wesentlichen lässt es sich als meditativer Nachklang der Part 1 abschließenden Textzeile „It’s been a long long time. Hasn’t it?“ auffassen. Kurz vor dem Ende fädeln Genesis dann durch eine harmonische Bewegung hin zu a-Moll den Beginn des zweiten Parts ein.
Dem Zwischenspiel mag man klanglichen Charme und eine einnehmende Atmosphäre zuschreiben – besondere Leckerbissen bietet das Songwriting hier nicht. Ein beträchtliches musikalisches Problem aber liegt darin, dass nach dem klanglich ebenfalls dezenten und mäßig schnellen Prolog keinerlei fortschreitende Wirkung erzeugt wird. Lover’s Leap endet dort, wo Supper’s Ready eigentlich so richtig anfangen müsste. Ein retardierendes Moment an dieser Stelle, kurz nach dem auslösenden Impuls einer textlichen und musikalischen Handlung, ist mit Blick auf die Dramaturgie des Formverlaufs ausgesprochen fragwürdig.
Weitere Aspekte kommen erschwerend hinzu: Erstens dauert diese abbremsende Passage knapp zwei Minuten und hat damit ebenso viel zeitliches Gewicht wie der Prolog, zweitens weist der nachfolgende Part sogar noch eine kleine Einleitung auf („I know a farmer […] after the fire”). Eine überlegenswerte Alternative wäre dementsprechend eine kürzere und zielgerichtete Überleitung gewesen. Und dies hätte die Band sicherlich auch in Erwägung ziehen können, ohne die Struktur des gesamten Longtracks antizipieren zu müssen.
2. The Guaranteed Eternal Sanctuary Man – Täuschungsversuch mit Abbruchkante (3:53-5:42)
Erst nach knapp viereinhalb Minuten gibt es den dynamischen Anschub, den Supper’s Ready schon vorher hätte vertragen können. The Guaranteed Eternal Sanctuary Man kommt mit dem Gestus eines musikalischen Hauptthemas daher (während Lover’s Leap sich allerspätestens jetzt in seiner Rolle als vorgeschalteter Prolog zu erkennen gibt). Dies liegt an ein paar auffälligen Ereignissen, die gleichzeitig stattfinden: Zum einen setzt nach dem einleitenden Hinweis des Sprechers auf den merkwürdigen „fireman“ endlich die gesamte Band und damit auch eines der elementaren rockmusikalischen Elemente ein: der Beat vom Drumset. Zum anderen hört man (nach einem Spannung erzeugenden Crescendo auf einem dominantisch zuspitzenden Septnonakkord) einen bedeutsam strahlenden A-Dur-Dreiklang, der zum ersten Mal den Eindruck einer echten Grundtonart vermittelt (4:23).
Zwar gab es auch zuvor schon ein paar tonale Zwischenzentren der Musik (im vorangegangenen Intermezzo war es das ostinate ‚d‘), aber keines dieser Zentren wurde musikalisch so massiv in den Boden gepflockt, wie es hier der Fall ist. Zusätzlich unterstreicht Peter Gabriel das Gewicht dieser Stelle melodisch durch das langgezogene „You“ auf der stabilisierenden Quinte des A-Dur-Dreiklangs, während Tony Banks‘ Orgel die Dreiklangstöne und damit die Tonart fanfarenartig zementiert.
Der titelgebende Protagonist, der nun sein textliches Unwesen treibt, wird sofort als Hochstapler gebrandmarkt („You, can’t you see he‘s fooled you all“). Davon ist allerdings musikalisch zunächst nichts zu spüren: Supper’s Ready schreitet fast schon gravitätisch im Vierertakt voran, und jedesmal, wenn der Name des Guaranteed Eternal Sanctuary Man als Hookline zelebriert wird, erklingt eine fast schon überhöhend-feierliche Akkordfolge – als ob einem großen Herrscher gehuldigt würde.
Kompositorisch ist dieser Part nicht so spektakulär wie Lover’s Leap. Das Schmuckstück ist die eben erwähnte Akkordfolge (über einer passenderweise aufsteigenden Basslinie), die erstens recht originell ist und zweitens eine sehr ausdrucksstarke, erhebende Wirkung entfaltet. Bis kurz vor Schluss hat die Musik nichts Hintergründiges oder gar Doppelbödiges, sondern strahlt in triumphierendem Glanz. Dann aber, bei der Wiederholung der Hookline, bricht sie urplötzlich ab: „he’s the guaranteed eternal sanctuary“ – huch? Ist er’s etwa doch nicht?
Diese Stelle (5:28) ist natürlich zunächst einmal ein (weiterer) Angriff auf die Rezeptionserwartung der Hörenden, die mit einem solch abrupten Ende der strahlenden Herrlichkeit nicht rechnen konnten. Sie korrespondiert gleichzeitig deutlich und aussagekräftig mit dem (im Kontext womöglich ironisch zu lesenden) Ewigkeitsversprechen, welches dem vermeintlichen Heilsbringer anhaftet: Dieses erweist sich nun auch musikalisch als Luftloch.
Nach dem Abbruch setzt ein fahler, dissonanter Orgelakkord ein, der ebenfalls suggeriert, dass die zuvor so majestätische Musik wohl doch eher als entblößte Lüge gelten kann. Man hört es nicht sofort, aber dieser zunächst irritierende Orgelklang ist kein willkürliches Gebilde, sondern mit den Tönen c, e und fis der fast vollständige Anfangsakkord der nun folgenden Lover’s Leap-Reprise – lediglich das ‚a‘ fehlt. Mit anderen Worten: Er markiert ungeachtet der in einem unsauberen D-Dur über ihn gesungenen Kindermelodie „We will rock you rock you little snake“ bereits die tonale Sphäre des zweiten Zwischenspiels. Die schlichte Melodie der Kinder (Sechstonbereich) aber lässt sich ohne Weiteres als musikalisch entwaffnender Gegenpol zum überhöhten Pathos des vollmundigen Verführers hören…
Zwischenspiel 2 (5:42-6:08)
Wie zuvor schon das Zwischenspiel 1 hat auch das zweite (aber deutlich kürzere) Intermezzo überhaupt keinen fortschreitenden Charakter. Die gesteigerte Dynamik von Part 2 ist schnell wieder vorbei, und man fällt nun sogar zurück in den Lover’s Leap-Bereich – als würde ein Resetknopf gedrückt. Immerhin passt dazu, dass sich The Guaranteed Eternal Sanctuary Man als eine in die Irre führende Episode mit scharfer Abbruchkante herausgestellt hatte. Damit befindet sich das Paar des Prologs, das in Supper’s Ready offenbar eine Art psychedelisch-spirituelle Reise unternimmt, quasi wieder am Anfang.
Ein Effekt des Rückbezugs auf den Prolog ist zudem natürlich der Eindruck von Kohärenz. Der episodische Aufbau des Longtracks darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Genesis doch so einige Kniffe parat hatten, um das Gefühl eines Gesamtzusammenhangs zu erzeugen.
Andererseits blockiert die Kehrtwendung zu Lover’s Leap erneut die Vorwärtsbewegung des gerade erst auf Touren gekommenen Songs, sodass sich die ersten sechs Minuten von Supper’s Ready anfühlen können wie ein etwas deprimierendes Stop-and-go gleich auf dem ersten Teilstück einer längeren Fahrt.
