1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 10 Minuten

Genesis – Sum Of The Parts – DVD & Blu-ray – Infos und Rezension

Im Frühjahr 2014 fand sich das klassische Line-Up der Band zusammen, um für eine neue Doku der BBC Interviews zu geben. Sum of The Parts ist das Ergebnis und die aktuellste Dokumentation der Band. Das Ergebnis ist allerdings ernüchternd.

Im Frühjahr 2014 entstanden neue Fotos des „klassischen“ Genesis-Lineups, die später im Jahr veröffentlicht wurden mit dem Hinweis, dass es bald eine neue BBC-Dokumentation der Band mit dem Titel Together And Apart geben würde. Wie sich herausstellte, sollte dies Teil einer Gesamtkampagne werden, vermutlich um Genesis wieder ins Gespräch zu bringen. Dazu gibt es nun ein neues 3CD-Set namens R-Kive, das anders als die Platinum Collection auch Solotitel der fünf Musiker enthält. Somit kann man davon ausgehen, dass man Genesis künftig als „Familie“ vermarkten will. Im Herbst 2014 wird neben R-Kive und der Wiederveröffentlichung von Three Sides Live auch die BBC-Dokumentation auf Blu-ray und DVD unter dem Titel Sum Of The Parts (Summe der Teile) erscheinen.

Genesis – Ein paar ihrer Teile …

Genesis 2014 – das fing gar nicht so schlecht an. Es tauchten aktuelle Fotos der ‚Fab Five‘ auf, dazu gab es geheimnisvolle Hinweise auf „Exiting News und irgendwie hatte man die Hoffnung, dass etwas wirklich aufregendes passieren würde. Es kam anders. Zunächst entpuppte sich die „Exciting News“ als eine neue Werkschau ohne neues Material – einzig die Einbeziehung von Solo-Songs war neu. Dann horchten die Fans doch etwas auf, als bekannt wurde, dass die Band gemeinsam an einer neuen Dokumentation gearbeitet hat. Auch der Titel, Sum Of The Parts, ließ Gutes erwarten. Genesis schienen sich nach 45 Jahren endlich als die Summe ihrer Teile zu verstehen. Man konnte gespannt sein. Doch Sum Of The Parts ist nicht mehr als eine weitere unterdurchschnittliche Dokumentation für’s Fernsehen. Tatsächlich ist Sum of The Parts eine Mogelpackung, es skizziert ein verzerrtes Bild der Bandgeschichte und legt schonungslos Zustände innerhalb der Band offen – und beweist, wie wenig Bezug Genesis zu ihren Fans haben.

Was um alles in der Welt ist nur passiert?

Inhalt

Genesis Sum Of The Parts

Anderthalb Stunden etwa dauert die Dokumentation, die am 14.11.2014 bei Eagle Vision veröffentlicht wird. Sie wurde zuvor in England bei der BBC ausgestrahlt und auch die Amerikaner kamen bereits in den Genuss einer Fernsehaübertragung.

Das Menü ist relativ schlicht gehalten – die Buchstaben w, s, l, f, h, k, r sind zu sehen und dürften wohl keine größere Bedeutung haben. Turn It On Again ist zu hören und im Hintergrund sieht man Bilder der 2007er Tour, der Invisible Touch Tour und des Misunderstanding-Videos in der typischen Menü-Endlosschleife.

Die Dokumentation ist chronologisch aufgebaut, mit dem ein oder anderen Abstecher in die Solokarrieren. Sie beginnt aber mit den jüngsten Bildern der 2007er Tour, fasst ein paar Statements zusammen (bereits hier fällt die falsche Schreibweise von Daryl Stuermer – hier ‚Steurmer genannt – auf) und geht dann zurück – ins Charterhouse. In der Frühphase kommen einige der damaligen Protagonisten zu Wort – hier ist auch Richard Macphail vertreten – ebenso wie Johnathan King, um dessen Mitwirken es die ein oder andere Diskussion gab. Der Fan erfährt und sieht nichts wirklich neues – bis es einen Schnipsel der berühmten Roundhouse Aufnahmen gibt. Hier spielt es keine Rolle, dass der Ton nicht dem gleichen Ursprung entspringt, die Roundhouse-Aufnahme wird gekultet wie wenige anderes, da man Anthony Phillips auf der Bühne spielen und sogar am Mikrofon sehen kann. In dieser Phase der Doku ist der Spannungsbogen exzellent. Anthony Phillips wird als Antreiber und Kopf der Gruppe herausgearbeitet und sein Abschied gut dokumentiert und kommentiert. Etwas launisch ist entsprechend Ants Aussage zu seinem Ausstieg: „Wäre ich nicht ausgestiegen, hätten sie vielleicht nie Phil Collins bekommen“ …