3. Ikhnaton And Itsacon And Their Band Of Merry Men – Kriegseuphorie (6:08-9:37)
Mit dem Beschleunigungseffekt der Textzeile „Wearing feelings on our faces while our faces took a rest“ und dem Einsetzen der Drums verspricht der Beginn des dritten Parts wieder mehr Zug nach vorn. Und tatsächlich steigert sich Ikhnaton And Itsacon And Their Band Of Merry Men nach kurzer Zeit in einen expressiven Up-tempo-Groove hinein, der vom martialisch klingenden Einsatz der Snaredrum und einem optimistischen D-Dur geprägt ist (6:33). Peter Gabriel besingt in höherer Stimmlage eine siegreiche Schlacht, Tony Banks umspielt den Groove auf der Orgel mit lebendigen Melodielinien, und Steve Hackett steuert nachfolgend ein fast improvisiert wirkendes, rockiges Gitarrensolo bei.
Von einem besonders ausgefeilten Songwriting ist in diesem Part, der ziemlich direkt aus einem gemeinsamen „one-chord jam“ (Spicer) hervorgegangen sein dürfte, nichts zu hören. Allerdings tut er der musikalischen Entwicklung des Ganzen durch seine unkomplizierte Straight forward-Attitüde ausgesprochen gut. Zudem passt die eher plakative Ausgelassenheit, ja sogar Fröhlichkeit, zur textlich unterkomplexen Darstellung der Kriegsepisode, die sich fast so liest, als handelte es sich um ein Kinderspiel: „Bang, bang, bang…“
Da gibt es zwar noch den Hinweis auf einen fast Wunder wirkenden Zaubertrank („a wonderful potion“), der dafür zu sorgen scheint, dass die Krieger ihr blutiges Geschäft emotional unbedarft durchführen können. Die furchtbaren Folgen des Geschehens aber klingen textlich wie musikalisch in diesem Part noch nicht einmal andeutungsweise an.
Hacketts Solo beinhaltet – zur Ausdrucksebene dieser Episode passend – energetische, oft nach oben strebende Linien und hat insgesamt eine große Lebendigkeit durch schnelle Passagen und viel melodische Abwechslung. Man hört allerdings auch, dass Timing und Phrasierungskunst noch nicht seinem späteren Niveau entsprechen.
Zu Recht hält Mark Bell fest, dass das eingefügte Break als Abschluss des Solos einen musikalischen Höhepunkt darstellt (ab 8:03). Der begleitende Gitarren-Vamp und die Drums pausieren hier (bis auf die Hi-Hat) und rücken dadurch ein zauberhaftes kleines Motiv ins Rampenlicht, welches im Wesentlichen aus gebrochenen Dreiklängen besteht und von Hackett sowie Banks in paralleler Mehrstimmigkeit wiederholt und dann sequenziert in die Höhe geschraubt wird. In dieser von Hackett getappten Passage kulminiert nicht nur sein Solo, sondern der gesamte expressive Gehalt des dritten Parts. Mit Blick auf den Text ließe sich begründet sagen, dass genau in diesem Moment das Kriegsgeschehen zu einem aus Sprechersicht siegreichen Ende kommt.
Folgerichtig lässt Collins anschließend beim Wiedereinstieg in den Jam-Groove seine zuvor ordentlich Krawall machende Snare-Drum weg: Der militärische Teil ist abgehakt, das Geschehen hat sich beruhigt. Dass Tony Banks noch das kleine Dreiklangsmotiv aus dem Break mitnimmt und es quasi als fröhlichen Nachklang der Schlacht über den Vamp legt, ist eine entzückende Idee, die den inneren Zusammenhalt des Ganzen begünstigt.
Alles endet mit einem überzeugend auskomponierten Decrescendo, in dem sowohl Instrumentation/Klang als auch thematisches Material behutsam ausgedünnt werden. Unterstützt wird das Auslaufen dieses Teils in den allerletzten Takten durch ein feines, weil fast unmerkliches Ritardando. Die Lyrics hatten zuvor ins Bewusstsein gerückt, dass der Sieg natürlich noch gefeiert werden soll. Aber auch hier wird auf sehr sinnfällige Weise begreifbar, in welch komplexem und flexiblem Wechselverhältnis Musik und Text zueinander stehen und dass auch die musikalische Ebene eine narrative Funktion erfüllen kann: Allein sie zeigt nun nämlich deutlich an, dass sich der Pulk von Kriegern (und damit mögliche festliche Aktivitäten) entfernt und eine Szenerie der Verlassenheit entsteht.
Zwischenspiel? Fehlanzeige! Das ruhige How Dare I Be So Beautiful? geht organisch per Überblendungstechnik aus dem sich verabschiedenden Part 3 hervor. So kann es eben auch gehen.
4. How Dare I Be So Beautiful? – Kriegsdysphorie (9:38-11:02)
Die vierte Supper’s Ready-Episode ist die kürzeste und schlichteste. Das Paar befindet sich am Ort der geschlagenen Schlacht. Zwar ist in den Lyrics von „chaos“ die Rede, es handelt sich aber um das gespenstische und – das wiederum erzählt die Musik – stille Chaos dessen, was vom Krieg übrig blieb. Die beiden Reisenden erklettern zunächst einen Berg von Menschenfleisch, um auf dessen Gipfel befremdlicherweise eine mustergültige Naturidylle vorzufinden. Das Setting des Textes ist also von einem denkbar krassen Gegensatz geprägt.
Die Musik ist äußerst ruhig, reduziert und stark repetitiv. Eine Grundspannung entsteht durch die (mäßig) dissonante Begleitung eines klanglich hörenswert verfremdeten Klaviers, die aus zwei alternierenden Akkordpaaren gebildet wird. Peter Gabriel singt darüber eine Melodie von geringem Tonumfang. Supper’s Ready wirkt ein weiteres Mal – hier sogar nochmals zugespitzt – statisch und hat mit diesem Part sicherlich seinen klanglich-resignativen Tiefpunkt erreicht.
Bei dieser spärlichen Instrumentation stehen Gabriels Vocals naturgemäß unangefochten im Mittelpunkt. Er prägt diesen Abschnitt mit seiner sensiblen und bei aller Zurückgenommenheit auch ausdrucksstarken Art der Textdeklamation – unter anderem durch eine flexible Gestaltung der Stimmfarbe.
Mit Blick auf die Beziehung von Musik und Lyrics lässt sich sagen, dass es hier wohl der Aspekt von Tod und Vernichtung ist, der in der Musik seinen Widerhall findet. Einzig das melodisch etwas nach oben ausbrechende „full of life“ kann als schwache (weil doch sehr gequält gesungene) Bezugnahme auf die Naturszenerie gehört werden, in welcher sich das Paar nun befindet.
Mit alledem wird das in Part 3 verblüffend euphorisch gezeichnete Bild der Schlacht nachträglich konterkariert. Erneut muss man – wie schon in den ersten beiden Episoden – überlegen, was eigentlich Wirklichkeit und was Schein ist, was Wahrheit und was Trug. Nicht nur starke Gegensätze prägen das Songwriting von Supper’s Ready, sondern auch das Prinzip der Infragestellung und Umkehrung vermeintlicher Faktizität. Rein musikalisch findet sich dieses Prinzip unter anderem in den harmonischen, melodischen und sonstigen formalen Abbrüchen sowie den stark kontrastierenden Umschlägen – also in einer fortwährenden Relativierung und Destabilisierung des Rezeptionsprozesses.
Es passt zu diesen Überlegungen, dass am Ende von How Dare I Be So Beautiful? erneut ein Fragezeichen stehen bleibt – sowohl ein textliches („A flower?“) als auch ein musikalisches, denn die Harmonik macht zuletzt noch eine Ausweichbewegung auf die unspezifisch wirkende Quarte fis-h, die zuvor nicht ansatzweise vorbereitet wurde. Kurz danach entsteht sogar eine Generalpause. Damit hängt dieser Abschluss schlichtweg in der Luft.
Die Komposition dieses vierten Parts erscheint von der grundsätzlichen Konzeption her stimmig, wenn man bedenkt, dass das Prinzip extremer musikalischer Reduktion eine gelungene und auch inhaltlich bedeutsame Antithetik zum Schlachtgeschehen des dritten Parts herstellt. Musikalisch handelt es sich um ein fast leblos-starres Geschehen, was sehr gut zum erschütternden Bild des Leichenberges passt. Der textlich dazu angelegte Gegensatz des grün bewachsenen Gipfels spiegelt sich im musikalischen Ausdruck genauso wenig wider, wie es hinsichtlich der brutalen Kriegsgewalt im Part zuvor der Fall war.
Allerdings gibt es ja noch diese schwer zu verstehende Figurenkonstellation auf dem Plateau: Da wäre ein still sitzender menschlicher Speck am Teich, der aber absurderweise wir Hörende sind, und zudem der sich verwandelnde Narziss. Einen spezifisch tönenden Widerhall findet lediglich Letzterer, wenn der unerwartete Quartabschluss als musikalische Entsprechung des abschließenden Fragezeichens („A flower?“) gehört wird.
Aus Peter Gabriels bekanntem Begleittext zu Supper’s Ready geht allerdings hervor, dass die unterschiedlichen Identitäten sich in der Figur am Wasser vereinen. Zuvor verharrt die Musik wie gehabt in ihrer freudlosen Akkordschleife, was zwar nichts Gutes für das Mindset der Gestalt(en) heißen kann, dem Geschehen auf dem Berg aber auch keinen eigenen Ausdrucksbereich zuordnet.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Part 3 und Part 4 in vielerlei Hinsicht ein korrespondierendes Gegensatzpaar sind. Dies erscheint umso sinnfälliger, als der Ort des Geschehens, nämlich das Schlachtfeld, in beiden Episoden der gleiche ist. Er hatte sich lediglich verwandelt. Wie Narziss. Und anschließend überhaupt alles…
5. Willow Farm – Orgiastische Exzentrik (11:02-13:35)
Tony Banks hatte den Geistesblitz, diesen fünften Part, der ursprünglich von Peter Gabriel als für sich stehender Song gedacht war, ohne Zwischenspiel an das sehr zurückgenommene How Dare I Be So Beautiful? anzuhängen und damit eine weitere enorme Kontrastwirkung zu erzielen. Die Energie, die Willow Farm nicht nur durch diesen Kontrast, sondern auch durch seine überbordende und sich immer weiter steigernde Exzentrik erzeugt, bedeutete für die Fortsetzung des Songwritings offenbar den entscheidenden Schub und zog dann die letzten beiden Episoden relativ schnell nach sich.
War Supper’s Ready auch zuvor schon ein Vexierspiel mit der Vermeintlichkeit von Realitäten und Identitäten sowie mit Möglichkeiten, diese zu verwandeln, so wird dieses Spiel nun explizit und in fast kindlich unbefangener Weise auf die Spitze getrieben: „The frog was a prince, the prince was a brick, the brick / was an egg, and the egg was a bird (…)“. Textlich fügt sich Willow Farm verblüffend gut in das bisherige Konzept von Supper’s Ready ein.
Aus rein musikalischer Sicht sieht dies von daher etwas anders aus, als es sich ja (wie bei den meisten Parts) um einen kompositorisch völlig eigenständigen Abschnitt handelt, der keinerlei Verwandtschaft oder direkte Beziehung zum thematischen Material anderer Episoden zeigt. Durch seine klare Dreiteiligkeit A-B-A‘ hat er eine geradezu klassische Struktur, die in sich abgeschlossen erscheint. Damit unterscheidet er sich insbesondere von den ersten beiden Parts.
Ein kleiner kompositorischer Kniff verhindert aber, dass man den Eindruck haben könnte, mit dem Ende dieses fünften Parts wäre womöglich auch das Ende von Supper’s Ready gekommen. Dazu muss man einfach nur die Anfangs- und Schlusswendung von Willow Farm vergleichen: Alles beginnt mit einer rhythmisch stampfenden Abwärtsbewegung (es, des, ces, heses), die auf den Ton ‘as‘ als neuen Grundton der Tonart as-Moll abzielt (wahlweise auch ‘gis‘ und gis-Moll – es handelt sich in jedem Fall um die ungewöhnlichste Tonart des gesamten Longtracks, was natürlich zum exaltierten Charakter dieses Parts passt). Auffällig ist hier die tiefalterierte zweite Stufe (heses), die einen phrygischen Tonfall anschlägt (auch wenn dies nachfolgend sofort zurückgenommen wird).
Am Ende von Willow Farm (ab 13:33) ertönt diese Abwärtsbewegung nun ein drittes und letztes Mal – nur erscheint als Abschluss nicht mehr der eigentlich erwartbare Grundton (also ‘as‘ oder ‘gis‘), der den Eindruck von Abgeschlossenheit erweckt hätte, sondern das um einen Halbton tiefere ‘g‘ (sodass die zuvor tiefalterierte zweite Stufe ‘heses‘ hier nachträglich als ‘a‘ gehört werden kann) sowie ein zusätzliches tiefes ‘c‘ im Bass.
Der dadurch erzielte Überraschungseffekt ist eine erneut unterlaufene (hier: tonale) Hörerwartung am Ende eines Parts und suggeriert durch die entstandene Ungewissheit eine Fortsetzung des Stückes. Zudem lassen sich der letzte Abwärtsgang und die auf der leeren und in tiefer Lage befindlichen Quinte ‘c-g‘ zum Erliegen kommende Bewegung als eine musikalisch aussagekräftige Entsprechung der vorangegangenen Textzeilen hören: Alles findet dort nämlich seinen letzten Platz tief im Erdboden.
Die groteske Verwandlungsorgie mündet also klanglich wie textlich in einem düsteren Endzeit-Szenario und dürfte somit kaum als positive Utopie rezipierbar sein. Im Gegenteil: Ihr Abschluss kann als beunruhigend grundsätzliche Infragestellung des Prinzips von Identität gelten (und bedeutet demnach auch eine Zuspitzung der Identitätsproblematik des Liebespaares) – zumal die wesenhaften Veränderungen aller Dinge und alles Lebendigen sich nicht aus sich selbst heraus, sondern auf das Kommando einer schrillen Pfeife hin ereignen und die finale Beerdigung des zuvor überbordenden Wimmelbildes mit einem gewaltsam anmutenden Knall einhergeht. Auch das Tongeschlecht des umrahmenden A-Teils (Moll!) sorgt nicht gerade für eine Atmosphäre unbeschwerter Betriebsamkeit.