Ähnlich wie Ants Ausstieg werden auch die Einstiege von Phil Collins und Steve Hackett angemessen beleuchtet. Hier wird auch herausgearbeitet, wie wichtig für die Band die Hinzunahme dieser völlig unterschiedlichen Charaktere war. Und der Eindruck, dass Phils Einstieg die Band sofort veränderte und wohlmöglich schwerer wiegt als der von Steve, wird hier auch deutlich und ist nachvollziehbar – Steves Einfluss war viel subtiler und „schleichender“, während Phil mit seinem Schlagzeugspiel die Band sofort veränderte.

Ein merkwürdiger Moment ist der Beginn des „Genesis erobern Amerika“-Teils. Hier wurde interessanterweise der erste Promoter der Band in den USA befragt, aber das Bildmaterial von New York ist nicht aus den 70ern, sondern aktuell – was angesichts der Einblendung „New York 1972“ doch alles andere als professionell wirkt.

Die folgenden Alben werden souverän erzählt. Gabriels Kostümierung und der künstlerische Durchbruch mit Foxtrot, der knackigere Sound auf Selling England By The Pound (das hier allerdings viel zu kurz kommt), das Entstehen von The Lamb Lies Down On Broadway – die Dokumentation vermittelt hier, dass sie durchaus gut hätte werden können. Erste Irritation kommt auf, als Tony eine etwas unglückliche Bemerkung zum Firth Of Fifth-Solo fallen lässt. Diese kursierte schon im Netz, war dort aber etwas aus dem Zusammenhang gerissen. Tonys Anmerkung, dass alle damals etwas steif waren (bis auf Phil) und entsprechend auch Steves Solo diese Note hatte, wird dann mit einer aktuellen Darbietung des Solos von Daryl Stuermer im Studio untermalt. Jeder Regisseur sollte wissen, wie sehr dieses Solo in seiner ursprünglichen Form gekultet wird. Diese Szene ist der erste kapitale Fehler der Dokumentation.

Wenig später folgt einer der seltenen Kommentare von Steve, in diesem Fall zu seinem ersten Soloalbum. Er erklärt seine Beweggründe und entschuldigt sich ein wenig augenzwinkernd für seinen Schritt. Tony Banks‘ Gesicht in dieser Szene spricht allerdings Bände…

Von wegen Szene: Es waren vor allem die Aufnahmen zu fünft, mit denen man für diese Doku warb. Am Ende der Gabriel-Ära sind die Interviewzeiten in dieser Konstellation überschaubar – und, viel schlimmer, man gewinnt den Eindruck, dass Hackett oft absichtlich aus dem Bild geschnitten wurde. Zu sehen sind meist Tony, Phil, Mike und manchmal ist Gabriel noch im Bild. Oder Gabriel und Banks. Der Eindruck einer ‚Tony Banks Show‘ kommt erstmals auf.

Während Gabriels Ausstieg noch mit einem kurzen Abstecher in seine Solokarriere bis ca. 1980 begleitet wurde, wird Steves Soloschaffen abseits seiner Erklärung für sein erstes Album überhaupt nicht thematisiert – obwohl er der erste war, der seinerzeit ein Soloalbum veröffentlichte. Auch das Genesis-Album Wind & Wuthering fällt unter den Tisch, einzig Your Own Special Way wird kurz angespielt, jedoch fehlt die sonst übliche Einblendung des Covers nebst einiger Daten (Veröffentlichung, Chartplatzierungen). Einen interessanten Abstecher erlebt man bzgl. der Entwicklung des Collins’schen Drumsounds auf Peter Gabriels dritten Album. Hier sind auch letztmals Interviewsequenzen des „5er Interviews“ zu sehen.