Willow Farm kann als ziemlich ungewöhnlicher Popsong gelten, dessen Sound einige retrospektive Merkmale der britischen Sixties aufweist – besonders gut zu hören im B-Teil ab „Feel your body melt“. Seine Komplexität und der hookfreie Aufbau allerdings demonstrieren den musikalischen Paradigmenwechsel, für welchen der Progressive Rock um 1970 herum gesorgt hatte. Abgesehen von der abseitigen Tonart (die sich im B-Teil zudem direkt nach „All change“ überraschend in die Variante As-Dur verwandelt) gibt es eine hohe Dichte z.T. ungewöhnlicher Akkorde und Akkordfortschreitungen inklusive chromatischer Bassbewegungen, die für viel Farbigkeit, Lebendigkeit und Unvorhersehbarkeit sorgen. Dazu passen diverse unregelmäßige Abschnittsbildungen und Taktwechsel sowie mehrmals veränderte Begleitmuster. Ein grundsätzlicher metrischer Wechsel findet vom A-Teil (ternärer Beat) zum B-Teil (binärer Beat) und wieder zurück statt. Kurz vor der Rückwendung zum A‘-Teil ist plötzlich ein alleinstehender 5er-Takt („Momma I want you now“) als etwas holprige Zäsur eingefügt. Hinzu kommen allerlei akustische Verfremdungseffekte und überdreht wirkende Gesangspassagen.
Obwohl gerade dieser Part in puncto Humor und Entertainment einiges zu bieten hat, gehört er mit derlei Merkmalen sicherlich nicht in die Kategorie der leichten Unterhaltung und unterscheidet sich deutlich von der strukturell einfacheren Pop-Ästhetik der 60er. Und so auffällig und originell Willow Farm stilistisch auch geraten ist, ja sogar ein wenig wie der (höchst willkommene) Paradiesvogel in Supper’s Ready wirkt, so bemerkenswert stimmig wirken hier inhaltliche und klangliche Ebene als abgründig-groteske Episode zusammen.
Dass es in dieser Hinsicht auch eine stilistische Anknüpfung an das ebenfalls sehr britisch anmutende Harold the Barrel vom Nursery Cryme-Album darstellt, ist bereits von verschiedener Seite – u.a. aus Reihen der Band selbst – festgestellt worden. Ergänzen ließe sich hierzu, dass Willow Farm durch die ungewöhnlicheren textlichen und musikalischen (inkl. studiotechnischen) Mittel als künstlerisch noch profilierter gelten kann und damit eine Weiterentwicklung belegt.
Zwischenspiel 3 (13:35-15:35)
Dieses letzte und recht ausführliche Zwischenspiel weist eine klare Zweiteiligkeit auf. Der erste Teil (bis ca. 14:15) nimmt die langgezogene Schlussquinte von Willow Farm als Keimzelle, steht also in noch direkter Beziehung zu ihm. Weil die schwere, düstere Musik ihre rhythmische und melodische Aktivität aber zunächst ganz einstellt, bleibt von der Buntheit und Lebendigkeit des unmittelbar Vorangegangenen nichts als sein genaues Gegenteil übrig – typisch Supper’s Ready! Es tönen nun tiefe Halteklänge, denen Steve Hackett ein paar langgezogene, gespenstische Töne zufügt. Eine Steigerung der unheimlichen Atmosphäre erreicht er dabei nach wenigen Sekunden durch enervierend repetierte Bendings, deren alarmistischer Gestus Unheil verspricht.
Der zweite Teil des Zwischenspiels, dessen Anfang den Schlusston des ersten einfach überlagert, reduziert das musikalische Geschehen zunächst auf eine zarte Gitarrenbegleitung in a-Moll. Darüber erklingt wenig später eine schlichte, selbstvergessene Querflötenmelodie, die sich zweimal wiederholt, während die Akkordbegleitung durch Orgel und später eine weitere Gitarre angereichert und somit variiert wird. Die Melodie scheint sich schließlich ein drittes Mal zu wiederholen, vollführt jedoch nach kurzer Zeit (bei 15:30) einen überraschenden Schlenker nach oben, und mithilfe einer völlig unerwarteten spannungsreichen Dissonanz (verkürzter Dominantseptnonakkord auf ‘cis‘) wird das Zwischenspiel dann in den spektakulären nächsten Part überführt: die Apocalypse in 9/8.
War die musikalische Funktionalität der ersten beiden Zwischenspiele aus formaler Sicht nicht gerade unproblematisch, so wurden Genesis an dieser Stelle von ihrer Intuition nicht im Stich gelassen. Hier nämlich, kurz vor dem dramatischen Höhepunkt von Supper’s Ready, ist ein retardierendes Moment sicherlich angebracht.
Man könnte darüber streiten, ob es richtig war, mit der Querflötenmelodie nochmal ein ganz neues Thema einzuführen, oder ob hier vielleicht ein motivischer Rückgriff auf bereits Bekanntes sinnvoller gewesen wäre, um dem Longtrack mehr Kohärenz zu verleihen. Tatsächlich aber gibt es einen sehr guten Grund, die von Genesis gewählte Lösung zu bevorzugen: Gerade weil die sehnsüchtige Querflötenmelodie einen ganz eigenen Bereich markiert, der keinerlei Verbindung zum übrigen Stück hat, bekommt diese Passage eine besonders entrückte Stellung innerhalb der dramaturgischen Entwicklung. Die folgende Katastrophe kündigte sich ja bereits (spätestens) mit dem ersten Teil des Zwischenspiels an. Direkt vor der Apokalypse aber unterbrechen Genesis auf geradezu eskapistische Weise den Lauf der Dinge und erzeugen den Eindruck, es gäbe da noch eine im wahrsten Sinne völlig entlegene musikalische Insel und somit scheinbar die Hoffnung darauf, dem nahenden Unheil doch noch zu entkommen. Umso gewaltiger ist dann die Wirkung der apokalyptischen Heimsuchung.
6. Apocalypse in 9/8 (Co-Starring the Delicious Talents of Gabble Ratchet) – Im Takt des Endzeitchaos (15:35-20:43)
Ungewöhnlich ist nicht nur die Taktart dieses Parts, sondern auch ihr Auftauchen in dessen Titel – was die Bedrohlichkeit des Apokalypse-Begriffs wohl ebenso mindert wie der in Klammern stehende Zusatz. So darf denn auch der Hinweis nicht fehlen, dass Tony Banks als musikalischer Initiator dieser Episode schon früh plante, humoristische Elemente in die Musik zu integrieren. Ein Overkill der bierernsten Sorte lag offensichtlich nicht in der Absicht der Beteiligten.
Im Übrigen beginnt der Part gar nicht im 9/8-, sondern im 9/4-Takt. Der Grund: Phil Collins spielt zunächst eine in Vierteln durchlaufende Bassdrum, die den Grundschlag des im Zwischenspiel vorangegangenen 4/4-Taktes fortsetzt. Der Viertel-Puls der Musik bleibt also erst einmal konstant. Hinzu kommt nun, dass der erste Akkordwechsel (15:41) nach neun Vierteln erfolgt und dadurch einen deutlichen metrischen Schwerpunkt erzeugt. Von der 9/8-Tonfolge (e, e, fis, e, h, e, e, e, fis), die den Part anschließend als Ostinato begleiten wird, ist in diesem Moment hingegen noch nichts zu hören. Kurz: Es gibt kein musikalisches Ereignis im ersten Takt, das nach neun Achteln eine neue Takt-Eins anzeigt. Dies tut auch die in repetitiven Achteln durchlaufende Gitarre nicht.
Nach neun Vierteln setzt dann das oben genannte Ostinato auf der Gitarre ein. Aber auch an dieser Stelle hat man noch keinen 9/8-Groove im Ohr. Erstens tritt Collins weiter konsequent in Vierteln die Bassdrum, zweitens bleibt es beim Abstand von neun Beats zwischen den auffälligen Akkordwechseln, und drittens ist das 9/8-Ostinato relativ leise im Mix. Immerhin aber muss man ab diesem Moment von einer polyrhythmischen Konstellation sprechen.
Erst nach Ende des Gesangsteils vor dem langen Orgelsolo kommt der 9/8-Takt (ab 16:12) klar zum Vorschein und übernimmt das Kommando. Collins bezieht nun die Snaredrum in sein Spiel ein und fängt in diesem Zuge an, seinen Groove dem Gitarrenostinato zuzuordnen. Wer es allerdings ganz genau nimmt, entdeckt den metrischen Umschlag schon vorher, nämlich bei der Textstelle: „(…)You can tell he’s doing well, by the look in / human eyes / You’d better not compromise. / It won’t be easy“. Dort findet zum ersten Mal ein Akkordwechsel nach neun Achteln statt (16:09).
Die Apocalypse in 9/8 fällt aus rhythmischer Sicht also nicht mit der Tür ins Haus. Genesis gestalteten vielmehr einen ausgesprochen feingliedrigen Übergang von 4/4 (Ende Zwischenspiel) zu 9/4 (Anfang Part 6) und überlagern den 9/4-Beat dann sukzessive mit 9/8-Strukturen (Gitarrenostinato sowie angepasster Akkordwechsel), bis der 9/8-Takt endgültig steht bzw. im hörenden Bewusstsein angekommen ist. Im klassischen Prog der frühen Siebziger gab es sicherlich kaum eine Band, die eine solche Gelenkstelle derart organisch fließend hätte komponieren können.
Das Orgelsolo beginnt nach einer auffälligen harmonischen Wendung hin zu E-Dur und bestätigt diese Tonart auch mithilfe der allerersten Töne. Rasch jedoch löst Tony Banks sich von der Dur-Skala und nutzt auf sehr intuitive Weise die vielfältigen tonalen Möglichkeiten, die ihm das aus lediglich drei verschiedenen Tönen (e, fis, h) bestehende Ostinato bietet. Auch die Rhythmik des Solos folgt offenkundig keinem detailliert durchdachten Plan und keiner festgelegten Taktart. Banks selbst gab an, er habe die 9/8-Begleitung sogar willentlich ignoriert, um seinen solistischen Flow davon unabhängig gestalten und ihn lediglich seinem ausgeprägten Gespür für wirkungsvolle Ton- und Akkordfolgen anvertrauen zu können. Das Ergebnis ist eine ungebunden-chaotische, aber sehr lebendige Polyrhythmik mit zwei wiederum sehr klar kalkulierten dramatischen Steigerungsbögen – nicht unpassend für ein apokalyptisches Szenario.
Wie Johan Steensland in seiner Analyse Genesis Apocalypse 9/8 rythms [sic!] explained
auf YouTube richtig anführt, bildet Banks mit seinen ersten Tönen zunächst sogar einen Walzerrhythmus. Das Solo beginnt also innerhalb des textlich zuvor beschworenen Untergangsszenarios in der Art eines Tanzes (zur Erinnerung: in der hellen Tonart E-Dur!) und bricht auf diese grotesk wirkende Weise dessen Schrecken.
Ebenso wie die Dur-Sphäre verlässt Banks auch recht schnell den Dreierschritt des Walzers, obwohl das tänzerische Element zunächst noch etwas erhalten bleibt. Im weiteren Verlauf werden im Solo verschiedenartige Abschnitte aneinandergereiht, die zum Teil melodisch originell und prägnant, zum Teil aber auch motivisch ausgesprochen gleichförmig und sogar etüdenhaft sind. So besteht die zweite große Steigerung (ab 18:13) vor Gabriels Stimmeinsatz ausschließlich aus fast schon pedantisch wirkenden Sequenzen immer gleicher Achtelfiguren, die einfach stufenweise in die Höhe geführt werden. Würde man hier nur die Orgel hören, müsste man Banks eine geradezu verstörende Fantasielosigkeit zusprechen.
Aber man hört eben nicht nur die Orgel. Und insbesondere die sehr gleichförmigen Passagen des Solos lenken den Blick darauf, dass der Reiz der Musik hier wesentlich vom Zusammenspiel mehrerer Faktoren erzeugt wird. Banks kann noch so viele Einfachstfiguren im Vierermetrum aneinanderreihen: Läuft das 9/8-Ostinato darunter, entsteht schon einmal ein sich stets veränderndes Muster aus Betonungen und Intervallbeziehungen.
Hinzu kommt das Schlagzeug, dessen Bedeutung für die großartige Wirkung kaum zu überschätzen ist. Letztlich nämlich ist es Collins, der (nach anfänglichen Schwierigkeiten während der ersten Proben) zum wichtigen Bindeglied zwischen dem 9/8-Riff und dem Solo wird. Zu Beginn nimmt er noch eine rein begleitende Funktion ein und ordnet sich eher dem Ostinato zu. Dann aber löst er sich davon zunehmend und flicht nach und nach immer mehr Offbeats und Fills ein, welche das Solo und speziell dessen Steigerungsverläufe beträchtlich anreichern und intensivieren. An einigen Stellen korrespondiert das Schlagzeug sehr eng mit dem melodischen Gestus von Banks‘ Orgelfiguren und wirkt demonstrativ unterstützend, an anderen nutzt Collins entstehende Freiräume und entfesselt so eine eher kontrapunktisch wirkende Dynamik. Dass er dies so zielsicher tun kann, verdankt er natürlich der Tatsache, dass das Solo nicht improvisiert ist, sondern einem auskomponierten Verlauf folgt.
Man weiß, dass Tony Banks den Höhepunkt der Apocalypse ursprünglich seiner dramatisch klingenden Akkordfolge zugedacht hatte, die er nach der erwähnten Schlusssteigerung des Solos spielt. Geschickt platziert er am Ende dieser lang angelegten Steigerung noch eine kurze Folge von Wechseloktaven auf ‘c‘ (18:45), die durch die erzeugten Dissonanzen (zum ‘fis‘ und ‘h‘ des Ostinatos) eine zuspitzende Wirkung entfalten und zudem den folgenden C-Dur-Dreiklang in der rechten Hand vorbereiten.