In den 80ern gibt es dann die ersten Dramaturgie-Probleme. Dies ist an sich nicht weiter schlimm, es dürfte für jeden Regisseur schwierig sein, eine solche Fülle an Solokarrieren mit dem Bandgeschehen unter einen Hut zu bekommen. Steve findet auch in den 80ern in dieser Dokumentation nicht statt und Tony Banks ist ziemlich üppig mit ziemlich bescheidenen Songs vertreten. Invisible Touch wird dann deutlich zu viel Zeit eingeräumt. Hier scheint sich aber auch die Band sehr auf die Erfolgsschiene zu fokussieren. Schließlich wird We Can’t Dance als letztes „transatlantisches Top 10 Album der Band“ behandelt und Tony bemerkt, dass er mit Veröffentlichung der letzten Single Tell Me Why irgendwie das Gefühl hatte „das war’s“. Was folgt ist ein Sprung zu den Band Rehearsals 2006 (nicht 2007, wie im Untertitel angegeben) und man fragt sich, ob die Jahre 1993-2006 nicht stattgefunden haben? Tatsächlich gibt es an anderer Stelle nur eine Einspielung von You’ll Be In My Heart und ein paar Kommentare über Tonys Klassikprojekte nebst anderen Songs seiner Solokarriere. Calling All Stations, ein reguläres Genesis-Album und schon deswegen spannend, weil es ohne Collins entstand, wird einfach ausgelassen. Dass dieses in den großen Märkten UK und Deutschland auf dem zweiten Platz der Album-Charts landete und die Europa-Tour durchaus ein Erfolg war, scheint niemanden weiter zu interessieren.

Interviewpartner

Im Laufe der Dokumentation wird mehr und mehr klar, dass man am Ende 4-5 Interviewpartnern bzw. Kommentatoren auffällig viel Zeit eingeräumt hat. Dass Kate Mossman so viel über die 70er zu sagen hat, verwundert dann doch etwas. Mossman ist Arts Director & „Popkritikerin“ beim New Statesman, einer populären englischen Nachrichtenwebseite. Vor Sum Of The Parts hat aber kaum jemand etwas von ihr in Bezug auf Genesis gehört. Neben Kate sind noch weitere Dauerbrenner vertreten: Mark Billingham ist Romanautor, und obwohl sein Mitwirken nicht wirklich naheliegend ist, gelingt es ihm immer wieder, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Al Murray, ein bekannter Komödiant, ist selbst Genesis Fan und „verteidigt die Band bis aufs Letzte“ und nicht zuletzt dürfte von ihm das Zitat der gesamten Dokumentation kommen: „Genesis are the Progressive Rock Band, that progressed“.

Angie Greaves ist Radio DJ in London beim Sender Magic 105.4 FM. Ihr Beitrag dürfte sich aus dem Umstand erklären, dass sie einst bei der BBC begann. Der Musikjournalist Chris Roberts begleitet ähnlich wie Kate, Angie und Al die gesamte Dokumentation. Er ist bekannt durch die Website Rock’s Backpages. David Roberts kommt nur ein Mal zu Wort, er ist verantwortlich für die Rock Chronicles. Die Mischung der genannten Personen erscheint etwas merkwürdig. Man hat offenbar auf Chris Welch bzw. Armando Gallo verzichtet oder verzichten wollen, doch die Wahl anderer „Erläuterer“ erscheint doch ziemlich willkürlich.

Interessant dagegen ist der Beitrag von Ed Goodgold, dem ersten Nordamerika Tourpromoter, der bisher noch in keiner Doku zu Wort kam.

Fans kommen hier im Prinzip nicht zu Wort und selbst der Manager Tony Smith ist kaum zu sehen. Bill Bruford, der nun auch nicht gerade die unwichtigste Rolle in der Bandgeschichte hat, ist ebenso nicht vertreten wie das 1997/98er Line-Up um Ray Wilson. Dazu gibt es weitere wichtige Protagonisten, die man einfach ausgelassen hat: Armando Gallo etwa, Paul Whitehead, der die ersten Album-Cover der Band designte, John Burns und David Hentschel, die den frühen Sound prägte. Hugh Padgam immerhin wurde befragt, unter anderem im Rahmen der wichtigen Entwicklung des legendären Collins-Drumsounds. Nick Davis wurde ebenfalls nicht befragt. Die früheren Drummer Chris Stewart und John Silver tauchen auch nicht auf – John Mayhew konnte leider nicht mehr befragt werden.

Im Abspann offenbaren sich weitere, offensichtlich nicht verwendete Interviews – hier werden unter anderem Sebastien Lamothe und Marc LaFlamme von The Musical Box genannt.