Peter Gabriel machte dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung und sang ungefragt sein „666 is no longer alone (…)“ über die zurechtgelegten Akkorde. Banks‘ Ärger verflog nach wenigen Sekunden. Schnell merkte er, dass Gabriels hochexpressiver Stimmeinsatz den Peak des Dramas auf ein ungeahntes Level trieb. Zudem ergab sich insbesondere an der Stelle „In blood, he’s writing the lyrics of a brand new tune“ eine reizvolle Verbindung von Text und Musik. Banks pendelt zunächst zwischen den Akkorden C-Dur und D-Dur hin und her. Im Zusammenspiel mit dem weiterhin durchlaufenden Ostinato und dessen zentralem Ton ‘e‘ ergibt sich hier der Eindruck der Tonart e-Moll. Bei brand new tune aber erzeugt Banks mit einem unvorbereiteten E-Dur-Akkord eine blitzartige Aufhellung und unterstreicht damit den Eindruck einer neuen Stimmung. Betrachtet man diesen Moment also für sich, ist er ein äußerst wirkungsvoller Umschlagpunkt.
Andererseits sei daran erinnert, dass Banks sich auch zu Beginn seines Solos (und an mehreren nachfolgenden Stellen ebenfalls) schon im Bereich E-Dur bewegte. Im größeren Zusammenhang gehört, wird die Harmonik der Apocalypse also keineswegs in einen neuen Bereich geführt, sondern – wenn man so will – wieder an ihren Beginn.
Dennoch: Der finale Umschlag nach E-Dur hat etwas Lösendes, Befreiendes. Banks bestätigt dies in den nachfolgenden Takten, indem er zwar immer noch gewichtige, aber nun abwärts geführte Akkorde spielt und somit Spannung abbaut. Zu Recht könnte man an dieser Stelle sagen, dass das musikalisch-apokalyptische Geschehen ein deutlich spürbares Ende gefunden hat. Entsprechend kommt die pulsierende Bewegung der Musik – und damit auch des lange genug bemühten Ostinatos – kurze Zeit später auf H-Dur zum Erliegen.
Der letzte Part, die triumphale musikalische Wiederaufnahme der Guaranteed Eternal Sanctuary Man-Episode, ist hier allerdings noch nicht erreicht. Zuvor taucht wie aus dem Nichts noch eine kurze Reprise von Lover’s Leap auf. Das ist schon allein aus harmonischer Sicht keine Randbemerkung. Die Musik vollbringt nun innerhalb weniger Takte vom oben genannten H-Dur aus eine in ihrer Rasanz wunderschöne Bewegung: zunächst hin zum weit entfernten B-Dur des Lover’s Leap-Refrains, dann über dessen Paralleltonart g-Moll wieder zurück in den Kreuzbereich zum A-Dur des abschließenden As Sure As Eggs is Eggs (Aching Men’s Feet). An einem solchen Zickzack-Move innerhalb des Quintenzirkels hätte man sich gut und gerne entweder die Zähne ausbeißen oder die Finger verbrennen können. Bei Genesis klingt es, als könne es nicht anders sein.
Und der Effekt dieser Bewegung? Auf Grund der harmonischen Distanzen, die mit großer Geschwindigkeit überbrückt werden, und der Rückwendung zum Lover’s Leap-Prolog entsteht natürlich das Gefühl, man würde sich in kürzester Zeit weit von der Apocalypse in 9/8 entfernen. Der musikalischen Überzeugungskraft kommt das zugute, denn ein direkter Umschlag vom Katastrophenszenario zum erlösenden Hymnus der letzten Episode hätte äußerst platt wirken können. Hatten sich Genesis zuvor mehrere Male nicht gescheut, harte Kontraste und Brüche zu gestalten, beweisen sie hier erneut ein Gespür für die einzigartige Beschaffenheit jedes künstlerischen Moments.
7. As Sure As Eggs is Eggs (Aching Men’s Feet) – Ein A-Dur in alle Ewigkeit (20:43-23:06)
Die Reprise zählt zu den naheliegenden Möglichkeiten, eine längere Komposition musikalisch sinnfällig zu beschließen. Ein Bogen wird geschlagen, dessen Ende mit seinem Anfang in expliziter Beziehung steht. In den zunehmend ausladenderen Strukturen der experimentellen Rockmusik um 1970 herum finden sich dafür einige prominente Beispiele. Man denke etwa an einen einflussreichen Longtrack wie Echoes von Pink Floyd.
Auch Supper’s Ready gewinnt aus der Rückwendung zum Beginn des Stückes eine abrundende Schlusswirkung. Dennoch bleibt festzuhalten, was bei der Betrachtung des Endes der Apocalypse in 9/8 bereits erwähnt wurde: Für das Finale griffen Genesis nicht etwa auf den ersten, sondern eben auf den zweiten Part zurück, dessen Rang als musikalisches Hauptthema damit bestätigt wird (während die zuvor erfolgte – sehr viel kürzere – Wiederaufnahme der Lover’s Leap-Episode deren prologische Funktion untermauert). Es ist erneut müßig zu spekulieren, wie reflektiert oder intuitiv die Band zu dieser Entscheidung kam. Musikalisch begründen lässt sie sich allemal.
As Sure As Eggs is Eggs (Aching Men’s Feet) ruft nun also wieder das A-Dur von The Guaranteed Eternal Sanctuary Man auf, sodass sich der Kreis auch harmonisch schließt: Es handelt sich dabei ja um die erste wirklich etablierte Tonart des Werks. (Dass Genesis die Geschlossenheit des tonalen Rahmens allerdings nicht als absolute ästhetische Notwendigkeit empfanden, zeigt sich an der Supper’s Ready-Aufnahme von 1973 aus den Shepperton-Studios: Dort nämlich wird der Song vor der Lover’s Leap-Reprise kurzerhand um einen Ganzton nach unten transponiert, sodass der letzte Part in G-Dur erklingt.)
Es ist bekannt und an den letzten Textzeilen belegbar, dass Peter Gabriel einen Sieg des Guten über das Böse im Sinn hatte. Dazu passt die im Vergleich mit Part 2 ins Hymnische und fast schon Apotheotische gesteigerte Stimmung. Die Musik wirkt nun durch eine deutliche Verlangsamung des Tempos noch feierlicher, der Beat noch gravitätischer. Collins verstärkt den gewichtigen Ausdruck stellenweise mit krachenden Becken auf dem Backbeat. Hinzu kommen das orchestrale Mellotron, die enorme Intensität des Gesangs und natürlich nicht zuletzt Hacketts leuchtende Jubelphrasen auf der mit viel Sustain klingenden E-Gitarre.
Wer auf die instrumentale Begleitung achtet, bemerkt einen ostinaten triolischen Rhythmus auf dem Ton ‘a‘ (den wohl mindestens Rutherford in mittlerer Lage auf der Gitarre spielt, vielleicht zusätzlich auch Banks in der rechten Hand), der sogar über der charakteristischen Akkordfolge mit aufsteigender Basslinie („Like the river joins the ocean[…]“) konsequent beibehalten wird. Rückblickend auf die harmonisch außergewöhnlich komplexe und instabile Beschaffenheit des Lover’s Leap-Anfangs, macht es also hier den Anschein, als böte die Band alles auf, um einen genau gegenteiligen Effekt zu erzielen: Die sehr massiv in Szene gesetzte Zieltonart A-Dur (inklusive des hartnäckig repetierten Grundtons) vermittelt felsenfeste Unerschütterlichkeit und setzt auf diese Weise die konzeptuell bislang besonders wirkmächtigen Motive von täuschendem Schein und Verwandlung außer Kraft. Damit einher geht die textlich vermittelte Vorstellung einer neuen spirituellen Heimat: dem von oben ausgerufenen new Jerusalem, das nun bedeutungsschwanger an die Stelle der ursprünglichen Hookline „He’s the guaranteed eternal sanctuary man“ tritt.
Mindestens ebenso bedeutsam ist, dass das musikalische Erlösungsgeschehen auch abgesehen von seiner tonalen Festigkeit an keiner einzigen Stelle relativiert, kontrastiert oder gar konterkariert wird. Alles endet ungebrochen mit einem Fadeout, das keinen Schlusspunkt setzt, sondern Unendlichkeit suggeriert. Daraus ergeben sich zwei weitere Rückbezüge:
1. Das Fadeout kann als Gegenstück zur Abbruchkante am Ende des zweiten Parts gehört werden, die dort die Hinfälligkeit des mit Ewigkeitsanspruch angetretenen Verführers besiegelt.
2. Die unumstößliche Wirkung des Triumphes von As Sure As Eggs is Eggs vermittelt eine letztgültige Überwindung des teuflischen Chaos der Apocalypse in 9/8.
Es stellt sich allerdings in diesem Zuge die Frage nach der ästhetischen Glaubwürdigkeit des Finales. Dessen unangefochten strahlendes Siegespathos will nicht so ohne Weiteres zur mehrdeutig schillernden Abgründigkeit passen, die Supper’s Ready bis dahin ausgezeichnet hat. Im Gesamtzusammenhang riecht die doch sehr unproblematisch wirkende Auflösung aller Spannungsfelder stark nach einem Deus ex machina.
Wohlgemerkt ist es die musikalische Ebene, die an keiner Stelle die Einfachheit und Ungebrochenheit des Schlusstriumphes infragestellt. Mit Blick auf den Text ist das wesentlich komplizierter. Mark Bell weist auf eine ganze Reihe von (für Peter Gabriel typischen) verrätselten Anspielungen und intertextuellen Bezügen hin – die das Interpretieren nicht nur zu einem erstaunlich komplexen Unterfangen machen, sondern auch Lesarten ermöglichen, die den vordergründigen religiösen Ernst der Episode auf ironisierende Weise in Frage stellen. Allein: Die Musik korrespondiert damit nicht.
In der Konsequenz bleibt festzuhalten, dass As Sure As Eggs is Eggs (Aching Men’s Feet) deswegen als geeigneter Abschluss angesehen werden kann, weil diese im Ausdruck spürbar gesteigerte Reprise des zweiten Parts eine klare Finalwirkung entfacht und ein hohes Maß an Kohärenz stiftet. In puncto Raffinesse und Hintergründigkeit steht die Musik dem Text allerdings nach.
Abschlussbetrachtung: Sum Of The Parts
Eines sollte aus den vorangegangenen analytischen Beobachtungen klar hervorgegangen sein: Obwohl die endgültige Form von Supper’s Ready unter eher abenteuerlichen Umständen entstanden ist, lässt sich die wiederholt vorgebrachte Kritik, Genesis hätten eine beliebig wirkende Reihe von Einzelparts oder gar einen Flickenteppich geschaffen, aus guten Gründen zurückweisen. Der Longtrack weist eine Vielzahl sinnfälliger Beziehungen zwischen den Episoden auf und enthält zudem einige Elemente, die das große Ganze zusammenhalten.
In der Gesamtdramaturgie des musikalischen Verlaufs stellten sich die beiden ersten Zwischenspiele hinsichtlich ihrer Funktion und Wirkung als problematische Juckstellen dar. Abgesehen davon ergibt sich eine stimmige Reihe musikalischer Kontraste, die einen überzeugenden Spannungsbogen ergeben: Der unmittelbar einsetzende Prolog (Part 1) entwickelt eine sofortige musikalische und narrative Dynamik, deren Richtung zunächst kaum einzuschätzen ist, und endet wie ein offenes Rätsel. Passenderweise folgt darauf das schwergewichtige Hauptthema (Part 2).
Einer auflockernden, unkomplizierten Euphorie (Part 3) folgt der dysphorische Tiefpunkt des ganzen Stückes (Part 4) etwa in seiner Mitte. Nach einem harten Umschlag erklingt eine aufgeregte Groteske (Part 5), deren Exzentrik sich spürbar steigert. Vor der anschließenden Katastrophe (Part 6), dem dramatischen Höhepunkt, ist ein passendes retardierendes Moment eingefügt (Zwischenspiel 3), das die Wucht der Apocalypse umso wirkungsvoller hervortreten lässt. Der abschließende Part 7 entwickelt zum einen ein spannungslösendes, befreiendes Finalpathos, zum anderen ist er als Reprise von Part 2 eine Rückwendung zum Hauptthema. Damit erhält Supper’s Ready auch eine zyklische Strukturkomponente.
Immer wieder wird die Form von Supper’s Ready mit der ‘Suite’ in Verbindung gebracht. Hält man sich an die klassische Minimaldefinition dieses Begriffs, ginge es dabei um eine Abfolge in sich geschlossener Einzelsätze, die einer verbindenden Gestaltungsidee unterliegen. In vergangenen Jahrhunderten verbarg sich hinter dieser Idee oftmals der schlichte Umstand, dass die (Tanz-)Sätze in der gleichen Tonart standen. Die im günstigen Fall empfundene Harmonie einer Suite konnte daraus entstehen, dass die unterschiedlichen Charaktere und Formen der Einzelsätze eine einander ergänzende, abwechslungsreiche Gesamterscheinung ergaben und dabei die künstlerische Variabilität ihres Schöpfers verrieten.
Ordnet man Supper’s Ready den Begriff der ‘Suite’ bzw. ‘Rock-Suite’ zu, kann damit also zum einen die kompositorische Eigenständigkeit der Parts betont werden und zum anderen ihre gemeinsame Bezugsebene: der Textzusammenhang. Wichtig daran ist nicht, dass man der Form des Genesis-Klassikers unbedingt einen musikhistorisch etablierten Namen verpassen müsste. Es lässt sich jedoch die Feststellung treffen, dass die grobe Strukturidee des Songs nichts von vornherein Defizitäres an sich hat.
Sofern man nun von einer Suite sprechen möchte, sollten dennoch die Eigenheiten des musikalischen Verlaufs von Supper’s Ready nicht übersehen werden. Es fängt damit an, dass die Parts nicht in sich abgeschlossen sind, sondern ineinander übergehen – z.T. unter Einbezug von Zwischenspielen. Hinzu kommt, dass es Episoden gibt, die unvollständig (Lover’s Leap) oder abgebrochen (The Guaranteed Eternal Sanctuary Man) wirken. Und nicht zuletzt sind es die musikalischen Reprisen, die dem Eindruck eines bloßen Nacheinanders verschiedener Teile entgegenwirken. Nimmt man dies alles zusammen, wird das Bestreben der Band deutlich, die Vereinzelung der Parts abzuschwächen und stattdessen eine konzeptuelle Geschlossenheit der Großform zu erreichen.