Das Booklet

Wie bereits R-Kive, so enthält auch Sum Of The Parts ein umfangreiches Booklet. Der ausführliche Begleittext ist im Prinzip mit dem von R-Kive identisch, wenn auch deutlich ausführlicher. Es wirkt aber mitunter schon etwas seltsam, wie oft hier auf R-Kive Bezug genommen wird, und, viel schlimmer, wie sehr gleich zu Beginn die Ausgewogenheit der Dokumentation herausgestrichen wird. Booklets sind bei DVDs und Blu-rays keine Selbstverständlichkeit (Three Sides Live hat beispielsweise kein Booklet), aber hier wirkt das ganze inhaltlich schon ziemlich merkwürdig – fast wie Satire.

Bonusmaterial

Nun, es gab natürlich eine Menge nicht verwendeter Interviewszenen. Das Bonusmaterial besteht ausschließlich aus Einzelinterviews und auch hier ist von Steve Hackett weit und breit nichts zu sehen. Ebenso wenig sind Anthony Phillips und Ray Wilson im Bonusmaterial vertreten. Das Material ist insgesamt relativ unbearbeitet, oft hört man die Frage oder sieht eine Rohfassung einer Antwort. Inhaltlich gibt es hier und da trotzdem einige interessante Aussagen. Für die kurioseste Szene sorgt Peter Gabriel, der mitten in einer Frage aufsteht und den Ingwertee in Empfang nimmt, aber eigentlich Kaffee wollte. Alles bestens dokumentiert und auch mit deutschen Untertiteln versehen, so man diese lesen will.

Emotionaler Tiefpunkt des Bonusmaterials ist die Passage „Phil Collins über die Zukunft“, in der er quasi eine Minute lang kaum etwas sagt und jedem deutlich werden dürfte, dass irgendetwas mit Genesis oder auch Solo in weiterer Ferne ist, als die jüngsten Aktivitäten vermuten lassen. Er schließt natürlich nichts aus, motiviert ist er aber bei weitem nicht genug, irgendetwas zu tun. Er wirkt sehr resignierend und lustlos.

Die Summe der verfügbaren Teile

Man kann natürlich argumentieren, den Otto-Normalverbraucher kratzen diese Mängel nicht und für jene ist es eine kurzweilige Doku. Vielleicht. Nur so, wie diese Dokumentation zusammengebaut wurde, ist es nicht richtig. Es ist nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, aber eine Schieflage ist diese Dokumentation definitiv. Es ist unfassbar, dass man ein solches Produkt als „gleichwertiges Bandprodukt“ vermarktet und dann ein Mitglied quasi herausschneidet. Steve Hackett hat diesbezüglich schon selbst einen Kommentar veröffentlicht und wird die Dokumentation auf seiner Website auch nicht anbieten. Mehr Ohrfeige geht nicht. Natürlich wird das dem normalen Konsumenten nicht auffallen. Aber rechtfertigt das, ein völlig falsches Bild einer Band zu zeichnen? Nein!

Sum Of The Parts ist der traurige Tiefpunkt einer grandios gescheiterten Marketing-Kampagne. Es ist eine Bankrott-Erklärung. Der Shit-Storm nach den „Exiting News“, die Produktion einer solchen Dokumentation und das Handling insgesamt lassen nur vier traurige Schlüsse zu: Die Band wird zusammen nichts mehr machen, interne Zwistigkeiten, über die man bisher nur gemutmaßt hat, wurden mit der Doku schonungslos und für alle sichtbar offengelegt, das Management versteht absolut nichts von der Dynamik des Internets und die Fans sind der Band ganz offensichtlich egal.

Denn am Ende wird anlässlich des 40jährigen Jubiläums des wohl ambitioniertesten Werkes der Genesis Geschichte, The Lamb Lies Down On Broadway, von offizieller Seite rein gar nichts passieren. Dieses Jubiläum zelebrieren die Fans für sich. Und das ist wohl auch besser so.

Autor: Christian Gerhardts

Technische Details zur Veröffentlichung:

Formate: Blu-ray, DVD
Screen Format: 16:9
Sound: DTS-HD Master Audio, LPCM Stereo (Blu-ray)
Running Time: 124 mins approx.
Region: Region Free
Untertitel: English, French, German, Spanish, Italian

Sum Of The Parts erscheint am 14. November bei Eagle Vision auch in Deutschland und kann hier vorbestellt werden:
Blu-ray:amazon | JPC
DVD: amazon | JPC

Links:

Sum of The PartsDiskussion im Forum
R-KiveRezension