Es lohnt sich trotzdem, noch einmal die Einzelepisoden in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen, denn diese zeigt eine beeindruckende Stilvielfalt und verdeutlicht so die breit gefächerten Möglichkeiten, die Genesis als Songwriter zu dieser Zeit bereits gewonnen hatten:
Part 1:
ikonischer Genesis-Folk-Prog mit ungewöhnlich komplexem Geflecht aus gebrochenen (12-String-)Gitarrenakkorden; fehlende Grundtonart; unvollendetes Str./Ref.-Schema
Part 2:
zeitgemäßer Bombastrock in A-Dur mit kurzer eigener Einleitung; zweistrophig (jeweils mit abschließender Hookline); überraschender Abbruch am Ende
Part 3:
freie Form mit kurzer Einleitung; perkussiv geprägter, ausgelassen-euphorischer One-Chord-Jam in D-Dur mit E-Gitarrensolo im Zentrum und auskomponiertem Fadeout am Ende
Part 4:
instrumental reduziertes Arrangement: Leadgesang (geringer Tonumfang) über resignativem 4-Akkord-Vamp eines verfremdeten Klaviers; langsames Tempo; harmonisch schwebend (Bezugstonart: G-Dur); dreistrophig mit abruptem Schluss resp. unerwartetem harmonischen Schwenk
Part 5:
überdreht wirkende, überkomplexe 60er-Pop-Parodie; klassische Dreiteiligkeit (A B A‘); verstärkter Einsatz von Studioeffekten zur Klangverfremdung; exzentrische Tonart (as- Moll / As-Dur / as-Moll); Ende mit harmonischer Ausweichung (‘g’ statt ‘as’)
Part 6:
freie und betont progressive Form über 9/8-Ostinato mit zentralem Orgelsolo zwischen zwei Gesangsteilen; streckenweise polyrhythmisch; tonaler Bezugspunkt: ‘e’; angehängte Lover’s Leap-Reprise
Part 7:
Wiederaufnahme von Part 2, aber im reduzierten Tempo; Steigerung der Bombastwirkung (= Finalwirkung); Ende mit feierlichem E-Gitarrensolo und Fadeout; besonders eindringlich gefestigtes A-Dur als Schlusstonart
Leicht zu erkennen ist, dass jeder Part ein kompositorisch unverwechselbares Profil aufweist (Eine Ausnahme ist die Verwandtschaft von Part 2 und Part 7). Entsprechend bunt ist das Ausdrucksspektrum für den Hörer und befördert so dessen Vorstellung von einer Reise durch unterschiedlichste Szenerien mit einer jeweils ganz eigenen Stimmung.
Die Übersicht zeigt ebenso, dass es zu kurz greift, Supper’s Ready als Summe des bisherigen Bandschaffens anzusehen. Das beginnende Lover’s Leap (inklusive des nachfolgenden Zwischenspiels) steht sicherlich noch in einer Linie mit der Trespass-Phase, die eine in ihrer prägenden Bedeutung für das Genre eher unterschätzte folkige Spielart des Prog hervorbrachte. Auch die Parts 2 und 3 knüpften an Ausdrucksmittel an, die Genesis bereits im Repertoire hatten, nämlich den nicht nur für sie typischen Bombastrock der beginnenden 70er – inklusive längerer Solos. Diskografische Vorgänger waren vor allem die Longtracks auf Nursery Cryme (1971).
Der verfremdete Klaviersound in How Dare I Be So Beautiful (Part 4) ist jedoch ein erstes kleines Zeichen dafür, dass der Verlauf von Supper’s Ready eine Weiterentwicklung von Genesis geradezu dokumentiert. Denn spätestens mit den vielen Stimmeffekten und weiteren klanglichen Gimmicks in Willow Farm wird deutlich, dass Genesis nun auch die Möglichkeiten der Studiotechnik direkt in ihr Songwriting einbezogen. Wenn man dem Gedanken folgen möchte, in Supper’s Ready manifestiere sich der Übergang von den akustischen zu den elektrischen Genesis, müsste dieser Aspekt einbezogen werden.
Auch die experimentellere Tonsprache der Apocalypse in 9/8 bedeutete ein für Genesis neu erschlossenes Gebiet, welches sich so nicht auf früheren Alben finden lässt. Auf diesem Gebiet entstanden später dann mehrere Instrumentalparts resp. Keyboardsolos, die durch eine jeweils besondere rhythmische Konstellation geprägt waren: so in The Cinema Show (1973), Riding The Scree (1974), Robbery, Assault & Battery (1976) oder auch am Ende von Dance On A Volcano (1976).
Nicht zuletzt zeigt die zwingender wirkende Verknüpfung der Parts in der zweiten Hälfte des Longtracks eine zunehmende Reifung der Band in struktureller Hinsicht. Insbesondere der dramaturgische Aufbau ab Willow Farm ist sowohl spektakulär als auch ausgesprochen stimmig. Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings, dass Supper’s Ready zuvor nicht ganz so dicht und organisch gewebt ist.
Zudem haben nicht alle Episoden ein gleichermaßen hohes künstlerisches Niveau. Vor allem Lover’s Leap, Willow Farm und die Apocalypse in 9/8 ragen positiv heraus. Mit Blick auf die formale Perfektion und durchgängige Güte der einzelnen Parts landeten Yes mit Close To Edge (1972) aber den noch größeren Wurf.
Eine persönliche Bemerkung zum Schluss: Meine diagnostische Neugier, zu erkennen, was genau mich an Supper’s Ready eigentlich von Beginn an gejuckt hat, führte mich während der Entstehung dieser Arbeit zu einem immer wieder neuen Staunen über den Reichtum an Details, die nicht nur für sich interessant, sondern auch konstitutiv für den Gesamtzusammenhang des Stückes sind. Entgegen der Skepsis, die einer analytisch zergliedernden Beschäftigung mit Musik entgegengebracht werden kann, durchlief ich einen Verstehensprozess mit Gewinn für die Rezeption des Ganzen. In diesem Zuge verschwand zum Beispiel meine frühere Verwunderung über die Unmittelbarkeit des Stückanfangs. Mittlerweile halte ich den Verzicht auf ein Intro sogar für besonders gelungen.
Die Zwischenspiele 1 und 2 werden mich aus oben genannten Gründen wohl auch noch weiterhin jedesmal etwas jucken. Und im Finale fehlt mir definitiv ein musikalischer Widerhaken, ein Pendant zu den hintersinnigen textlichen Anspielungen.
Die Ausnahmestellung von Supper’s Ready im Œuvre Genesis’ und in der Geschichte der progressiven Rockmusik bleibt allerdings aufgrund der vielen Qualitäten und der Tiefenwirkung des Songs auch von mir unbestritten. Zudem: Was kümmert’s die Eiche…
Autor: Christoph Laakmann
Fotos: siehe Bilder / Screenshots des 4k Shepperton-Films
Diskutiert über den Artikel und Supper’s Ready im it-FORUM in diesem Thread
Links:
Genesis: Foxtrot (Rezension)
Mark Bell: Foxtrot (Aufstieg und Apokalypse) – Buch Rezension